Bild: Blick in den Blumeshof vom Schöneberger Ufer aus. Foto (Postkarte) von 1903 aus der Sammlung Ralf Schmiedecke mit freundlicher Genehmigung. Das 2. Haus auf der linken Seite ist die Nr. 15.
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Am 16. Oktober 2023 wurde eine Webseite freigeschaltet, die zu besuchen sich lohnt für alle, die sich für jüdische Geschichte, insbesondere für Berliner jüdische Geschichte interessieren, und auch diejenigen, die dies vielleicht nicht besonders wichtig finden, können hier lernen, wie man Geschichte hier und heute sichtbar machen kann, erzählen kann, ohne auf trockenes Lehrbuchwissen zurückzugreifen und auf längst und oft Gehörtes.
Die Webseite heißt www.zwangsräume.berlin und erzählt einen vergessenen und/oder verdrängten Aspekt der Vertreibung der Juden aus Deutschland, ihrer Heimat, durch sukzessive Zusammenlegung in Häusern in der Stadt, die Juden gehörten und die lange von der „Entjudung“ verschont blieben zu genau diesem Zweck: „Ab 1939 musste fast die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Berlins ihre Wohnungen verlassen und umziehen. Jüdinnen:Juden wurden als Untermieter:innen in Wohnungen eingewiesen, in denen bereits andere jüdische Mieter:innen lebten. Zumeist waren die Zwangswohnungen der letzte Wohnort vor ihrer Deportation und Ermordung“.
Die Arbeitsgruppe „Zwangsräume“ des Vereins „Aktives Museum“ um den Historiker Christoph Kreutzmüller, der schon 2012 das verdienstvolle Projekt über die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit veröffentlicht hatte (1), identifizierte in Berlin mindestens 791 solcher Häuser, die auf dieser Webseite genannt – und auf einem Stadtplan lokalisiert – werden, von denen bislang 32 ausführlicher recherchiert, mit Fotos versehen und optisch und graphisch eindrucksvoll erfahrbar gemacht wurden – darunter sieben im Lützowviertel zwischen Kurfürstenstraße und Landwehrkanal, Flottwellstraße und Budapester Straße. Unter den 32 aufgearbeiteten Beispielen von Judenhäusern ist auch das Haus Blumeshof 15, dessen Geschichte und Vorgeschichte wir mehrfach berührt hatten (mittendran vom 15. Juli 2021, vom 6. Januar 2023 und vom 7. September 2023) (Bild).
Aber wie immer gibt es noch Platz für Veränderungen und Verbesserungen – drei Anmerkungen:
1. Blumeshof 15 (heute Kluckstraße 3) existierte natürlich schon länger, vor dem Aufkauf durch die jüdische Gemeinde (1918) war es im Besitz der jüdischen Familie (Witwe) Gerson, die es vermutlich der Gemeinde verkauft/geschenkt hat. Auch das ist Teil der Geschichte.
2. Lützowstraße 48-49 war in den Jahren ab 1933 ein jüdisches Altersheim, worüber wir hier berichtet haben (mittendran von 8. Mai 2022 und vom 28. August 2023), die Häuser wurden 1933 gekauft von der jüdischen Gemeinde, und auch hier wurde „verdichtet“, d.h. zwangsweise wurden Bewohner zusammengelegt aus anderen Heimen und von auswärts. Am Ende waren es etwa 180 Bewohner, mehr als ursprünglich vorgesehen.
3. Als das Reichsicherheitshauptamt (RSHA) die Immobilie (Nr. 48 + 49) 1940 übernehmen wollte, wurde das Altersheim Lützowstraße 48/49 am 10. November 1940 aufgelöst, und 100 bis 125 Bewohner (genauso ungenau steht es in den Akten) wurden in ein Altersheim nach Pankow (Berliner Straße 120/121) verlegt und später von dort deportiert und ermordet.
Die übrigen Heimbewohner wurden auf folgende Adressen verteilt: In die Lützowstraße 77 (heute: 78) kamen 22 Bewohner und 3 Angestellte; in die Lützowstraße 67 verlegt wurden 15 Bewohner und 1 Angestellte; in die Derfflingerstraße 17 kamen 14 Bewohner und 2 Angestellte; und in der Kluckstraße 27 und in der Lützowstraße 72 wurden 3 bzw. 1 „Externer“ als Untermieter untergebracht. Dies macht zusammen 55 Heimbewohner und 6 Angestellte. Deren Wohn-und Lebensbedingungen und weiteres Schicksal ist bislang weitgehend ungeklärt. Es ist also noch viel zu tun.
1. Christoph Kreutzmüller: Ausverkauf. Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin 1930–1945, Berlin 2012 (2. Auflage Berlin 2013).
Es gibt mehr als einen Grund, warum diese Synagoge nicht gebaut wurde, aber in jedem Fall ist es sehr schade: Sie wäre sicherlich die modernste der Berliner Synagogen geworden, hätte sie die Stürme der Zeit, die Pogrom-Nacht 1938, die Bombardierungen ab 1942 und Straßenkämpfe 1945 überdauert. Es sollte allerdings eine orthodoxe Synagoge werden, was sicherlich ein starker, reizvoller Kontrast geworden wäre, aber auch ein weiterer Grund, warum diese Synagoge nicht gebaut werden konnte.
Eine Synagoge für das Hansaviertel
Den sukzessiven Umzug eines Teils der jüdischen Bevölkerung Berlins vom – ärmeren – Nordosten in den – reicheren – Südwesten der Stadt hatten wir schon in der Verteilung der Synagogen und Betsäle in einer früheren Geschichte (mittendran vom 22. Juli 2023) gesehen. Die orthodoxen Juden erwarteten von der Gemeindeleitung dementsprechend nicht nur neue liberale (1), sondern auch orthodoxe Synagogen in diesem Teil der Stadt, und ein erster Plan sah eine solche Synagoge in einem Industriegebiet in Moabit vor (Agricolastraße). Alexander Beer (1873-1944) (Bild 1), der Baumeister der jüdischen Gemeinde, der ab 1928 und bis zu seiner Deportation nach Theresienstadt im Blumeshof 15 wohnte, hatte dafür bereits 1926 Pläne vorgelegt, die nicht erhalten sind, die aber im Zuge von Auseinandersetzungen mit der Baupolizei nicht realisiert wurden. 1928 erwarb die Gemeinde ein Grundstück in der Klopstockstraße im Hansaviertel, und Beer entwarf eine eher traditionelle Synagoge (2): Die lag, wie viele sakrale Bauten in Berlin, unmittelbar an der Klopstockstraße und war eingerahmt von Wohnhäusern (Bild 2).
Im Februar 1929 wurde zusätzlich ein Ideen-Wettbewerb ausgeschrieben, an dem sich renommierte Architekturbüros beteiligten, darunter Moritz Ernst Lesser (1882-1958); unter anderen fungierte Alexander Beer als Gutachter. Den radikalsten Entwurf legte das Architekten-Duo Augusta („Gusti“) Hecht (1903-1950) und Hermann Neumann vor (Bild 3), das damit den ersten Preis gewann. Es war das erste Mal überhaupt, dass sich eine Architektin mit einem sakralen Bau profilierte (3). Die Synagoge sollte 1050 Plätze auf zwei Ebenen haben (Bild 4), und im Inneren all die traditionell-rituellen Einrichtungen, die eine klassische Synagoge ausmachen, nur ihr äußeres Erscheinungsbild brach radikal mit der herkömmlicher – jüdischer – Sakralbauten. Nicht dieser Entwurf, aber der des Architekten Moritz Lesser, wurde von der Gemeinde angekauft.
Wer war Gusti Hecht?
Auguste Hecht, von der es leider kein Foto gibt, wurde 1905 in Brno, damals zu Österreich-Ungarn gehörig, geboren und studierte Architektur 1922-1923 in Wien. Nach dem Examen als Diplom-Ingenieurin kam sie nach Berlin und arbeitete als Architektin wie auch als Journalistin (ab 1931), u.a. beim Berliner Tageblatt und beim Weltspiegel, dessen redaktionelle Leitung sie übernahm (4). Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 verlor sie ihre Anstellung. 1936 emigrierte sie über Paris nach Südafrika, wo sie 1940 heiratete, ein Café eröffnete (5) und am 17. Dezember 1950 in Johannesburg früh an einer Krebserkrankung verstarb. Wenig mehr ist über sie bekannt. In der Literatur zu Carl von Ossietzky (1889-1938) wird erwähnt, dass er den letzten Abend vor seiner Verhaftung am 27. Februar 1933 mit Freunden bei ihr verbrachte und sie in den folgenden Jahren Kontakt zu Ossietzky hielt und wichtige Informationen an den „Freundeskreis von Ossietzky“ weiterleiteten (6).
Und was wurde aus der Synagoge?
Vielleicht war es unter Architekten – und ist es auch heute noch – üblich, sich von Wettbewerbseinreichungen inspirieren zu lassen, jedenfalls modifizierte der Hauptgutachter der Ausschreibung, Alexander Beer, nach diesem Wettbewerb seinen eigenen, früheren Entwurf (Bild 2). „Jedes Ornament fehlt, nicht aber die Kultsymbole. In der Mitte überragen in abstrahierter Form die Gesetzestafeln die kubischen Baukörper und demonstrieren damit immer noch Beers Anspruch auf die Sichtbarmachung des sakralen Charakters seines Synagogenbaus“ (2). Beer erhielt dafür die Zustimmung der jüdischen Gemeinde – ein Schelm, wer Böses dabei denkt. In anderen Bereichen der Wissenschaft würde dies als mögliches Plagiat zumindest kritisch gesehen werden – aber vielleicht ist die Architektur auch eher dem künstlerischen denn dem wissenschaftlichen Feld zuzuordnen, wo man einem solchen Interessenskonflikt aus dem Wege gehen würde.
Aber auch Beers finaler Entwurf der Synagoge im Hansaviertel wurde dann schlussendlich nicht gebaut, da dafür ein Wohnhaus hätte abgerissen werden müssen – das schien in der Wirtschaftskrise 1929 nicht opportun. Im Sommer 1930 griff die Gemeinde daher zurück auf den Plan einer Synagoge in der Agricolastraße, auf der Basis eines anderen, ebenfalls modernen Entwurfes von Beer; es kam zwar zur Grundsteinlegung (16. September 1930), aber nicht zur Bauausführung, die am 29. April 1932 aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen eingestellt wurde. Die nachfolgenden politischen Ereignisse – insbesondere die Reichstagswahl von 1933 – läuteten das Ende jüdischen Lebens in Berlin für eine lange Zeit ein.
Gusti Hechts Synagogenentwurf aber würde auch heute noch sehr zeitgenössisch wirken.
Literatur
1. Konstantin Wächter. Die Berliner Gemeindesynagogen im Deutschen Kaiserreich. Integration und Selbstbehauptung. Gebrüder Mann Verlag, Berlin 2022.
2. Veronika Bendt, Rolf Bothe (Hg.): Synagogen in Berlin, Zur Geschichte einer zerstörten Architektur, Teile 1 und 2. Verlag Wilhelm Arenhövel, Berlin 1983 (Band 1, Seite 156-165)
3. Ute Maasberg, Regina Prinz: Die Neuen kommen! Weibliche Avantgarde in der Architektur der zwanziger Jahre. Hamburg o. J., Seite 89.
Es gibt zu dieser jüdischen Gemeinde, die eine eigene Synagoge hatte, nur sehr wenige gesicherte Informationen, und weil das so ist, haben alle mehr oder weniger voneinander abgeschrieben; und dem entsprechend tauchen immer wieder die gleichen wenigen Details auf, selbst wenn sie falsch oder ungenau sind.
Die sicherlich umfangreichste Quelle zur Geschichte der sephardischen Juden ist ein Buch von Guttstadt (1) von 2008, von dem es auch Kurzfassungen über die sephardischen Juden in Berlin gibt (2, 3), aber auch Guttstadt beruft sich bezüglich der Berliner sephardischen Gemeinde auf Sinasohn 1971 (4), Galliner 1987 (5) und Groh 2001 (6). Dabei berichtet Sinasohn in nur 9 Zeilen sehr wenige Informationen und nennt keine einzige Quelle, und Galliner verweist auf das Jüdische Jahrbuch für Groß-Berlin von 1926 bzw. 1928 (7). Die gleichen Angaben wie in den Jahrbüchern finden sich auch in den beiden Jüdischen Adressbüchern von Berlin (8). Eine gelegentlich zitierte Quelle von 1935 ist ein Artikel von Hillel (9) im Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde, allerdings ohne Details und ohne Quellenangabe; gleichzeitig ist im Israelitischen Familienblatt 1935 (10) ebenfalls ein Artikel über die kleine sephardische Gemeinde in Berlin erschienen, so dass Guttmann (3) wohl zu Recht vermutet, dass selbst den meisten jüdischen Gemeindemitgliedern diese Geschichte neu gewesen sein könnte.
Was sind sephardische Juden?
Sephard ist der hebräische Name für Spanien, so wie Aschkenas der Name für Deutschland war; Sephardim waren daher Juden aus Spanien und Portugal, wie Aschkenasim die Juden aus Nord-, Mittel- und Osteuropa waren. Die Aschkenasim sprachen ein dem Deutschen verwandtes „Jiddisch“, während die Sephardim ein dem Spanischen verwandtes „Ladino“ sprachen. Auf der von 714 bis 1492 zum Osmanische Reich gehörenden iberischen Halbinsel hatten die Sephardim zumeist hohe und angesehene Stellungen und waren im Mittelalter besser integriert als die Aschkenasim in Mitteleuropa. Als die Rückeroberung (reconquista) Spaniens durch christliche Herrscher mit der Belagerung und Besetzung Granadas 1492 ein Ende fand, wurden die verbleibenden Juden per Gesetz gezwungen, zum Christentum zu konvertieren oder das Land zu verlassen. Die daraufhin einsetzen Migration der Sepharden (Sepharad I) ging zunächst in das Königreich Portugal, aber es als dort 1796 ebenfalls zu einem Verbot des jüdischen Glaubens kam, zogen viele Juden entweder nach Norden (Niederlande, Skandinavien, Hamburg) oder nach Osten (in die Balkanstaaten, nach Nordafrika, Griechenland und die Türkei) und ließen sich im Osmanischen Reich nieder, während den verbliebenen, konvertierten Sephardim in Spanien und Portugal oftmals die Folter (Inquisition) drohte, wenn der Verdacht aufkam, dass der jüdische Glaube und die jüdische Lebensweise heimlich weitergeführt wurden. Die ins Osmanische Reich ausgewanderten Juden behielten ihre Sprache (Ladino) und ihre traditionelle Lebensweise bei, viele von ihnen lebten in Konstantinopel (Istanbul) und wurden auch hier geschätzt. Mit dem Untergang des Osmanischen Reiches und der Entstehung des türkischen Staates emigrierte die Sephardim in mehreren Emigrationswellen, die Groh (6) Sephard II nennt, nach Wien und weiter nach Preußen (Berlin), das zu diesem Zeitpunkt (um 1900) starke diplomatische Beziehungen zur Türkei hatte. Hauptgeschäftszweige waren der Teppichhandel und die Tabakindustrie (Bild 1). Etwa die Hälfte der in Berlin lebenden Türken hatte jüdische Wurzeln und türkische Pässe – sie fühlten sich bei der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zunächst noch sicher, aber als die Türkei begann, ihre Pässe für ungültig zu erklären, wurden sie erneut vertrieben oder wie ihre aschkenasischen Glaubensgenossen deportiert und umgebracht.
Was ist über die sephardische Gemeinde in Berlin bekannt?
Worin alle übereinstimmen: dass der Israelitisch-Sephardische Verein (ISV) 1905 gegründet worden sei. Als Beleg gilt ein Brief aus diesem Jahr von Fina Haim, eine der vier Töchter des Berliner Teppichhändlers Haim (Bild 2), an den spanischen Arzt Dr. Angel Pulido sowie Informationen aus einem Fragebogen, den Pulido an sephardischen Gemeinden weltweit verschickt hatte. Darin werden 25 Mitglieder der Berliner Gemeinde namentlich genannt: „Isidoro Covo und L. Haim, Kaufleute für orientalische Wandteppiche in großen Mengen; Victor Albahary, Zionist; Elías Benyaisch, Mosco Calmi, Ernest N. Covo und L. Haim, Kaufleute für orientalische Wandteppiche in großen Mengen; Victor Albahary, Zionist; Elías Benyaisch, Mosco Calmi, Ernest N. Covo und N. Romano, Kaufleute; Licco Covo, Bension Benvenisto, A. Rosano, Nissim Cohen, Eskenazy und Heinrich Levy, E. Y. Uziel und Is. Kamermam, Kommissionäre; Navon, Student der Germanistik und Lehrer für Spanisch; Dr. Samuel, Lehrer für Französisch; Dr. Benaroyo, Arzt; Dario Errera, Maschinenbauingenieur; Cappon, Angestellter, usw., und drei oder vier andere“ (11).
Im Berliner Adresskalender taucht der Verein aber erstmals 18 Jahre später auf, 1923 mit der Adresse Lützowstrasse 111, vorher ist er nicht gelistet, auch nicht unter anderer Adresse. In den Jahren von 1921 bis 1924 war der 1. Vorsitzende des Vereins, J. D. Hassan, der in der Jägerstraße 25 wohnte; dort war er geführt als Importeur echter orientalischer und persischer Teppiche (siehe Bild 1), den man im Berliner Adressbuch ab 1896 nachweisen kann. Er fehlte jedoch in den oben gelisteten historischen Berichten völlig, stattdessen benennt Sinasohn (4) den Teppichgroßhändler Chasan als Gründungsvater, den wiederum das Adressbuch nicht kennt, und alle anderen auf Sinasohn verweisen, statt das Adressbuch zu konsultieren. Oder weil die von Guttstadt berichtete Quelle ein Transkription-Variante (Chasan = Hassan) enthält: „Ein Problem für sich ist die Schreibung von Personennamen. Durch das Nebeneinander des hebräischen, lateinischen, und – bis zur Einführung der Lateinschrift in der Türkei 1928 – osmanischen Alphabetes in der Türkei existierten dort für die Namen der meisten Juden mindestens drei verschiedene Schreibweisen … entstanden oft zahlreiche Lateinschriftversionen für ein und denselben Namen, häufig sogar für die gleiche Person“ (1).
Ab 1925 war die Adresse des „Generaldirektors“ des Vereins, Ely J. Uziel, die Martin Luther-Strasse 58. Uziel ist seit 1899 im Berliner Adressbuch nachweisbar. Er und die anderen Vorstandsmitglieder finden sich danach auch in den beiden Jahrbüchern und den beiden jüdischen Adressbüchern – so weit, so gut.
Die Zahl der Vereinsmitglieder wird mit 150 Mitte der 20er Jahre (12) und mit 500 Anfang der 30er Jahre angegeben, aber es wird an keiner Stelle gesagt, ob es sich dabei um die Zahl der sephardischen Familien handelt oder um Individuen – die Zahl 500 hat bislang überhaupt keinen Beleg. Das klingt darüber hinaus nach viel, hatte doch der Tiergarten-Synagogen-Verein an der Potsdamer Straße 26 zur gleichen Zeit nur etwa 110 Mitglieder (s. mittendran vom 3. September 2022), und der Synagogenverein Lützowstraße 16, dessen Synagoge 2000 Gläubige fassen konnte (mittendran vom 30.Juli 2023), auch nur 500 Mitglieder, gemäß dem Jüdischen Jahrbuch von 1926 (8). Vermutlich waren die 150 Mitglieder ihre Kopfzahl, nicht die Anzahl der Familien. Nimmt man nämlich die o.g. Liste als Liste der Mitglieder (25-29 Familien) und rechnet pro Familie 4-5 Personen, kommt man an die Zahl von 150 Sephardim heran.
Genau diese Frage wurde dem Düsseldorfer Rechtsanwalt Siegfried Lublinski zum Verhängnis, als er im Auftrag der Jüdischen Gemeinde 1962 herausfinden sollte, wo die sephardische Synagoge war, in welchem Umfang sie zerstört worden und was dabei an Wertgegenständen verloren gegangen war. Da ein inzwischen ein weeitgehend geräumtes Trümmerfeld (Bild 3) keinen Augenschein mehr zuließ, suchte er in den Bauakten des Grundstücks Lützowstrasse 111/112 (13) nach Hinweisen, wo 500 Köpfe hätten beten können. Dabei identifizierte er auf der Basis der Grundrisse des Geländes zwischen Lützowstrasse und (heutiger) Pohlstraße den großen Festsaal (ab 1881 Konzertsaal, ab 1920 Kinosaal) der Viktoria-Brauerei als mögliche Synagoge mit Platz für bis zu 750 Gläubige (Bild 4). Die Brauerei hatte das Grundstück 1918 an die Wertheim Grundstücks Verwaltungsgesellschaft m.b.H., eine Tochtergesellschaft der Wertheim Kaufhaus-Kette, verkauft. Der Suchvorgang ist in einer Akte des Centrum Judaicum Berlin (CJB) dokumentiert (14), auch seine spätere Einsicht, dass die doppelte Nutzung als Kino und als Synagoge kaum zu realisieren war, es sei denn als gelegentlicher Betsaal an den hohen jüdischen Feiertagen (s. mittendran vom 22. Juli 2023). Den Wertverlust nur der Einrichtung bezifferte ein Gutachter im Wiedergutmachungsverfahren mit knapp 300.000 DM.
Wo war der Verein in den Jahren 1905 bis 1923?
Bleibt also die Frage, wo genau der Israelitisch-Sephardische Verein zwischen von 1905 bis 1923 residierte. Wie Rechtsanwalt Lublinski haben wir uns zunächst die Bauakte vorgenommen, allerdings alle 10 Bände in chronologischer Ordnung, und die Baugeschichte rekonstruiert. Das Gelände war 1853 erstmals bebaut worden und gehörte seit 1878 der Viktoria-Brauerei-Aktiengesellschaft bzw. der Engelhardt-Brauerei; es wurde 1918 für 1,825 Million Mark an die Wertheim Grundstücks-Gesellschaft verkauft. Die Viktoria-Brauerei hatte im Jahr 1889 das Vorderhaus Ecke Lützowstraße und Flottwellstraße neu geplant. Das dabei entstandene Wohnhaus hatte die Hausnummern 111 und 112 mit 3 Etagen mit einer Anzahl von Wohnungen. Dabei entstand im ersten Stock oberhalb des Foyers des Saales (Flottwellstraße 8) ein zweiter, kleiner Festsaal nebst einem Vorraum, der etwa 350 Personen fassen konnte – auch der konnte nicht die spätere Synagoge sein, da er als „Schwechtensaal“ in den Jahren um 1925 für Kammermusik-Aufführungen und für Tonaufnahmen (Schallplatten) der Firma Organon diente. Aber das Jüdische Jahrbuch 1926 hatte eindeutig gesagt, dass die Synagoge im ersten Stock lag.
Band 7 der Bauakten endlich ergab einen Fund: Im Jahr 1913 beantragte die Viktoria-Brauerei-AG einen Umbau im 1. Stockwerk des Wohnhaus Lützowstraße 111, bei dem mehrere Zwischenwände aus verputztem Draht (Rabitz-Wand) oder Stahlbändern (Prüss-Wand) entfernt wurden, um größere Räume zu schaffen (Bild 5) – hier wird der als Synagoge genutzte Raum sein, der auch dem optischen Bild der Synagoge entsprach: ein etwa 5 x 10 = 50qm großes Zimmer, das Platz für etwa 150 Personen bot: 6 Stuhlreihen a 5 Stühle plus 4 Stuhlreihen a 5 Stühle plus 60 oder mehr Stühle entlang der Wände; das zumindest entsprach der Größe der sephardischen Vereins um 1925 (Bild 6).
Dieser Umbau macht aber nur dann Sinn, wenn bereits mit dem Umbau 1913 die Unterbringung der sephardischen Synagoge beabsichtig war – oder eine andere, z.B. kommerzielle Nutzung großer Räume vorgesehen war. Vor dem Umbau (1910) wurde die erste Etage offenbar weitgehend vom Schiedsgericht der Arbeiterversicherung genutzt), und es gab nur zwei weitere Mieter, einer davon war der Wirt R.Saeger des Restaurants der Brauerei. In den ersten Jahren nach der Baufertigstellung hatte die Brauerei hier ihre Verwaltungsräume. Bereits vor dem Umbau 1913 nimmt die Anzahl der Mieter zu, 1912 waren es acht, 1913 und 1914 elf und 1915 zwölf Mieter, darunter Gewerbebetriebe (Bechem & Post GmbH, Silonit-Baugesellschaft mbH), Handwerker, und Selbständige sowie einige Kaufleute (Bild 7).
Dass laut Guttstadt (1-3) und anderen bereits 1915 in den Räumen des Vereins in der Lützowstrasse 111 eine Schule eingerichtet wurde, spräche ebenfalls für den früheren Bezug der Räumlichkeiten, allerdings findet sich diese Schule nicht in der Liste aller jüdischen Schulen Berlins zwischen 1915 und 1930. In diesem Fall müsste aber ein privater Mieter der Räumlichkeiten im Adressbuch verzeichnet sein, weil der ISV ja erst 1923 als Mieter im Adressbuch erscheint. Alternativ wäre noch möglich, dass die Wertheim Grundstücks-Gesellschaft die vorhandenen Räumlichkeiten ohne förmlichen Mietvertrag zur Verfügung stellte, weil z.B. der Kaufhausbesitzer Wertheim ein religiöser Jude war – schwer vorstellbar bei einer Aufsicht durch die Baupolizei, immerhin musste die Entfernung der Zwischenwände bezüglich Statik neu berechnet und von der Behörde genehmigt werden.
Und dennoch muss es so gewesen sein: Ein Brief des ISV an den Rabbiner David Simonsen in Kopenhagen vom 13. Dezember 1918, aufgespürt in der Dänischen Königlichen Bibliothek (Bild 8), zeigt im Briefkopf die Adresse des Vereins: „Lützowstrasse 111 I.Stock rechts„, so dass die zeitliche Lücke kleiner wird und es wahrscheinlicher wird, dass die Synagoge gleich nach dem Umbau 1913 dort eingerichtet wurde. Warum der ISV nicht im Adressbuch aufgelistet ist, ist also dem Umstand zu verdanken, dass die Synagoge in einer Privatwohnung untergekommen war und dass einer der Mieter ab 1913 (oder ab 1918) der sephardischen Gemeinde eine Heimat gegeben hatte, mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Angehöriger der Sephardim – die Frage ist nur: wer? Von den 11 Mietparteien 1918, die zum Teil schon vor 1918 und auch noch 1923 im Hause waren, kommen acht in Frage, sowie ein Mieter, der von 1919 bis 1923 hier registriert war. Diese Suche wird also noch einige Zeit in Anspruch nehmen.
Persönliche Erinnerungen eines sephardischen Jungen, der die Shoah überlebte
Isaak Behar, der 1923 in Berlin geborene Sohn eines noch in Konstantinopel aufgewachsenen sephardischen Ehepaares, das 1916 nach Berlin auswanderte, überlebte die Shoah im Untergrund durch viele Verstecke in den Jahren 1939 bis 1945, während seine Eltern und Schwestern nach Riga deportiert und dort umgebracht wurden. Seine wenigen Erinnerungen an die sephardische Synagoge in der Lützowstraße 111 (er nennt die Hausnummer 110) in die Zeit vor dem Krieg decken sich mit den hier gemachten Angaben, fügen ihnen aber auch keine weiteren Details hinzu. Sie geben stattdessen einen eindrucksvollen Einblick in das das Familienleben der Behars und in die Nöte, die jüdische Familien mit der Machtübernahme der Nazis 1933 ausgesetzt waren (12).
Literatur
1. Corry Guttstadt: Die Türkei, die Juden und der Holocaust. Association A, Berlin 2008.
2. Corinna Guttstadt. Sepharden an der Spree. Türkische Juden im Berlin der 20er- und 30er- Jahre und ihr Schicksal während der Schoah. In: Uwe Schaper, Hrg. Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2008. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2008, S. 215-233.
3. Corry Guttstadt: Sepharden auf Wanderschaft. Vom Bosporus an die Spree, Elbe und Isar. PaRDeS. Zeitschrift der Vereinigung für jüdische Studien e.V. 2013, Heft 19, Seite 89-112.
5. Nicola Galliner, Hrsg. Wegweiser durch das jüdische Berlin. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1987.
6. Arnold Groh: Searching for Sephardic History in Berlin. In: M.Mitchell Serels (Ed.) Semana Sepharad: The lectures. Studies on Sephardic History. New York 2001, Seite 32-56. (https://s-a-c-s.net/wp-content/uploads/2012/03/SephBerl.pdf).
Hat man erst mal eine Spur, lässt sie sich leicht verfolgen: Nachdem wir die Nr. 48 und 49 in der Lützowstraße als jüdisches Altersheim identifiziert hatten (JueLe vom 8. Mai 2022), lag es nahe zu fragen, was denn hier vorher war und was aus dem Haus geworden ist, nachdem die Einwohner vertrieben worden waren – und die noch wichtigere Frage: Was eigentlich aus den Einwohnern geworden ist. Für die erste Frage haben wir die Bauakten zu Rate gezogen, für die Fragen zweit und drei haben wir den Kontakt zum Archiv der Jüdischen Gemeinde, dem Centrum Judaicum in der Oranienburger Straße gesucht.
Die Bauakten Lützowstrasse 48 und 49
Die beiden Bauakten (1) waren unspektakulär, enthielten aber ein interessantes Detail: Fotos der beiden Wohnhäuser aus dem Jahre 1930, die mehr als deutlich machen, was die Zeit (und der Besitzer) mit Wohnhäusern anstellen kann. Das Grundstück mit den (späteren) Nummern 43 bis 51 gehörte einem Rentier Schramm, der dies als Bauland hatte ausweisen lassen. Zum Zeitpunkt des Neubaus (ab 1873) gehörten beide Häuser dem Maurermeister Waldeyer, und der plante sie quasi wie „Zwillingshäuser“, identisch im Aussehen (Fassade) und Grundriss (Vorderhaus nebst Seitenflügel) (Bild 1). Maurermeister waren oft die Eigentümer während der Bauphase eines Hauses, vergleichbar den heutigen Bauunternehmern: Sie erhielten von den Banken den notwendigen Kredit und verkauften meist unmittelbar nach Fertigstellung. Nummer 49 wurde 1875 fertig und hatte in diesem Jahr bereits 7 Mieter, Nr. 48 ein Jahr später, ab 1876 hatten beide Häuser 10 bis 11 Mietparteien. Waldeyer verkaufte das Haus Nr. 49 im Jahr 1879 und Nr. 48 ein Jahr später; in der Folge hatten beide Häuser unterschiedliche und unterschiedlich viele Eigentümer.
Fünfundfünfzig Jahre nach dem Hausbau, als die Jüdische Gemeinde die Häuser 1933 erwarb, hatten die beiden nur noch wenig Gemeinsames, wie man den Fotos entnehmen kann (Bild 2). Die Jüdische Gemeinde renovierte das Haus Nr. 48 (Bild 3), und beantragte für das ebenfalls erworbene Haus Nr. 49 Umbauten (im 3. Stock, s. unten) unter anderem mit dem Hinweis, die ursprüngliche Zwillingsnatur beider Häuser wieder herzustellen. Dass dabei nicht an die erneute Ausschmückung der Fassade von Nr. 48 gedacht war, sondern an die „Entstuckung“ (so heißt das, wenn Fassadenstuck entfernt wird) auch für die Nr. 49, ergibt sich aus einem Schreiben der Jüdischen Gemeinde an die Baupolizei (Bild 4) – es sollte allerdings nicht dazu kommen (s. unten).
Unterschätz die langweiligen Quellen nicht!
Da der Kontakt zum Leo-Baeck-Institut in New York über das Centrum Judaicum Berlin zustande kam, war die naheliegende Frage, ob denn nicht auch in deren Archiv noch Unterlagen zum Altersheim in der Lützowstraße seien, zum Beispiel über die Bewohner in den Jahren 1933 bis 1942. Die Archivarin, Frau Sabine Hank, bestätigte dies im Herbst 2022: Auf Mikrofilm lägen Unterlagen zur Einrichtung einer Telefonanlage im Altersheim sowie Versicherungsunterlagen vor (2). Das klang nun nicht gerade nach aufregender Forschung, so dass es nicht eilig schien und erst bei einem zweiten Termin im Dezember 2022 die Unterlagen gesichtet wurden. Und zunächst schien sich die Erwartung zu bestätigen: Die Einrichtung einer Telefonanlage im Jahr 1933 mit insgesamt sechs Etagen-Anschlüssen fügte den bisherigen Erkenntnissen wenig hinzu, und auch eine Glasbruch-Versicherung erbrachte nichts Neues.
Die Feuerversicherung für das Haus Nr. 49 war 1928 mit 224.400 Mark Versicherungswert geschätzt, der in der Regel den Wiederbeschaffungswert des Hausrats (ohne das Grundstück selbst, das ja bei Brand erhalten bleibt) darstellt; dieser Wert blieb gleich beim Erwerb des Hauses durch die jüdische Gemeinde. Für die Erweiterung des Altenheims nach Erwerb und Umbau des Hauses Nr. 49 im Jahr 1935 (s. oben) wurden 80.000 Mark veranschlagt, so dass am 13. März 1936 der Gesamtwert mit 263.500 Mark angegeben wurde. Dies war vermutlich dem Umstand zu verdanken, dass zu diesem Zeitpunkt nicht das ganze Haus Nr. 49 Teil des Altenheims wurde, sondern nur die obere(n) Etage(n) (s. oben). Neu, aber nicht aufregend.
Völlig unterschätzt dagegen hatten wir die Bedeutung der Haftpflichtversicherung: Die Viktoria-Versicherung wollte natürlich bereits bei Abschluss der Versicherung 1933 die Anzahl der Personen (Heimbewohner und Personal) wissen, für die Schäden über diese Versicherung gedeckt werden sollten, und sie ließ sich dies in den nachfolgenden Jahren immer wieder bestätigen oder korrigieren, so dass die Unterlagen insgesamt ein ungefähres Bild von der Belegung des Heims wiedergeben. In der nachfolgenden Zusammenstellung wird daher die Anfangsbelegung, die zunehmende „Verdichtung“ der Belegung – was nichts anderes bedeutet als die Zusammenlegung mehrerer Personen in einem Zimmer – und schließlich die Auflösung des Heimes und die Verteilung der verbliebenen Bewohner, die nicht bereits deportiert worden waren (zum Beispiel mit dem Versprechen, nach Theresienstadt verlegt zu werden in eine vermeintliche Altersresidenz (3)), auf andere Institutionen und Häuser im Viertel.
Die ursprünglich (1933) abgeschlossene Haftpflicht-Versicherung bei der Viktoria-Versicherung sah für die Lützowstraße 48/49 insgesamt 185 Heiminsassen bei 24 Personalstellen vor, die Adresse in der Police (Rankestraße 33) war jedoch der Sitz des Trägervereins „Jüdische Altersheime e.V.“, nicht das Heim selbst. Eine 1935 abgeschlossene Versicherungspolice sprach von 210 Heimbewohner bei 30 Personalstellen. Am 10. November 1940 wurde das Altersheim Lützowstraße 48/49 aufgelöst, und 100 bis 125 Bewohner (genauso ungenau steht es in den Akten) wurden in ein Altersheim nach Pankow (Berliner Straße 120/121) verlegt.
Die übrigen Heimbewohner wurden auf folgende Adressen verteilt: In die Lützowstraße 77 kamen 22 Bewohner und 3 Angestellte; in die Lützowstraße 67 verlegt wurden 15 Bewohner und 1 Angestellte; in die Derfflingerstraße 17 kamen 14 Bewohner und 2 Angestellte; und in der Kluckstraße 27 und in der Lützowstraße 72 wurden 3 bzw. 1 „Externer“ als Untermieter untergebracht. Dies macht zusammen 55 Heimbewohner und 6 Angestellte.
Zusammen mit den „100 bis 125“ Bewohnern, die nach Pankow verlegt wurden, kommt man so auf etwa die Zahl von 180 Altersheim-Bewohnern. Wohin die 30 Fehlenden gekommen sind, erschließt sich aus den Unterlagen nicht, ebenso wenig, was auch den ursprünglich 30 Personalstellen geworden ist – natürlich können ältere Bewohner einfach nur gestorben sein, und es hat im Vorfeld der Deportationen viele Suizide unter den jüdischen Bewohnern Berlins gegeben, insbesondere nach dem Beginn der Deportationen 1942 (4). Nimmt man jedoch die gesamte Wohnfläche des Altersheims in der Lützowstraße 48 und 49 (s. oben), lässt sich leicht ersehen, dass selbst mit der ursprünglichen Belegung von 185 Personen eine maximal dichte Belegung erreicht ist und die Erhöhung auf 210 Personen die persönliche Wohnfläche nochmals reduziert wurde. Zum Vergleich: die 20 Mitparteien, die hier vor dem Umbau zum Altersheim wohnten, umfasste mit einiger Sicherheit nicht mehr als etwa 100 bis 120 Personen (einschließlich Kindern). Mit unserer ursprünglichen Schätzung von etwa 40 Bewohnern für Haus Nr. 48 (s. mittendran vom 8. Mai 2022) lagen wir also völlig falsch.
Es fehlen die Namen
Das eigentliche Ziel des Kontakts zum Centrum Judiacum war jedoch, etwas über die Bewohner des Altenheims in der Lützowstraße zu erfahren, aber das erwies sich als Fehleinschätzung; Belegunterlagen sind für die Altersheim der jüdischen Gemeinde nicht überliefert, und in den Adressbüchern Berlins wurden die Heiminsassen nicht persönlich gelistet. Und so bleibt die traurige Möglichkeit, Namen aus den Listen der Deportierten zu extrahieren, deren letzte Adresse mit Lützowstraße 48 oder 49 angegeben worden ist. Da, wie wir jetzt wissen, es jedoch zwischen 1940, der Auflösung des Heimes, und 1942, dem Beginn der Deportationen, viele Verlegungen gegeben hat, dürfte auch dies ein hoffnungsloses Unterfangen sein. Die wenigen Namen, denen wir bei der Recherche eher zufällig begegnet sind, sollen hier stellvertretend für die mehr als 200 Ungenannten aufgelistet werden. Dies sind die Altenpflegerin Johanna Calvary, geboren am 3.1.1896 in München, deportiert und ermordet in Minsk (5), und die Seniorin Rosa Mayer (Meyer), geboren am 25.9.1868 in Wittlich, deportiert und gestorben in Theresienstadt (6) (Bild 5).
Was nach der Auflösung des Altersheims passierte
Auch dies ein Zufallsfund auf der Internet-Suche nach „Lützowstraße 48“: Nach dem Auszug der Altenheimbewohner zog am 15. Januar 1941 das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in die beiden Gebäude ein, die Oberbehörde der Schutzstaffel (SS), zu diesem zeitpunkt vor allem zuständig für die Personalakten einerseits, die Kontrolle der Konzentrationslager andererseits (7). Sie war damit eine der vielen NS-Institutionen, die sich im Verlauf des Krieges über das Lützow-Viertel ausbreitere, wegen der Regierungsnähe einerseits, der Bombardierungen im Regierungsviertel andererseits – aber das soll Teil einer eigenen Serie von Geschichten sein.
Literatur
1. Bauakten im Landesarchiv Berlin: B Rep. 202 Nr. 4352, 4353, 4354.
2. Akten in Centrum Judaicum Berlin: 1 A Be 2 Nr. 106 bis 108 des Gesamtarchivs.
4. Christian Goeschel. Selbstmord im Dritten Reich. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2011.
5. Anja Reuss/Kristin Schneider (Hg.) Berlin-Minsk. Unvergessene Lebensgeschichten: Ein Gedenkbuch für die nach Minsk deportierten Berliner Jüdinnen und Juden. Metropol Verlag, Berlin 2013
Wenn die Synagoge an der Potsdamer Brücke der „Tempel der Millionäre“ genannt wurde, war dann die nur 20 Jahre später gebaute Synagoge an der Lützowstraße 16 der „Tempel der kleinen Leute“? Weit gefehlt: Sie war größer, besser ausgestattet, eindrucksvoller, und dazu architektonisch sehr viel traditioneller gebaut als die orthodoxe Privatsynagoge, wie ein soeben erschienenes Buch über drei Berliner Gemeindesynagogen (Lützowstraße, Lindenstraße, Rykestraße) belegt (1). Und reiche Gemeindemitglieder hatte sie auch, wie wir sehen werden.
Aufgrund der Fülle des Materials sollen im Folgenden nur einige Aspekte der Baugeschichte beleuchtet werden, für Details und vielfältiges Bildmaterial verweisen wir auf das Buch (1) sowie auf bereits früher publizierte Quellen (2-4) zu den Berliner Synagogen.
Was sind Reformsynagogen?
Als Reformsynagogen werden Gemeindesynagogen bezeichnet, die nicht am strengen, traditionellen jüdischen Ritus ausgerichtet sind. Als liberaler Zweig des Judentums zeichnet sie sich durch eine weniger ausgeprägte Betonung von Ritualen und der persönlichen Einhaltung der religiösen Ge- und Verbote des jüdischen Gesetzes aus als es bei konservativeren jüdischen Strömungen der Fall ist, denn jeder einzelne Jude gilt im liberalen Judentum als autonom. Es bestand und besteht eine große Offenheit gegenüber äußeren Einflüssen und fortschrittlichen Werten. Ein bedeutender Vertreter in Deutschland war Leo Baeck (1873–1956), die unumstrittene Führungsfigur und Repräsentant der deutschen Judenheit (5).
Die Architekten der Synagoge, die in und für Berlin bedeutende Firma Cremer & Wolffenstein, beantragten am 19. Juni 1896 den Neubau einer Synagoge auf dem Grundstück Lützowstraße 16 und Potsdamerstraße 118 – im Antrag steht fälschlicherweise die Hausnummer 112, aber alle anderen Unterlagen benennen immer die korrekte Nummer 118. Sie führen weiter aus „Da das Allerhöchste nach Osten belegend ein muss …“ (6).
Hier stutzt und staunt der naive Leser: Offenbar galten auch für Reformsynagogen strenge religiöse Bauvorschriften: Allerheiligstes nach Osten, separate Alltags- und Festtags-Beträume, getrennte Eingänge/Höfe für Männer und Frauen, separates Trau-Zimmer, Frauenplätze auf der Empore, etc. Aus diesem Grunde war, so die Informationen aus der Baugeschichte (1), ein vorheriger Plan für eine neue Synagoge am Schöneberger Ufer gescheitert. Und der naive Leser fragt sich weiter: War denn dies alles gegeben bei der kleinen, traditionellen Synagoge an der Potsdamer Brücke, die in einem bereits vorhandenen Gebäude, einem ehemaligen Landwirtschaftsmuseum eingerichtet worden war (s. mittendran vom 20.8.2022)? Jedenfalls bauten die beiden Architekten ihre erste Synagoge in dem Stile, in dem sie zuvor vor allem christlichen Kirchen gebaut hatten: als „dreischiffiger Bau mit zwei kurzen, aber breiten Querhausarmen näherte sich der Grundriss der Form eines lateinischen Kreuzes an und war somit deutlich am christlichen Kirchenbau orientiert“ (1), auch in der äußeren Gestaltung („Backsteingotik“); dies war durchaus im Sinne der Reformgemeinden, die um Gleichstellung mit den christlichen Kirchen bemüht waren, aber innerhalb der Gemeinde nicht unumstritten.
Die Synagoge selbst wurde nach jüdischen Vorschriften auf einem von den Kaufleuten Oppenheim (s. unten) bereitgestellten Grundstück (Bild 1). Ähnlich den etwa zur gleichen Zeit entstandenen anderen Gemeindesynagoge in der Lindenstraße und der Sykestraße lag sie als „Hofsynagoge“ nicht unmittelbar an der Straße, sondern war über das Grundstück Lützowstraße 16 zugänglich, in dem eine jüdische Religionsschule, die Wohnung des Portiers, Verwaltungsräume sowie die Wohnung des Kastellans (Kantors) untergebracht war. Ein 5,3m breiter Torbogen durch das Schulgebäude erlaubte den Zugang (Bild 2) zu dem hinter der Häuserreihe gelegenen Synagoge (Bild 3); die Eigentümer der Nachbargrundstücke hatten dieser architektonischen Lösung zugestimmt. Diese Lage und Nähe speziell des Schulgebäudes zu den Wohnhäusern in der Nachbarschaft hat in der Reichspogromnacht (9. November 1939) vielleicht verhindert, dass die Synagoge – wie viele andere – ein Opfer der Flammen wurde.
Die Synagoge bot Platz für fast 2000 Besucher (840 im Erdgeschoß, 945 auf der ersten Empore, 82 auf der zweiten (Frauen-)Empore, dazu 60 Plätze auf der Sängerempore) und war damit eine der größere der Synagogen in Berlin (Bild 4). Sie wurde am 11. September 1898 feierlich eröffnet (7).
Die Bauzeit war mit knapp 1,5 Jahren (April 1897 bis September 1998) sehr kurz. Die gesamten Baukosten (ohne die Grundstückskosten) beliefen sich auf 515.000 Mark, nach Kaufkraft von heute also etwa das 7-fache in Euro, mithin günstig; die Innenausstattung der Synagoge kostete nochmals etwa 80.000 Mark, die des Vorderhauses etwa 100.000 Mark. Die am Bau und an der Ausstattung beteiligten regionalen und überregionalen Firmen sagen uns heute nicht viel, aber der Lieferant der Orgel verdient Erwähnung: E.F.Walcker u. Co., Ludwigsburg, eine seit dem 18. Jahrhundert im Orgelbau bekannte Firma, die Orgeln in aller Welt gebaut und installiert hat und immer noch baut (8).
Der Orgelstreit
Die Archivarin den Centrum Judaicum, Sabine Hank, erzählte bei einem Besuch folgende Geschichte: als sie einer Nachfahrin eines ehemaligen Berliner Rabbiners erzählte, dass sie in der früheren Synagoge an der Oranienburger Straße in Berlin arbeite, hätte diese entgegnet „Ach, die Orgelsynagoge, in die sind wir nie gegangen“. Was hat sie damit gemeint?
In einer traditionellen Synagoge gab es keine Musik, einzig der Kantor intonierte die vorgeschriebenen religiösen Gesänge. Als einige reformierte Gemeinden zu Beginn des 19. Jahrhunderts dazu übergingen, Orgeln zu installieren und Kirchenmusik einzuführen, kam es zum „Orgelstreit“: „Keine andere synagogale Reform hat so erbitternden Widerstand gefunden wie diese; sie wurden in vielen deutschen Gemeinden der Anlaß zur Bildung von `gesetzestreuen` Gemeinden. Orgelsynagoge erhielt geradezu die Bedeutung von Reformsynagoge“ (9).
Es wurden von beiden Seiten Gutachten eingeholt zur drei Fragen: 1. Ist Instrumentalbegleitung beim Gottesdienst überhaupt statthaft? 2. Ist sie an Sabbat und Festtagen statthaft? 3. Ist speziell Orgelspiel in Synagogen gestattet? Und wie immer in solchen Fällen gab es positive wie negative Antworten auf diese Fragen, z.B. dass das talmudsche Verbot von Musik sich auf Gelage, aber nicht auf Kirchenmusik beziehe; dass Musik keine Arbeit sei, sondern Kunst, daher zulässig am Sabbat; dass es nur Juden, aber nicht Nicht-Juden verboten sei, an Festtagen zu musizieren; dass die Orgel gar keine christliche Erfindung sei, sondern aus dem Tempel in Jerusalem stamme; dass bei einer jüdischen Hochzeit Musik erlaubt sei, daher erst recht bei der religiösen Feier einer ganzen Gemeinde, usw. usw. (9).
Ab Mitte des 19.Jahrhunderts wurden nach und nach Orgeln in jüdischen Gemeinden in Europa (Österreich 1857) und Amerika (Charleston 1841) installiert. Die Neue Synagoge an der Oranienburger Straße in Berlin erhielt 1862 eine Orgel, aber auch hier gab es Befürworter und Gegner. Eine Synode erklärte schließlich die Einführung der Orgel für empfehlenswert, „… es steht ihrem Spiel am Sabbat und an den Festtagen kein religiöses Bedenken entgegen“ (1869) und „es ist dem Israeliten gestattet, am Sabbat die Orgel im Gotteshaus zu spielen“ (1871). Und so erhielt auch die Synagoge in der Lützowstraße eine Orgel, noch dazu eine der Firma Walcker, Ludwigsburg.
Wie kam die Gemeinde zum Grundstück und zum Bau?
Das im Bauantrag (s. Bild 1) genannte Grundstück Potsdamer Straße 118 wird uns an anderer Stelle noch mal begegnen: hier wohnte von 1837 bis 1856 der Besitzer der Druckerei Haenel, Eduard Hänel (1804-1856), der seine Villa 1840 vom Baumeister des Bürgertums, Eduard Knoblauch (1801-1865) hatte bauen lassen. Nach seinem Ableben (1856) war die alleinstehende Villa 1861 noch für einige Jahre in andere Hände übergegangen (Hertel bzw. Hertel´sche Erben), aber 1883 wurde das Grundstück von den Gebrüder Julius und Louis Oppenheim erworben, das Grundstück wurde geviertelt (118, 118a bis c), die Villa abgerissen und zunächst durch drei mehrstöckige Wohnhäuser entlang der Straßenfront ersetzt, von denen zwei je einem der beiden Brüder gehörte und die zum Teil Mietwohnungen waren; das dritte Haus (118) gehörte dem Rentier Neißer, das vierte Grundstück (118c) blieb bis 1895 unbebaut.
Da das Hänel´sche Grundstück weit in das Hinterland bis zur Druckerei reichte, trennten sich die Brüder Oppenheim 1896 von einem Teil dieses Grundstücks und vermachten es der jüdischen Gemeinde (Bild 1): Die Grundfläche im Hinterland Potsdamer Straße 118b, die damit für den Synagogenbau zur Verfügung stand, betrug 3121 qm zuzüglich 301 qm für das Grundstück Lützowstraße 16, das Julius Oppenheim 1883 ebenfalls erworben hatte, insgesamt also 3422qm, wie Cremer & Wolffenstein im Bauantrag ausführen (6) (Bild 5).
Die Kaufleute Oppenheim
Bei der Suche nach der Herkunft der Gebrüder Oppenheim verirrt man sich leicht in dem Umstand, dass es zur gleichen Zeit eine große jüdische Familie Oppenheim in Berlin gab, die im Bankgeschäft tätig waren – die Brüder Louis und Julius Oppenheim gehörten nicht zu ihnen, sie waren Kaufleute, deren Familie aus Pommern stammte, die erst sehr viel später zu Bankiers wurden (s. unten). Aber es gab auch viele Kaufleute mit diesem Namen (und gleichen oder ähnlichen Vornamen, die im Adressbuch meist abgekürzt wurden). Diesen Fehler machen nicht nur Kiezforscher wie wir, sondern auch das Adressbuch Berlins hat angelegentlich die Familien verwechselt.
Der zielführende Weg war hier der folgende: Die Sterbeurkunden der Brüder Louis und Julius Oppenheim gaben den richtigen Namen des Vaters preis (Neumann Oppenheim), darüber konnten wir dann im Judenbürgerbuch Berlins (10) seine Herkunft und in den Adressbüchern den Weg des Geschäftes verfolgen und ab Jahr der Volljährigkeit der Söhne (1867 bzw. 1869) auch deren Wohnsitze bis zum Umzug in die Potsdamer Straße.
Der Vater von beiden war also Neumann Nachmann Oppenheim, geboren am 2. Juni 1808 in Schwerin an der Warthe (heute: Skwierzyna, Polen), ein Kaufmann. Er hatte am 25. November 1830 das Bürgerrecht bekommen und handelte mit Samt- und Seidenwaren (10). Dessen Vater wiederum war ein Jacob Levin Oppenheim, geboren am 24. September 1777 in Schwerin a.d.W., Kaufmann zu Pyritz in Pommern. Neumann Nachmann Oppenheim heiratete mit 23 Jahren am 11. Dezember 1831 die Lene (Helene) Lindenau, Tochter des Jacob Herz Lindenau, Commissionair, aus der Lindenstraße 15, 28 Jahre alt (10). Neumann und Helene Oppenheim hatten 3 Kinder: Anna Oppenheim (1832-1898), Julius Oppenheim (1833-1909) und Louis Oppenheim (1835-1909).
Vom Kaufmann zum Bankier
Neumann Nachmann Oppenheim erhielt laut Judenbürgerbuch (10) im November 1830 das Bürgerrecht. Im Adressbuch ist er erstmals 1831 verzeichnet: „N.Oppenheim, Modewaaren-Handel, Brüderstraße 18“. Im Jahr 1871 heißt die Firma dann „N.Oppenheim Söhne“ (Damen und Mäntel-Fabrikant, Bazar zur Flora, Jerusalemstr. 20, Eigentümer sind J. und L. Oppenheim). 1879 wird die Firma N.Oppenheim Söhne liquidiert, ein Jahr später ist am gleichen Ort das Bankhaus „N.Oppenheim Söhne“, und die beiden nunmehr als Banquiers bezeichneten Geschäftsleute wohnen in der Eichhornstr. 8 (Louis) und am Halleschen Ufer 28 (Julius) bis zu ihrem Umzug in die Potsdamer Str. 118a bzw. 118b im Jahr 1885. Das Bankhaus existiert noch bis 1891, danach sind die Brüder Rentiers in ihren Häusern; beide starben im Jahr 1909.
Nach dem Tod von Louis und Julius
Von 1909 bis 1920 gehörten die Häuser 118a und 118b den Oppenheimer´schen Erben. Im Haus 119b wohnte 1905 noch die Witwe und Rentiere Anna Oppenheim, die Schwester von Louis und Julius. Ab 1907 ist der einzige Mieter der Deutsche Lyceum-Klub, ein Frauenklub der oberen Zehntausend von Berlin, gegründet von Marie von Bunsen (1860-1941) – auch die ist uns schon begegnet (s. mittendran vom 8. Juni 2021). Im Jahr 1910 zieht die Firma Keller und Reimer, ein Kunstsalon, der bislang an der Potsdamer Straße 122 residierte (s. mittendran vom 28. März 2021) als Mieter ein. Eigentümer ist zuletzt Prof. Leo Paul Oppenheim (1863-1934) aus Berlin Lichterfelde, ein Sohn von Julius und bekannter Geologe und Paläontologe. Im Haus Nr. 118a wohnte bis 1913 die Witwe und Rentiere Lene Oppenheim, die Mutter von Louis und Julius, und bis 1916 die Rentiere Jenny Oppenheim, die Witwe von Louis Oppenheim. Im Haus Nr. 118b residierte nach 1933 das Rassenpolitische Amt der NSDAP, das Rudolf Hess unterstellt war, und das sogleich Beschwerde einlegte gegen die Synagoge (1), aber das gehört in eine andere Geschichte.
Wie wurde die Eröffnung der Synagoge von der Presse aufgenommen?
Zur Einweihung am 11. September 1898 war viel lokale politische Prominenz anwesend, wie die Berliner (Vossische Zeitung vom 12. September 1898) und die jüdische Presse (Jg. 29, 1898, Nr. 39, vom 14. September 1898) zu berichten wussten, in weiten Teilen offenbar auf einem gemeinsamen Text beruhend, der in seinen technischen Teilen (Architektur, Baugeschichte) viele Übereinstimmungen aufweist mit dem im Oktober des gleichen Jahres veröffentlichten Bericht im Centralblatt (7), vermutlich, weil die Architekten die entsprechende Informationen vorab geliefert hatten, die dann auch im Centralblatt veröffentlicht wurden.
Unterschiede zwischen den beiden Berichten konnten wir nur hinsichtlich des letzten Satzes des Artikels in der Jüdischen Presse finden, in dem es heißt, daß ein Chorgesang die Feier beendete, „bei welcher nicht einziges hebräisches Gebet gesprochen wurde, wohl aber Männer und Frauen neben einander saßen“ – dieser Halbsatz fehlt im Artikel der Vossischen Zeitung (Bild 6), ist aber sicher als Referenz an die konservativen Leser der Jüdischen Presse zu verstehen und nachvollziehbar. Auch der Satz „Die staatlichen Behörden waren, wie die antisemitschen Blätter mit Genugtuung hervorheben, nicht vertreten“ fehlt in der Vossischen Zeitung, aber es bleibt offen, welche Zeitungen damit gemeint waren.
Nicht abgebrannt, aber brutal entweiht
Zwar hatte die Synagoge die Pogromnacht 9. auf 10. November 1939 äußerlich nahezu unbeschädigt überstanden, wohl aber im Innern verwüstet („Altar und Altargegenstände … abgebrochen“). Ob die jüdischen Heiligtümer, z.B. die Tora-Rolle, ebenfalls vernichtet worden sind, ist nicht bekannt, aber es fand vom 22. bis 24. April 1940 noch ein Pessach-Fest statt (3). Im weiteren Verlauf wurde sie dann auf brutale Weise „säkularisiert“ (entweiht, profaniert): 1941 befand sich im Innenraum der Synagoge das Lager einer Möbelfirma, und mit Schreiben vom 13. Oktober 1942 genehmigte der Stadtpräsident von Berlin den „Umbau der Synagoge, sowie eines behelfsmäßigen Lageschuppens und eines vierräumigen Kraftwagenunterstellraumes auf dem Grundstück Lützowstrasse 16„. Die endgültige Zerstörung des Synagogengebäudes erfolgte dann durch die Bombenangriffe, vermutlich am 30. Januar 1944.
Literatur
1. Konstantin Wächter: Die Berliner Gemeindesynagogen im Deutschen Kaiserreich. Integration und Selbstbehauptung. Gebrüder Mann Verlag, Berlin 2022.
2. Synagogen in Berlin, Zur Geschichte einer zerstörten Architektur, Teile 1 und 2. Verlag Wilhelm Arenhövel, Berlin 1983.
3. Nicola Galliner, Hrsg. Wegweiser durch das jüdische Berlin. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1987.
4. Max Sinasohn: Die Berliner Privatsynagogen und ihre Rabbiner, 1671-1971. Zur Erinnerung an das 300jährige Bestehen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Jerusalem 1971.
5. https://de.wikipedia.org/wiki/Leo_Baeck
6. Akte im Landesarchiv Berlin (B Rep. 202 Nr. 2284): „betreffend Grundstück des Eigenthümers: Oppenheim, Jüdische Gemeinde, Lützow.Str. 16, Band 2 (1896)“
7. Centralblatt der Bauverwaltung, 8. Jahrgang Nr. 41 vom 8. Oktober 1898, S. 491-4.
Über die Jüdische Synagoge im Lützow-Viertel (Lützowstr. 16) ist das eine oder andere schon geschrieben worden, aber was steckt hinter der Bemerkung „In den 20er-Jahren mietete die Gemeinde noch einen Saal in der Lützowstraße 76 an …
Es ist nicht die erste Synagoge in Berlin, wenn von der Synagoge an der Potsdamer Brücke (Schöneberger Ufer 26) die Rede ist, und auch nicht die zweite oder dritte, aber es ist die erste südlich des Landwehrkanals in der ständig wachsenden Schöneberger Vorstadt, die, als die Synagoge errichtet wurde (1875), bereits mehr als 10 Jahre zu Berlin gehörte.