Der folgende Text ist eine überarbeitete – einerseits gekürzte, andererseits ergänzte – Fassung eines Textes, den Beth Griffiths erstellt und bei mittendran am 16. Januar 2022 veröffentlich hatte. Der erste Teil der gesamten Geschichte findet sich in mittendran vom 20. April 2024 und auf dieser Webseite am 20. April 2024.
Die Arisierung der Firma Theodor Heymann Herrenartikel
Den ersten Hinweis auf wirtschaftliche Schwierigkeiten seitens des Hut- und Herrenartikelgeschäfts finden sich in den Handelsregisterakten in einem Brief der Industrie- und Handelskammer am 7. März 1938 an das Amtsgericht: Das Unternehmen sei zwar noch vollkaufmännisch tätig, aber es betreibe lediglich Einzelhandel mit Herrenartikeln, die Hutfabrikation sei eingestellt worden (9). Es ist anzunehmen, dass die antisemitischen Maßnahmen, insbesondere der Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte und die Beschädigung der Schaufenster eine große Rolle in der Verkleinerung des Betriebes gespielt hatten. Nur wenige Monate später erreichte die antisemitische Gewalt mit den deutschlandweiten Novemberpogromen einen bis dahin nicht gekannten Höhepunkt, der das Ende des Hutgeschäfts bedeutete, das fast ein halbes Jahrhundert lang existiert hat.
„Die Schaufenster müssen unverzüglich ersetzt werden spätestens bis 28. November“ – so schrieb nach dem Novemberpogrom der Zwangsverwalter des Hauses Potsdamer Straße 61, Carl A. Schmidt, am 22. November 1938 (11); zu diesem Zeitpunkt waren die meisten jüdischen Geschäfte aufgrund gesetzlicher Vorgaben den Inhabern entzogen worden, und Immobilien wurden unter Zwangsverwaltung gestellt. Schmidt schrieb daher nicht an Heymann, sondern an Heinrich (Heinz) Barchen, der in der Zerstörung jüdischer Geschäfte und der Gewalt gegen die jüdischen Inhaber eine Chance für sich sah. Barchen hatte sein Geschäft, „Brauner Laden Yorck“, zehn Häuser weiter, Potsdamer Straße 71 (12) (Bild 6); es war unmittelbar nach der Machtübernahme 1933 eröffnet worden, dort verkaufte er Uniformen und „NS-Bedarf“. Wenige Tage nach dem Progrom im November 1938 kam Barchen in das zertrümmerte Geschäft, um zu sehen, ob er es übernehmen und dort sein Uniformgeschäft für nationalsozialistische Organisationen weiter betreiben konnte (11). Er entschied, die Geschäftsräume zu nehmen und am 3. Dezember wurde der Laden eröffnet, mit Waren, die für genau die Leute bestimmt waren, die zuvor die Fensterscheiben eingeschlagen hatten. Theodor Heymann sah fast nichts von der finanziellen Transaktion, die ihn seines Geschäfts beraubte. Im Schreiben des Hausverwalters Schmidt an Barchen wurde mitgeteilt: „Aus dem Kaufpreis soll die rückständige Miete bis einschließlich November ausgeglichen sowie der Ersatz der Schaufensterscheiben beglichen werden.“ Jedoch schrieb Heymanns Rechtsanwalt in der Wiedergutmachungsklage im Jahr 1950, dass das Schaufenster nicht von Barchen sondern von der Jüdischen Gemeinde Berlins bezahlt wurde. Barchen bezahlte 3.500 RM für einen Teil des Warenlagers und 1500 RM für die Einrichtung, aber Heymann „ging hinaus ohne einen Pfennig“, so Heymanns Rechtsanwalt (11). Theodor Heymann gab nach dem Krieg an, dass die nicht bezahlte Summe 18.000 RM betragen habe. Am 24. März 1939 wurde das Geschäft Theodor Heymanns im Handelsregister gelöscht (s. Bild 5 in Teil 1).
Was geschah mit der Familie Heymann?
Laut Adressbuch gehörten die Häuser Potsdamer Straße Nr. 61 und Nr. 62 dem Kaufmann Franke bis 1935, ab 1936 war Nr. 62 unter Zwangsverwaltung gestellt, d.h. dem jüdischen Eigentümer entzogen worden (im Adressbuch 1936 war die Nr. 61 noch dem Franke gehörig), und die Heymanns wohnten noch im Haus Nr. 61 (nach der Umnummerierung: 146) bis Ende 1938, dann hatte das Haus einen neuen Eigentümer.
Am 7. Juni 1930 hatte Betty Heymann geborene Winterfeld, Witwe des Hermann Heymann, erneut geheiratet, den Gastwirt Julius Rosenthal, geboren am 15. Juni 1893 in Berlin. Am 29. Februar 1932 kam ihre Tochter Irma zur Welt. Das „Restaurant Rosenthal“ befand sich laut den Adressbüchern 1929 bis 1933 in der Kommandantenstraße 77 (Bild 7), danach in der Potsdamer Str. 81, und ab 1935 hatte Rosenthal einen „Mittagstisch“ am Wittenbergplatz 5. Zum Zeitpunkt der Volkszählung Mai 1939 befand sich das Restaurant in der Kleiststraße 15.
Theodor Heymann wurde gezwungen, die Privatwohnung ab Dezember 1938 aufzugeben. In einem Schreiben vom 23. November 1938 heißt es: „Herr Heymann ist dagegen verpflichtet, spätestens am 3. Dezember 1938 seine Privatwohnung in den Räumen aufzugeben.“ (11). Danach verläuft sich zunächst seine Spur, ebenso wie die seiner Stiefmutter und deren zweiter Ehemann.
Exil in Shanghai, dann nach Amerika
Wenige Wochen später emigrierten sowohl Theodor Heymann wie auch Betty und Julius Rosenthal und ihre 7 Jahre alte Tochter Irma nach Shanghai. Die Unterlagen der Volkszählung im Mai 1939 benennen den 10. und 29. Juli 1939 als Ausreisedatum für die Rosenthals bzw. für Heymann. Die Emigration nach Shanghai war für viele Juden die letzte Möglichkeit, aus dem Deutschen Reich zu fliehen, da die mit dem Deutschen Reich verbündeten Japaner, die die Häfen Chinas kontrollierten, zu diesem Zeitpunkt keinerlei Visapflicht eingeführt hatten – Shanghai war zwar fern und fremd und hatte den schlechtesten Ruf unter den möglichen Fluchtorten, aber es genügte zur Einreise ein Pass und ein Bahn- bzw. Schiffsticket. Bis zum Kriegsbeginn September 1939 gab es drei prinzipielle Reisewege: Über Bremen oder Hamburg mit den deutschen Schiffen Potsdam bzw. Usaramo (oder über einige nordeuropäische Häfen), über Genua oder Triest mit den Schiffen Conte Rosso, Conte Verde bzw. Conte Biancomano, oder auf dem Landweg mit der Transsibirischen Eisenbahn, entweder nach Wladiwostok oder nach Mandschukuo, und weiter mit dem Schiff nach Japan bzw. nach Shanghai; diesen Landweg haben immerhin mehr als 2.000 Flüchtlinge genommen. Die Schiffspassagen waren teuer, 3.500 RM pro erwachsener Person, nicht zuletzt, weil Hin- und Rückfahrt gebucht werden mussten; die Landpassage war deutlich billiger – 490 RM -, aber nach dem Angriff des Deutschen Reichs auf Russland („Unternehmen Barbarossa“) nicht mehr möglich.
Auf welchem Wege und mit welchem Schiff die Heymann/Rosenthal-Familie nach Shanghai reiste, ist nicht mehr zu ermitteln, aber wie fanden sowohl den Kaufmann Theodor Heymann wie auch den Restaurateur (Gastwirt) Julius Rosenthal im Emigranten-Adressbuch Shanghais von 1939 (737/19 Broadway bzw. 818 Tongshan 57) (15), wenngleich genauere Informationen fehlen, womit sie ihren Lebensunterhalt unter diesen schwierigen Bedingungen verdienten. Aus einer anderen Quelle wenige Jahre später (1944), nämlich der Registrierungsliste aller Ausländer in Shanghai durch die japanischen Polizei (16) erfuhren wir, dass Julius Rosenthal offenbar Wohneigentum erworben hatte (Adresse: 626/29 Tongshan Lu; er wird in dem Dokument als „owner“ bezeichnet) und seine Frau als Köchin arbeitete – offensichtlich hatten sie wieder ein Restaurant aufgemacht, das wir bei einer Bildersuche zufällig entdeckten – das Bild kann wegen ungeklärter Rechtsverhältnisse zur Zeit nicht gezeigt werden. In dem japanischen Register wird auch erstmals die Tochter Irma erwähnt, die zu diesem Zeitpunkt 12 Jahre alt war. Theodor Heymann wird in diesem Dokument nicht genannt, aber eine andere Spur (17) weist ihn als Fotograf aus.
Über die schwierige soziale und wirtschaftliche Situation der jüdischen Flüchtlinge in China ist in den vergangenen 20 Jahren einiges publiziert worden (16,18). Nach dem Krieg wollten daher viele Flüchtlinge, die in Shanghai überlebt hatten, entweder zu einem geringen Teil zurück nach Deutschland, zu einem größeren nach Israel, Südamerika und Australien, und zu mehr als 50% in die USA auswandern. Die Familie Rosenthal fanden wir auf der Passagierliste des Truppentransportschiffs USS General M.C.Meigs von Shanghai nach San Francisco, Ankunft am 17. Juni 1947. Theodor Heymann, jetzt von Beruf Fotograf, stand auf der Passagierliste des Truppentransportschiffs USS General W. H. Gordon, Ankunft in San Francisco am 29. Juni 1947 (Bild 8). Von dort waren sie offenbar weitergereist in den Osten der Vereinigten Staaten, weil sowohl Theodor Heymann wie auch Julius und Betty Rosenthal aus Cincinnati bzw. New York in den Jahren in den Jahren nach 1950 Wiedergutmachungsanträge in Berlin gestellt hatten.
Theodor Heymann starb am 20. Januar 1971 in Paramus, Bergen, New Jersey, in der Metropolregion von New York City; er blieb unverheiratet und hatte keine Nachkommen. Betty Rosenthal geb. Winterfeld, Witwe des Hermann Heymann, Theodors Vater, starb am 16. März 1996, ebenfalls in Paramus, Bergen, New Jersey. Julius Rosenthal, ihr Mann war bereits am 2. Juni 1950 im Alter von nur 56 Jahren verstorben. Ihre Tochter Irma hatte 1954 in New York City Frank Reinhold Lewy geheiratet, der am 5. Dezember 1930 in Berlin-Dahlem geboren wurde und am 30. September 2014 in Yarmouthport, MA, USA verstarb. Sie hatten zwei Kinder, Sharon und Michael, die heute in den USA leben und beide verheiratet sind. Irma starb am 10. Oktober 2023.
Fragliche Wiedergutmachung nach dem Krieg
Nach der Übernahme des Geschäftes durch Heinrich Barchen stieg der Umsatz des Uniformgeschäfts in der Potsdamer Str. von 48.000 auf 62.000 RM. Trotzdem behauptete Barchens Rechtsanwalt nach dem Krieg, dass der Kaufmann aus der politischen Entwicklung im Nationalsozialismus keinerlei persönliche Vorteile gezogen hatte. Auffällig war Barchens Verteidigunglinie in der Wiedergutmachungssache, nämlich seine Nazi-Verbindungen nicht zu verschleiern, sondern zu betonen (11). Als Antwort auf die Anklage, dass Barchen nichts für die Reputation („good will“) des seit 46 Jahren bestehenden Geschäfts bezahlt hatte, erwiderte Barchens Beauftragter: „Die bisherige Geschäftsaufschrift Hüte und Mützen mit einem grünen Hut auf einem Transparent als Branchenzeichen wurde überstrichen. Stattdessen bekam das Geschäft das Äußere eines Braunen Ladens und die Aufschrift hieß fortan „NS Bedarf“. Lediglich auf dem Teilgebiet von Herrenwäsche und Herrenunterkleidung waren beide Geschäfte miteinander verwandt. Aber es liegt auf der Hand, dass der Charakter beider Geschäfte ein grundsätzlich anderer war. So waren z.B. bunte Oberhemden und bunte Krawatten in einem Braunen Laden nur ausgesprochene Nebenartikel. Insbesondere kann nicht davon die Rede sein, dass der „good will“ des Geschäfts des Antragstellers von dem Antragsgegner übernommen worden wäre“ (11).
Weiterhin schrieb er, dass ein Kundenkreis, der bis 1938 in einem jüdischen Geschäft gekauft hatte, das Geschäft des Antragsgegners nie besuchen würde. Auf diese Weise versuchte Barchen, seinen Anteil an der antisemitischen Diskriminierung und Gewalt, mit der Heymann konfrontiert war, und seine Verbindung zu der NSDAP zu verschleiern. Dass Barchen ein NSDAP-Parteimitglied war, behauptete Heymanns Rechtsanwalt in einem Brief vom 27. Juni 1950 (11), aber betonte auch die NSDAP selbst, die den „Pg Barchen“ in der 1934er Ausgabe des Gesamtadressenwerks der Partei auflistete (siehe Bild 6). Das Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde schließlich bestätigte die Parteimitgliedschaft: Heinz Barchen aus Berlin-Schöneberg (Hauptstraße 108), geboren am 13. September 1903, war bereits am 1. Mai 1931 Mitglied des NSDAP geworden (Mitglieds-Nr. 535859) (19) (Bild 10), also noch zwei Jahr vor der Machtergreifung des Nazis.
Der Streit im Wiedergutmachungsverfahren ging in erster Linie um die Frage, ob dies eine Geschäftsübernahme (Heymann) oder eine Geschäftsverlagerung (Barchen) war. Im September 1952 beschloss die Wiedergutmachungskammer des Landgerichts, dass Barchen an Heymann 3635 DM zu zahlen hatte, 3485 DM für die Übernahme des Warenlagers und 150 DM für die Ladeneinrichtung – sie entsprach damit weitgehend den Wertangaben Heymanns (3) bei einem DM:RM-Verhältnis von 1:10. Heymann und Barchen hatten zuvor diesem Vergleich zugestimmt. Barchens Geschäft wurde nach dem Krieg als normales Herrenartikelgeschäft weitergeführt und war noch im Berliner Adressbuch von 1954 zu finden, nur das „Heinz und Frieda Barchen“ jetzt keine NS-Klamotten und -Devotionalien verkauften, sondern Herren- und Damenkleidung.
Literatur (Nr. 1 bis 10 im Teil 1)
11. Landesarchiv Berlin (LAB), Akte: B Rep. 025-01, Nr. 176/49.
12. Gesamtadressenwerk der NSDAP-Geschäftsstellen. Die Deutsche Tat, Verlagsgesellschaft für das Deutsche Schrifttum, 1934. Digital erhältlich unter <https://digital.zlb.de/viewer/toc/34296129/1/>, zuletzt eingesehen am 5.Mai 2024.
13. Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Akte: 36A (II) 15178.
14. https://de.wikipedia.org/wiki/Konferenz_von_Évian, zuletzt eingesehen am 5. Mai 2024.
15. Emigranten-Adressbuch für Shanghai November 1939. Digital zugänglich bei CompGen unter <https://digibib.genealogy.net>, zuletzt eingesehen am 5. Mai 2024.
16. Georg Armbrüster, Michael Kohlstruck, Sonja Mühlberger (Hrg.): Exil Shanghai. Jüdisches Leben in der Emigration 1938–1947. Hentrich & Hentrich Verlag Berlin 2000. Die dem Buch beiliegende CD enthält u.a. die „List of Foreigners Residing in Dee Lay Jao District …“ vom 24. August 1924 mit den Namen von Heymann und Rosenthal.
17. Ein Foto im Besitz des Museums of Jewish History in New York zeigt das Personals des Shanghai Refugee Hospitals aus den 1940er Jahren: es weist Theodor Heymann als Fotografen aus.
18. Jüdisches Museum Berlin (Hrg.): Leben im Wartesaal. Exil in Shanghai 1938-1947. Druck durch Jüdischen Museum im Stadtmuseum, Berlin 1997.
19. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BAL): Akte BArch R 9361-IX KARTEI 1400187.