Judenhäuser in Tiergarten-Süd

Bild: Blick in den Blumeshof vom Schöneberger Ufer aus. Foto (Postkarte) von 1903 aus der Sammlung Ralf Schmiedecke mit freundlicher Genehmigung. Das 2. Haus auf der linken Seite ist die Nr. 15.

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Am 16. Oktober 2023 wurde eine Webseite freigeschaltet, die zu besuchen sich lohnt für alle, die sich für jüdische Geschichte, insbesondere für Berliner jüdische Geschichte interessieren, und auch diejenigen, die dies vielleicht nicht besonders wichtig finden, können hier lernen, wie man Geschichte hier und heute sichtbar machen kann, erzählen kann, ohne auf trockenes Lehrbuchwissen zurückzugreifen und auf längst und oft Gehörtes. 

Die Webseite heißt www.zwangsräume.berlin und erzählt einen vergessenen und/oder verdrängten Aspekt der Vertreibung der Juden aus Deutschland, ihrer Heimat, durch sukzessive Zusammenlegung in Häusern in der Stadt, die Juden gehörten und die lange von der „Entjudung“ verschont blieben zu genau diesem Zweck: „Ab 1939 musste fast die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Berlins ihre Wohnungen verlassen und umziehen. Jüdinnen:Juden wurden als Untermieter:innen in Wohnungen eingewiesen, in denen bereits andere jüdische Mieter:innen lebten. Zumeist waren die Zwangswohnungen der letzte Wohnort vor ihrer Deportation und Ermordung“

Die Arbeitsgruppe „Zwangsräume“ des Vereins „Aktives Museum“ um den Historiker Christoph Kreutzmüller, der schon 2012 das verdienstvolle Projekt über die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit veröffentlicht hatte (1), identifizierte in Berlin mindestens 791 solcher Häuser, die auf dieser Webseite genannt – und auf einem Stadtplan lokalisiert – werden, von denen bislang 32 ausführlicher recherchiert, mit Fotos versehen und optisch und graphisch eindrucksvoll erfahrbar gemacht wurden – darunter sieben im Lützowviertel zwischen Kurfürstenstraße und Landwehrkanal, Flottwellstraße und Budapester Straße. Unter den 32 aufgearbeiteten Beispielen von Judenhäusern ist auch das Haus Blumeshof 15, dessen Geschichte und Vorgeschichte wir mehrfach berührt hatten (mittendran vom 15. Juli 2021, vom 6. Januar 2023 und vom 7. September 2023) (Bild).

Aber wie immer gibt es noch Platz für Veränderungen und Verbesserungen – drei Anmerkungen:

1. Blumeshof 15 (heute Kluckstraße 3) existierte natürlich schon länger, vor dem Aufkauf durch die jüdische Gemeinde (1918) war es im Besitz der jüdischen Familie (Witwe) Gerson, die es vermutlich der Gemeinde verkauft/geschenkt hat. Auch das ist Teil der Geschichte.

2. Lützowstraße 48-49 war in den Jahren ab 1933 ein jüdisches Altersheim, worüber wir hier berichtet haben (mittendran von 8. Mai 2022 und vom 28. August 2023), die Häuser wurden 1933 gekauft von der jüdischen Gemeinde, und auch hier wurde „verdichtet“, d.h. zwangsweise wurden Bewohner zusammengelegt aus anderen Heimen und von auswärts. Am Ende waren es etwa 180 Bewohner, mehr als ursprünglich vorgesehen.

3. Als das Reichsicherheitshauptamt (RSHA) die Immobilie (Nr. 48 + 49) 1940 übernehmen wollte, wurde das Altersheim Lützowstraße 48/49 am 10. November 1940 aufgelöst, und 100 bis 125 Bewohner (genauso ungenau steht es in den Akten) wurden in ein Altersheim nach Pankow (Berliner Straße 120/121) verlegt und später von dort deportiert und ermordet. 

Die übrigen Heimbewohner wurden auf folgende Adressen verteilt: In die Lützowstraße 77 (heute: 78) kamen 22 Bewohner und 3 Angestellte; in die Lützowstraße 67 verlegt wurden 15 Bewohner und 1 Angestellte; in die Derfflingerstraße 17 kamen 14 Bewohner und 2 Angestellte; und in der Kluckstraße 27 und in der Lützowstraße 72 wurden 3 bzw. 1 „Externer“ als Untermieter untergebracht. Dies macht zusammen 55 Heimbewohner und 6 Angestellte. Deren Wohn-und Lebensbedingungen und weiteres Schicksal ist bislang weitgehend ungeklärt. Es ist also noch viel zu tun.

1. Christoph Kreutzmüller: Ausverkauf. Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin 1930–1945, Berlin 2012 (2. Auflage Berlin 2013).

Jüdische Geschichte in Tiergarten-Süd: Die nicht-gebaute Synagoge im Hansa-Viertel

Es gibt mehr als einen Grund, warum diese Synagoge nicht gebaut wurde, aber in jedem Fall ist es sehr schade: Sie wäre sicherlich die modernste der Berliner Synagogen geworden, hätte sie die Stürme der Zeit, die Pogrom-Nacht 1938, die Bombardierungen ab 1942 und Straßenkämpfe 1945 überdauert. Es sollte allerdings eine orthodoxe Synagoge werden, was sicherlich ein starker, reizvoller Kontrast geworden wäre, aber auch ein weiterer Grund, warum diese Synagoge nicht gebaut werden konnte. 

Eine Synagoge für das Hansaviertel

Den sukzessiven Umzug eines Teils der jüdischen Bevölkerung Berlins vom – ärmeren – Nordosten in den – reicheren – Südwesten der Stadt hatten wir schon in der Verteilung der Synagogen und Betsäle in einer früheren Geschichte (mittendran vom 22. Juli 2023) gesehen. Die orthodoxen Juden erwarteten von der Gemeindeleitung dementsprechend nicht nur neue liberale (1), sondern auch orthodoxe Synagogen in diesem Teil der Stadt, und ein erster Plan sah eine solche Synagoge in einem Industriegebiet in Moabit vor (Agricolastraße). Alexander Beer (1873-1944) (Bild 1), der Baumeister der jüdischen Gemeinde, der ab 1928 und bis zu seiner Deportation nach Theresienstadt im Blumeshof 15 wohnte, hatte dafür bereits 1926 Pläne vorgelegt, die nicht erhalten sind, die aber im Zuge von Auseinandersetzungen mit der Baupolizei nicht realisiert wurden. 1928 erwarb die Gemeinde ein Grundstück in der Klopstockstraße im Hansaviertel, und Beer entwarf eine eher traditionelle Synagoge (2): Die lag, wie viele sakrale Bauten in Berlin, unmittelbar an der Klopstockstraße und war eingerahmt von Wohnhäusern (Bild 2). 

Bild 1: Foto von Alexander Beer (Datum und Fotograph unbekannt (Quelle: Artikel von 2013 bei www.KulturPort.de, der es von der Tochter Beers, Beate Hammet, Sydney, Australien zur Verfügung gestellt wurde).
Bild 2: Alexander Beers Fassaden-Entwürfe für die Synagoge Klopstockstraße. Oben der Erstentwurf von 1928, unten der revidierte Entwurf von 1929 nach dem Ende des Wettbewerbs. (Quelle: Akten im Landesarchiv Berlin, Re. 202 Nr. 1230 und 1231, gescannt aus und zitiert nach (2), Band 1, S.162)

Im Februar 1929 wurde zusätzlich ein Ideen-Wettbewerb ausgeschrieben, an dem sich renommierte Architekturbüros beteiligten, darunter Moritz Ernst Lesser (1882-1958); unter anderen fungierte Alexander Beer als Gutachter. Den radikalsten Entwurf legte das Architekten-Duo Augusta („Gusti“) Hecht (1903-1950) und Hermann Neumann vor (Bild 3), das damit den ersten Preis gewann. Es war das erste Mal überhaupt, dass sich eine Architektin mit einem sakralen Bau profilierte (3). Die Synagoge sollte 1050 Plätze auf zwei Ebenen haben (Bild 4), und im Inneren all die traditionell-rituellen Einrichtungen, die eine klassische Synagoge ausmachen, nur ihr äußeres Erscheinungsbild brach radikal mit der herkömmlicher – jüdischer – Sakralbauten. Nicht dieser Entwurf, aber der des Architekten Moritz Lesser, wurde von der Gemeinde angekauft.

Bild 3: Fassadenentwurf der Synagoge Klopstockstraße von Gusti Hecht und Hermann Neumann (Quelle: Die Baugilde, 11 Jahrgang (1929), Heft 11, Seite 860)
Bild 4: Grundriss der Synagoge Klopstockstraße von Gusti Hecht und Hermann Neumann (Quelle: Die Baugilde, 11 Jahrgang (1929), Heft 11, Seite 860).

Wer war Gusti Hecht?

Auguste Hecht, von der es leider kein Foto gibt,  wurde 1905 in Brno, damals zu Österreich-Ungarn gehörig, geboren und studierte Architektur 1922-1923 in Wien. Nach dem Examen als Diplom-Ingenieurin kam sie nach Berlin und arbeitete als Architektin wie auch als Journalistin (ab 1931), u.a. beim Berliner Tageblatt und beim Weltspiegel, dessen redaktionelle Leitung sie übernahm (4). Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 verlor sie ihre Anstellung. 1936 emigrierte sie über Paris nach Südafrika, wo sie 1940 heiratete, ein Café eröffnete (5) und am 17. Dezember 1950 in Johannesburg früh an einer Krebserkrankung verstarb. Wenig mehr ist über sie bekannt. In der Literatur zu Carl von Ossietzky (1889-1938) wird erwähnt, dass er den letzten Abend vor seiner Verhaftung am 27. Februar 1933 mit Freunden bei ihr verbrachte und sie in den folgenden Jahren Kontakt zu Ossietzky hielt und wichtige Informationen an den „Freundeskreis von Ossietzky“ weiterleiteten (6).

Und was wurde aus der Synagoge?

Vielleicht war es unter Architekten – und ist es auch heute noch – üblich, sich von Wettbewerbseinreichungen inspirieren zu lassen, jedenfalls modifizierte der Hauptgutachter der Ausschreibung, Alexander Beer, nach diesem Wettbewerb seinen eigenen, früheren Entwurf (Bild 2). „Jedes Ornament fehlt, nicht aber die Kultsymbole. In der Mitte überragen in abstrahierter Form die Gesetzestafeln die kubischen Baukörper und demonstrieren damit immer noch Beers Anspruch auf die Sichtbarmachung des sakralen Charakters seines Synagogenbaus“ (2). Beer erhielt dafür die Zustimmung der jüdischen Gemeinde – ein Schelm, wer Böses dabei denkt. In anderen Bereichen der Wissenschaft würde dies als mögliches Plagiat zumindest kritisch gesehen werden – aber vielleicht ist die Architektur auch eher dem künstlerischen denn dem wissenschaftlichen Feld zuzuordnen, wo man einem solchen Interessenskonflikt aus dem Wege gehen würde. 

Aber auch Beers finaler Entwurf der Synagoge im Hansaviertel wurde dann schlussendlich nicht gebaut, da dafür ein Wohnhaus hätte abgerissen werden müssen – das schien in der Wirtschaftskrise 1929 nicht opportun. Im Sommer 1930 griff die Gemeinde daher zurück auf den Plan einer Synagoge in der Agricolastraße, auf der Basis eines anderen, ebenfalls modernen Entwurfes von Beer; es kam zwar zur Grundsteinlegung (16. September 1930), aber nicht zur Bauausführung, die am 29. April 1932 aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen eingestellt wurde. Die nachfolgenden politischen Ereignisse – insbesondere die Reichstagswahl von 1933 – läuteten das Ende jüdischen Lebens in Berlin für eine lange Zeit ein. 

Gusti Hechts Synagogenentwurf aber würde auch heute noch sehr zeitgenössisch wirken.

Literatur

1. Konstantin Wächter. Die Berliner Gemeindesynagogen im Deutschen Kaiserreich. Integration und Selbstbehauptung. Gebrüder Mann Verlag, Berlin 2022.

2. Veronika Bendt, Rolf Bothe (Hg.): Synagogen in Berlin, Zur Geschichte einer zerstörten Architektur, Teile 1 und 2. Verlag Wilhelm Arenhövel, Berlin 1983 (Band 1, Seite 156-165)

3. Ute Maasberg, Regina Prinz: Die Neuen kommen! Weibliche Avantgarde in der Architektur der zwanziger Jahre. Hamburg o. J., Seite 89.

4. https://de.wikipedia.org/wiki/Gusti_Hecht

5. Martin Uli Mauthner: ‘Schubert Park’ – Memories of ‘Continental’ Jo’burg, in: AJR-Journal, 16. Jg. 2016, Nr. 8, Seite 5.

6. https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_von_Ossietzky