Am Montag, 24. Juni, wurden in mehreren Berliner Bezirken insgesamt zehn Stolpersteine für Mitglieder der Familie Kubatzky verlegt. In Tiergarten-Süd hatten in der Lützowstraße 87, dort wo heute der Schulhof der Allegro-Grundschule ist, Hermann Julius Kubatzky, seine Frau Rosa Kubatzky, geb. Arndt und ihr Sohn Herbert Kubatzky gewohnt. Sie konnten in den 1930er Jahren nach Palästina fliehen und so ihr Leben retten. Alle drei haben den Holocaust überlebt.
Debbie Kirby, Urenkelin von Hermann und Rosa Kubatzky, sprach auf Englisch einige bewegende Worte am Ort des ehemaligen Wohnhauses ihrer Urgroßeltern. Sie und weitere Verwandte waren aus Israel und den USA angereist. Sie dankten für die Teilnahme von rund 15 Nachbarn aus Tiergarten an dieser Veranstaltung.
Die Recherchen zum Schicksal dieser jüdischen Familie hat Oliver Staack ins Rollen gebracht: auf einem Flohmarkt kaufte er durch Zufall Postkarten, die Wanda Kubatzky ihrem Verlobten geschrieben hatte. Als Oliver Staack feststellte, dass die Familie Kubatzky aus dem pommerschen Kreis Deutsch Krone nach Berlin gezogen war, weckte das sein Interesse, weil auch seine eigene Großmutter von dort stammte. In der Corona-Zeit hatte er Muße für die tiefergehende Recherche und bekam über eine Genealogie-Seite im Netz Kontakt zu Debbie Kirby. Die Initiative „Stolpersteine Mitte“ brachte die Verlegung der Stolpersteine auf den Weg.
Bei strahlendem Sonnenschein gingen die Gäste der Stolperstein-Verlegung gemeinsam in die Pohlstraße 64, dem früheren Wohnhaus von Hedwig Kubatzky, 1875 in Zippnow/Pommern geboren. Hedwig Kubatzky hatte im Hause Pohlstraße 64 ein Atelier, in dem sie ihren Beruf als Schneiderin und Modistin ausübte. Neben dem Stolperstein für Hedwig Kubatzky wurde ein weiterer für ihre Schwester Johana Kubatzky verlegt, deren Wohnadresse in Berlin nicht ermittelt werden konnte. Beide Schwestern wurden 1941 nach Riga deportiert und dort ermordet.
Eine besondere Atmosphäre lag über beiden Gedenkveranstaltungen: Frank Lunte, Musiklehrer an der Allegro-Schule, spielte auf dem Altsaxophon mehrere Musikstücke jüdischer Komponisten aus den 1930er Jahren.
Gestern, am 9. November 2023, gedachten wir der Opfer des Holocaust zum 85. Mal. Es gibt über siebzig Stolpersteine hier im Kiez. Menschen aus der Nachbarschaft haben für die Steine Patenschaften übernommen. Sie behalten die Steine im Auge, putzen sie und schmücken sie mindestens zwei Mal im Jahr (5. Mai und 9. November).
Gestern gab es überraschender Weise weiteren Schmuck in Form von Blumengestecken – wunderbare Gesten von Unbekannten, die den Stadtraum zumindest für einige Stunden veränderten und an die Pogromnacht und die Verfolgung von Jüdinnen und Juden, von Widerstandskämpfer:innen und anderen Marginalisierten des Nationalsozialismus erinnern ließen.
Leider war der Kerzen- und Blumenschmuck nach einigen Stunden verschwunden – doch die Steine glänzen weiterhin.
Danke an alle, die so für einige Stunden Zeichen der Anteilnahme an die Verfolgten des NS-Regimes setzten.
(Fotos: Susanne Regener / Stolpersteine im Bereich der Genthiner Straße und Lützowstraße)
Vor dem Gebäude der Urania, An der Urania Nr. 7, wurde am Sonntag, 22. Oktober 2023, ein Stolperstein zum Gedenken an die jüdische Malerin Eugenie Fuchs verlegt.
Eugenie Fuchs, geboren 1873 in Berlin, hatte viele Jahre in Schöneberg, an der ehemaligen Nettelbeckstraße gewohnt. 1933 musste sie Berlin verlassen und ging ins sicher geglaubte Exil in Paris. Von dort wurde sie 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Rabbinerin Jasmin Andriani sang und sprach anlässlich der Stolpersteinverlegung ein Kaddish für Eugenie Fuchs. Andriani wies darauf hin, dass ein Kaddish am Grab eines Verstorbenen gesprochen werden soll, da Eugenie Fuchs aber kein Grab habe, käme dieser Stolperstein ihrem Grab am nächsten.
Rund 40 Personen nahmen an der Verlegung des Stolpersteins teil, die unter erhöhtem Polizeischutz stattfand.
Zuvor gab es in der Urania eine Gedenkveranstaltung, in der das Leben und das künstlerische Werk von Eugenie Fuchs gewürdigt wurde. Die Ehrung fand im Kleist-Saal statt, einem holzgetäfelten großen Raum, der bis 1937 einer jüdischen Loge gehörte, deren Vorsitzender Leo Baeck war.
Berlins Kultursenator Joe Chialo sprach anerkennende Worte über das Werk der zu Unrecht vergessenen Berliner Malerin Eugenie Fuchs. Erinnern sei wichtig, so Chialo, gerade in der gegenwärtigen Situation, damit sich Ausgrenzung und Verfolgung von Menschen nicht wiederholen.
Im Anschluss berichtete Paul Spies, Direktor der Stiftung Stadtmuseum Berlin, über seine sehr persönliche Verbindung zu Eugenie Fuchs. Im Rahmen der Vorbereitung einer Ausstellung mit dem Titel „Geraubte Mitte“ hatte Spies von der vergessenen Malerin erfahren und stellte fest „sie konnte malen“; eines ihrer Bilder konnte Spies für das Stadtmuseum erwerben.
Paul Spies wies auf das Schicksal vieler jüdischer Künstler*innen hin, die, von den Nationalsozialisten vertrieben und ermordet wurden. Es sei wichtig, an ihr Leben und Werk zu erinnern, gerade angesichts der gegenwärtigen Ereignisse im Nahen Osten.
Lutz Mauersberger, der vor wenigen Tagen sein neues Buch (1) über Eugenie Fuchs vorgelegt hat, berichtete sehr kenntnisreich über seine Recherchen zu Leben und Werk der Künstlerin. Nur etwa 10 ihrer Werke waren bisher aufzufinden, vermutlich sind viele Bilder für immer verloren. In den Zwanziger Jahren sei ihre Beteiligung an zahlreichen Ausstellungen nachweisbar. Er freue sich, so Mauersberger, dass zum 150. Geburtstag der Künstlerin erstmals wieder Menschen von ihrem Schicksal erfahren.
Im 6. Teil der Geschichte der Familie Ledermann hatten wir die von Franz Anton Ledermann geschriebene Geschichte „Zur Naturgeschichte des Dilettantenquartetts“ vorgestellt (Beitrag vom 22. April 2023, dort Bild 4), die am 9. Mai 1924 im Berliner Tageblatt erschienen war. Diese Glosse, als Teil eines humorvollen Buches über Hausmusik und Hausmusiker, insbesondere Streichquartette, betitelt „Das stillvergnügte Streichquartett“ (Bild 1), findet sich ab 1936 und bis heute sowohl als Buch (antiquarisch, letzte Auflage 2006) als auch auf CD, auf deutsch oder englisch (The Well-Tempered String Quartet), veröffentlicht von Ernst Heimeran (1902-1955) und Bruno Aulich (1902-1987) im Münchner Heimeran Verlag, der 1980 aufgelöst wurde.
Den späteren Ausgaben vorangestellt ist die Anmerkung, dass erst die 7. Auflage der Geschichte (Untertitel: Auf Wiedersehn bei der Fermate – was wohl nur Musiker verstehen: Jeder spielt für sich, aber man trifft sich in den Pausen – den Fermaten) den Autor nennt, Franz Anton Ledermann, ein Rechtsanwalt, der Bratsche spielt, und den Erstabdruck 1924 im Berliner Tagblatt (Bild 2). Da wir diese Ignoranz zunächst für eine anti-semitische Einstellung des Verlags und der Herausgeber gehalten hatten, haben wir uns auf die Suche nach der „Geschichte hinter der Geschichte“ gemacht, und sind eines Besseren belehrt worden.
Dabei war die Suche 1929 deutlich näher an der Wahrheit als alles später Geschriebene. Im Vorwort zur Geschichte „Das Dilettantenquartett. Von F.A.Ledermann“ schreibt der Autor „Osmin“: Ich habe einen Kasten, in dem liegen Ausschnitte aus Zeitungen und Zeitschriften, gesammelt in vielen Jahren …. Als ich kürzlich darin wieder einmal kramte, fiel mir die köstliche Humoreske … in die Hände. Sie muß vor etwa fünf Jahren erschienen sein, in einer Tageszeitung, die ich nicht mehr feststellen kann. Auch den Verfasser habe ich vergebens zu ermitteln versucht … Ich konnte ihn nicht gebührend fragen, ob er den Abdruck seines witzigen Aufsatzes erlaube. Kommt er ihm irgendwie zu Gesicht, so bitte ich ihn, nicht böse zu sein und nachträglich Ja und Amen dazu zu sagen … Freilich wüßte ich auch gern, wer der Verfasser eigentlich ist.
Drum frag ich hiermit jedermann, wer kennt Herrn F.A.Ledermann?“ (1)
Drei Jahre später wird die Autorenschaft mystifiziert: „Diese geradezu klassische, humorvolle Schilderung … zirkuliert nämlich in wenigen Abschriften bei Musikliebhabern, ist u.W., die wir sie als kostbaren Schatz hüteten, noch nie veröffentlicht und angeblich von einem Herrn F. A. Ledermann verfaßt. Vielleicht finden wir ihn auf diesem Wege, damit wir ihm den Dank unzähliger Quartettspieler abstatten können“ (2). Und die erste Auflage des Buches von 1936 weist weit in die Vergangenheit: „… diese humorvolle Schilderung … zirkuliert nämlich in Abschriften … (die) sich … bis zur Jahrhundertwende zurückverfolgen (lassen)“ (3), d.h. bis 1900; kein Wunder, dass die Suche nach dem Autor vergeblich gewesen war. Gleichzeitig weisen Heimeran und Aulich aber darauf hin, dass sie zuvor schon zweimal versucht haben, vergebens, wie sie in der ersten Buchausgabe 1936 vermerken (s. Bild 2).
Das Buch war populär, wofür spricht, dass 1938 schon die 7. deutsche Auflage gedruckt war, und dass im gleichen Jahr die erste englische Ausgabe auf den Markt kam, einer Übersetzung von D. Millar Craig (4). In beiden heißt es in der Einleitung zum Text, man kenne jetzt den Autor, „Ledermann ist Jurist, zählt heute 46 Jahre und spielt Bratsche“ (4) – und die englische Ausgabe nennt auch die korrekte Quelle: Berliner Tageblatt vom 9. Mai 1924 und vermerkt, dass das Buch vielleicht besser „Variations on a theme by Ledermann“ betitelt worden wäre.
Woher allerdings diese Informationen stammen, wird nicht berichtet. Franz Ledermann war im Oktober 1889 geboren worden, und war also bei der Erstausgabe des Buches tatsächlich 46 Jahre alt. Er lebte aber zu diesem Zeitpunkt bereits in Amsterdam, drei Jahre nach seiner Flucht aus Deutschland und sechs Jahr vor seinem Tod in Auschwitz – vielleicht ein Fall schamhaften Verschweigens der vermuteten Wahrheit? In der ersten Ausgabe nach dem Krieg (12. Auflage 1955) dann die „schaudernde“ Erkenntnis, dass er Opfer der Nationalsozialisten geworden war, falsch zwar in den Details (von der SS in Amsterdam ermordet), aber immerhin konzedieren sie, dass sie diesem Text viel zu verdanken hätten.
Literatur
Deutsche Musiker-Zeitung Nr. 29 vom 29. Juli 1929, Seite 613-4
Münchner Neueste Nachrichten Nr. 285 vom 19. Oktober 1932, Seite 11
Bruno Aulich, Ernst Heimern. Das stillvergnügte Streichquartett. Heimeran Verrlag, München 1936 (1. Auflage), Seite 60; 7. Auflage (1838), Seite 60.
The Well-Tempered String Quartet. By Bruno Aulich & Ernst Heimeran. Translation by D. Millar Craig. London: Novello and Company Ltd. 1938. Der entsprechende Abschnitt mit dem Text von Ledermann ist betitelt: „See you again at the Double Bar, a contribution to the Natural History of the Amateur Quartet“ (Seite 47).
Im Museum Schöneberg ist bis 01. Oktober 2023 eine Sonderausstellung zu einem bisher vernachlässigten Thema zu sehen. „Auf den Spuren der Familie Diek“ schildert das Schicksal von Afrodeutschen von der Kaiserzeit über das Dritte Reich bis zur Nachkriegszeit und der heutigen Urenkel*innengeneration, die am 6. Juli 2023 (19 Uhr) an einer Podiumsdiskussion im Museum teilnehmen werden.
Teil 1 einer Präsentation von Hannelore Stippel und Georg Frank von der Initiative Stolpersteine Mitte Berlin
Mit knapp 100.000 Stolpersteinen in 1.800 Städten in 28 Ländern hat Gunter Demnig mit seinem Team ein einmaliges und weltweit anerkanntes Denkmal für Opfer des NS-Terrors erschaffen – eine Mahnung gegen das Vergessen und gegen das Aufkeimen von Hass und Ausgrenzung.
Teil 2 einer Präsentation von Hannelore Stippel und Georg Frank von der Initiative Stolpersteine Mitte Berlin
Bei unserer Initiative sind es meist Anfragen von Nachfahren, aber auch von anderen Personen – häufig die in einem Haus wohnen oder arbeiten, aus dem Menschen deportiert wurden – die den Prozess zur Verlegung eines Stolpersteins auslösen. Bei den Stolpersteinen, die unsere Initiative betreut (hat), kommen 95 % der Angehörigen aus vielen Ländern der Erde, aus Südafrika, Argentinien, Israel, England und anderen.
„Diese Stolpersteine fühlen sich für mich eher wie Trittsteine an, ein neuer Halt auf einer persönlichen Reise zu Verständnis, Vergebung, Abschluss und Ganzheit.“
Mit diesen Worten beschloss Sarah S. Richardson ihre bewegende Rede zum Schicksal ihrer Familie, die – bis auf eine Person – Opfer der Shoa wurden. In Anwesenheit einer großen Familiendelegation aus den USA, Frankreich und den Niederlanden waren gestern Nachmittag fünf Stolpersteine in der Genthiner Straße Nr. 14 verlegt worden. Die überlebende 97-jährige Barbara Ledermann Rodbell war online aus den USA zugeschaltet war. Es folgte eine Gedenkstunde im Saal des Kiezzentrums Villa Lützow.