Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 4

Im Jahr 1879 trat Sally Fürstenberg bei der Firma Albert Rosenhain eine Stelle als Kaufmann an – in einem „Galanterie-, Luxus- und Papeterie-Warengeschäft“, das später als „Haus der Geschenke“ in Berlin und weit darüber hinaus bekannt sein wird. Bereits nach wenigen Jahren (1888) wurde er vom Kaufmann Albert Rosenhain zu seinem Mitinhaber ernannt; außerdem gab er ihm die einzige Tochter Rose, geboren am 30. Januar 1868 in Berlin, zur Frau (1890). 

Die Herkunft der Familie Rosenhain

Die Herkunft der Familie von Rose Rosenhain, die am 19. Juni 1890 den Sally Fürstenberg heiratete, ist in den Genealogie-Foren wie Ancestry, FamilySearch und Geni mindestens so widersprüchlich wie die ihres Mannes, und nicht zuletzt deswegen, weil der Name Rosenhain auch Rosenhaim, Rosenhein oder Rosenhayn geschrieben wurde und weil die Orte Rosenberg, Deutsch Eylau und Freystadt (alle Kreis Rosenberg), die in dieser Genealogie auftauchen, alle sehr klein waren und sehr dicht beieinander lagen. Arbeiten wir uns also rückwärts und schauen mal, wohin wir kommen.

Der Vater von Rose Rosenhain war Albert Rosenhain, geboren 1837, in Roses Heiratsurkunde heißt er „Abraham (Albert) Rosenhain“, verheiratet mit Samuelina Rosenhain geborene Löwenthal, wohnhaft in Berlin (Königin Augusta Straße 24). Der Vater war Trauzeuge und unterschrieb mit „Albert Rosenhain“, ebenso der Kaufmann Philipp Fürstenberg, der Vater von Sally.

Albert Rosenhain verstarb am 20. August 1916 in Berlin. In seiner Sterbeurkunde heißt es, er wurde geboren zu Rosenberg in Westpreußen (WP), war „Sohn des Kaufmanns Joachim Rosenhain und dessen Ehefrau Jeanette Zuname unbekannt“, die beide zuletzt nicht in Berlin wohnhaft waren, sondern in Rosenberg bzw. Freystadt, Kreis Rosenberg, WP. Er wurde 79 Jahre alt, d.h. er wurde um 1837 geboren; seine Frau Lina starb im Alter von 80 Jahren am 24. Juli 1924 in Berlin im Hause ihres Schwiegersohns Sally Fürstenberg (Lützowplatz 5), sie wurde demnach um 1844 geboren.

„Abraham genannt Albert Rosenhain in Berlin Leipziger Straße 72 wohnend 30 Jahre alt“ heiratete in Posen „laut Verhandlung am 15. April 1867 (… die Heirathen der Juden betreffend) … die Jungfrau Samuelina Löwenthal, Tochter des Rentier Moritz Löwenthal zu Posen, St. Martin Nr. 45 wohnend, 23 Jahre alt. Eingetragen Posen den fünfzehnten April Achtzehn hundert sieben und sechzig„. Die Information wurde am Stadtgericht Berlin eingetragen am 20. April 1867 (15). Die Verlobung war im November 1866 (Bild 15). 

Bild 15: Verlobungsanzeige in der National-Zeitung vom 30. November 1866 und Heiratseintrag vom 15. April 1867 (Quelle: (15)).

Albert Rosenhain hatte eine Schwester, Johanna Cohn geb. Rosenhain, geboren in Deutsch-Eylau Kreis Rosenberg, WP, verstorben am 22. März 1895 in Berlin im jüdischen Krankenhaus, wohnhaft 1895 zu Deutsch-Eylau beim Ehemann, dem Gerber Raphael Emil Cohn. Sie war Tochter des Kaufmanns Rosenhain und dessen Ehefrau Jeanette geb. Fabian (womit wir ihren Nachnamen gefunden haben), beide verstorben, zuletzt zu Rosenberg wohnhaft. Johanna Cohn war, als sie 1895 starb, 60 Jahre alt, also um 1835 geboren.

Ein Großvater, zwei Geburtsorte?

Damit haben wir zwei mögliche Geburtsorte des Großvaters von Rose Fürstenberg geborene Rosenhain und ihrer Großtante Johanna Cohn, nämlich Rosenberg (heute: Susz, Polen) im Kreis Rosenberg, WP, und Deutsch Eylau (heute: Eylau, Polen) im gleichen Kreis (Bild 16). Da diese nur etwa 20 km weit auseinanderliegen, ist es gut möglich, dass einer der beiden Angaben durch ein Versehen des Standesbeamten oder des Anzeigenden des Todes entstanden ist. Um dies zu klären, haben wir die Judenregister der Provinz WP durchgeschaut, die im Geheimen Staatsarchiv Berlin-Dahlem liegen, aber auch digital im Internet zur Verfügung stehen.

Bild 16: Karte des Kreises Rosenberg von 1890 (Auszug aus einer größeren Karte von Ost- und Westpreußen) (Quelle: Wikipedia, gemeinfrei).
Bild 17: Karte von Deutsch Eylau im Jahr 1810 (Quelle: (16)).

Im Jahr 1801 gab es in Deutsch Eylau (Bild 17) nur einen „ordentlichen“ Juden, nämlich einen Jacob Abraham, der seine Schutzjuden-Konzession am 21. Mai 1789 erhalten hatte (Bild 18), sowie einen weiteren „außerordentlichen“ Juden namens Casper Laser mit Konzession vom 6. März 1800. Über Casper Laser gibt es ein paar Information aus der Geschichte Deutsch Eylaus (16), über Jacob Abraham wissen wir so gut wie nichts. Er muss im Jahr 1805 verstorben sein, weil in diesem Jahr (am 28. Februar 1805) seine Konzession an seinen Sohn Daniel Abraham überging (nur ein Sohn oder Schwiegersohn „erbte“ den Status Schutzjude). Daniels Frau hieß Sara, und im Jahre 1806/7 hatten sie eine Tochter (Rahel). Daniel war – vermutlich wie sein Vater – Kaufmann für „Schnittwaaren“ (Stoffe) und hatte ein Vermögen von 2000 Taler, was möglicherweise die Voraussetzung dafür war, den Status Schutzjude zu behalten. In den Jahren 1806, 1807 und 1808 nahm die Anzahl der Juden im Ort zu: nebst Casper Laser und Daniel Jacob Abraham gab es jetzt öffentliche (z.B. Schulmeister, Totengräber) und private „Bediente“ (z.B. Handlungsdiener) sowie einige „tolerierte Juden“, jeweils mit oder ohne Familie. Nach dem Erlass des Juden-Edikts im Jahr 1812 nahmen Daniel Jacob Abraham und ein Joachim Jacob Abraham den Nachnamen Rosenhain an (17) (Bild 19); vermutlich ist der Joachim Jacob Abraham ein zweiter, allerdings erheblich jüngerer Sohn des Jacob Abraham. Die Durchsicht der Juden-Register für die Städte Rosenberg und Freystadt ergaben keine Hinweise auf eine Familie, deren Nachname 1812 Rosenhain wurde. Damit hätten wir die Herkunft der Rosa Rosenhain bis zu ihrem Urgroßvater väterlicherseits, Jacob Abraham aus Deutsch Eylau, aufgeklärt.

Bild 18: Schutzjuden in Deutsch Eylau im Jahr 1801 (Quelle: a Akte I. HA Rap. 104, IV C Nr. 236a: Bestandsaufnahme der in den preußischen Provinzen lebenden Juden, Bd. 1: Ostpreußen, Westpreußen und Pommern).
Bild 19: Namensänderung des Joachim Jacob Abraham und des Daniel Jacob Abraham (Quelle: (17)).

Die Firma Albert Rosenhain in der Leipziger Straße

Eine Dokumentation mit vielen Fotos aus dem Jahr 1909 (18) und eine Festschrift zum 60. Firmenjubiläum der Firma Albert Rosenhain 1924 (19) geben Auskunft über die frühen Jahre der Firma: Bei der Eröffnung am 6. September 1864 war der Eigentümer Albert Rosenhain 28 Jahre alt, aber ob es wirklich neben ihm noch einen Seniorchef gab („von allen der Vater genannt“), wie in der Festschrift von 1924 unterstellt (19), ist zweifelhaft: Zunächst waren nur 2, dann 4 Angestellte neben dem Chef tätig, dann stiegen die Zahlen stetig. Bis 1884 waren es 8 Angestellte, bis 1889 dann 15, bis 1894 32, bis 1899 85, bis 1904 116, und bis 1909 schließlich 180 Angestellte (19). „Vater“ war wahrscheinlich die Bezeichnung für Albert Rosenhain, nachdem Sally Fürstenberg 1888 sein Teilhaber geworden war – da hatte er immerhin das Alter von 50 Jahren erreicht.

Das Geschäft war in der Leipziger Straße 72, schräg gegenüber vom Dönhoffplatz, neben den Königskolonaden. Nicht nur die Anzahl der Angestellten, auch die Bautätigkeit zeigt das gleiche stetige Wachstum, wie das Bild des Ladengeschäftes um 1896 zeigt (Bild 20). Albert Rosenhain brachte das „Galanterie-, Luxus- und Papeterie-Warengeschäft“ sicher durch die Zeit des Krieges 1870/71 und durch die Wirtschaftskrise nach der Gründerzeit, die für viele Firmen das Ende bedeutete, weil sie sich verspekuliert hatten. 

Bild 20: Das Geschäft des Albert Rosenhain an den Kolonaden um 1896 (links) (Quelle: Panorama von Berlin für die Gewerbeausstellung 1896, S. 38; digital bei der ZLB (19)),

Im Jahr 1879 trat Sally Fürstenberg in die Firma ein: „Er war der rechte Mann zur rechten Zeit. Jung, voller Tatkraft, voller Initiative … der der Firma einen neuen Inhalt gab, der durch seine Rührigkeit, seinen Arbeitseifer und sein hingebendes Interesse … von vornherein darauf ausging, das Geschäft Albert Rosenhains zu erweitern und zu vergrößern und dem es letzten Endes … gelang, … eine ganz neue Branche zu entwickeln …“ (20). Die Firma war an der großen Gewerbeausstellung 1896 beteiligt, ungewöhnlich für ein Einzelhandelsgeschäft, erweiterte die Geschäftsräume mit dem Umzug in die Leipzigerstraße 73/74, mietete Räumlichkeiten in der Nr. 75, bis schließlich die „Rosenhain Passage“ bis zu Niederwallstraße reichte (Bild 21).

Bild 21: Das Galanteriewaren-Geschäft Albert Rosenhain in der Leipziger Straße 73-74 im Jahr 1909 (aus: (18)).

Als sich Albert Rosenhain 1901 aus dem Geschäftsleben zurückzog, stieg Sallys Bruder Gustav Fürstenberg als Teilhaber in das Geschäft ein (Bild 22). Im Jahr 1914, so berichtete der Polizeipräsident (11), beschäftigte die Firma 250 Personen und hat einen Jahresumsatz von mehr als 4 Millionen Mark. 1911 wurde die Firma Hoflieferant des Königs von Rumänien, im Jahre 1913 wurden die Fürstenberg-Brüder preußischer Hoflieferanten – dies veranlasste das Auskunftsersuchen bei der Polizei (siehe Teil 3).

Bild 22: Der Firmengründer Albert Rosenhain (Mitte), Sally Fürstenberg (links) und Gustav Fürstenberg (rechts) (aus: (18))

Literatur

15. Juden- und Dissidenten-Register 1812-1874 des Stadtgerichts Berlin, digitalisiert und archiviert bei FamilySearch:  https://www.familysearch.org/search/catalog/105476?availability=Family History Library

16. J.Kaufmann: Geschichte der Stadt Deutsch Eylau. Danzig, L.Saunier´s Buch- und Kunsthandlung 1905.

17. General-Verzeichnis sämmtlicher in dem Departement der Königl. Regierung von Westpreußen vorhandenen Juden welchen das Staatsbürger-Recht ertheilet worden. Marienwerder, gedruckt in der Königl. Westpreuß. Hofbuchdruckerey.

18. Maximilian Rosen, Hrsg.: Die Entwicklung Gross-Berlins. Die Führenden und ihr Werk. Dritte Abteilung: Gewerbe, Handel, Industrie. Albert Rosenhain (Sonderdruck). Archiv für Kunst und Wissenschaft, Berlin 1909.

19. https://digital.zlb.de/viewer/image/34127884/1/LOG_0000/

20. Die Geschichte des Hauses Albert Rosenhain. Den Chefs der Firma, den Herren Egon S. Fürstenberg und Gustav Fürstenberg anläßlich des 60 jährigen Bestehens der Firma am 6. September 1924 gewidmet. Berlin (Eigendruck) 1924

Jüdische Geschichte in Tiergarten-Süd: Die Synagoge Lützowstr. 16

Wenn die Synagoge an der Potsdamer Brücke der „Tempel der Millionäre“ genannt wurde, war dann die nur 20 Jahre später gebaute Synagoge an der Lützowstraße 16 der „Tempel der kleinen Leute“? Weit gefehlt: Sie war größer, besser ausgestattet, eindrucksvoller, und dazu architektonisch sehr viel traditioneller gebaut als die orthodoxe Privatsynagoge, wie ein soeben erschienenes Buch über drei Berliner Gemeindesynagogen (Lützowstraße, Lindenstraße, Rykestraße) belegt (1). Und reiche Gemeindemitglieder hatte sie auch, wie wir sehen werden.

Aufgrund der Fülle des Materials sollen im Folgenden nur einige Aspekte der Baugeschichte beleuchtet werden, für Details und vielfältiges Bildmaterial verweisen wir auf das Buch (1) sowie auf bereits früher publizierte Quellen (2-4) zu den Berliner Synagogen.

Was sind Reformsynagogen?

Als Reformsynagogen werden Gemeindesynagogen bezeichnet, die nicht am strengen, traditionellen jüdischen Ritus ausgerichtet sind. Als liberaler Zweig des Judentums zeichnet sie sich durch eine weniger ausgeprägte Betonung von Ritualen und der persönlichen Einhaltung der religiösen Ge- und Verbote des jüdischen Gesetzes aus als es bei konservativeren jüdischen Strömungen der Fall ist, denn jeder einzelne Jude gilt im liberalen Judentum als autonom. Es bestand und besteht eine große Offenheit gegenüber äußeren Einflüssen und fortschrittlichen Werten. Ein bedeutender Vertreter in Deutschland war Leo Baeck (1873–1956), die unumstrittene Führungsfigur und Repräsentant der deutschen Judenheit (5).

Die Architekten der Synagoge, die in und für Berlin bedeutende Firma Cremer & Wolffenstein, beantragten am 19. Juni 1896 den Neubau einer Synagoge auf dem Grundstück Lützowstraße 16 und Potsdamerstraße 118 – im Antrag steht fälschlicherweise die Hausnummer 112, aber alle anderen Unterlagen benennen immer die korrekte Nummer 118. Sie führen weiter aus „Da das Allerhöchste nach Osten belegend ein muss …“ (6).

Hier stutzt und staunt der naive Leser: Offenbar galten auch für Reformsynagogen strenge religiöse Bauvorschriften: Allerheiligstes nach Osten, separate Alltags- und Festtags-Beträume, getrennte Eingänge/Höfe für Männer und Frauen, separates Trau-Zimmer, Frauenplätze auf der Empore, etc. Aus diesem Grunde war, so die Informationen aus der Baugeschichte (1), ein vorheriger Plan für eine neue Synagoge am Schöneberger Ufer gescheitert. Und der naive Leser fragt sich weiter: War denn dies alles gegeben bei der kleinen, traditionellen Synagoge an der Potsdamer Brücke, die in einem bereits vorhandenen Gebäude, einem ehemaligen Landwirtschaftsmuseum eingerichtet worden war (s. mittendran vom 20.8.2022)? Jedenfalls bauten die beiden Architekten ihre erste Synagoge in dem Stile, in dem sie zuvor vor allem christlichen Kirchen gebaut hatten: als „dreischiffiger Bau mit zwei kurzen, aber breiten Querhausarmen näherte sich der Grundriss der Form eines lateinischen Kreuzes an und war somit deutlich am christlichen Kirchenbau orientiert“ (1), auch in der äußeren Gestaltung („Backsteingotik“); dies war durchaus im Sinne der Reformgemeinden, die um Gleichstellung mit den christlichen Kirchen bemüht waren, aber innerhalb der Gemeinde nicht unumstritten.

Bild 1 : Grundstück der Synagoge (Schule, unten, an der Lützowstraße 16, und Synagogengebäude im Hof) gemäß Bauakte (6).

Die Synagoge selbst wurde nach jüdischen Vorschriften auf einem von den Kaufleuten Oppenheim (s. unten) bereitgestellten Grundstück (Bild 1). Ähnlich den etwa zur gleichen Zeit entstandenen anderen Gemeindesynagoge in der Lindenstraße und der Sykestraße lag sie als „Hofsynagoge“ nicht unmittelbar an der Straße, sondern war über das Grundstück Lützowstraße 16 zugänglich, in dem eine jüdische Religionsschule, die Wohnung des Portiers, Verwaltungsräume sowie die Wohnung des Kastellans (Kantors) untergebracht war. Ein 5,3m breiter Torbogen durch das Schulgebäude erlaubte den Zugang (Bild 2) zu dem hinter der Häuserreihe gelegenen Synagoge (Bild 3); die Eigentümer der Nachbargrundstücke hatten dieser architektonischen Lösung zugestimmt. Diese Lage und Nähe speziell des Schulgebäudes zu den Wohnhäusern in der Nachbarschaft hat in der Reichspogromnacht (9. November 1939) vielleicht verhindert, dass die Synagoge – wie viele andere – ein Opfer der Flammen wurde.

Bild 2: Zeichnung des Schulgebäudes (rechts, aus Bauakte (6)) und Foto des Torgitters zum Hof (links, aus: Berliner Architekturwelt, 21. Jahrgang 1919, S. 104, Abb. 149, gemeinfrei)
Bild 3: Haupteingang der Synagoge (Zeichnung, links, aus Bauakte (6)) und Foto (rechts, aus: Berliner Architekturwelt, 21. Jahrgang 1919, S. 105, Abb. 150, gemeinfrei) – man beachte die zwischen Bauplanung und Ausführung sichtbaren Modifikationen, z.B. des Giebels.

Die Synagoge bot Platz für fast 2000 Besucher (840 im Erdgeschoß, 945 auf der ersten Empore, 82 auf der zweiten (Frauen-)Empore, dazu 60 Plätze auf der Sängerempore) und war damit eine der größere der Synagogen in Berlin (Bild 4). Sie wurde am 11. September 1898 feierlich eröffnet (7).

Bild 4: Grundriss (links, aus Bauakte (6)) und Foto des innenraumes (aus: Berliner Architekturwelt, 21. Jahrgang 1919, S. 106, Abb. 151, gemeinfrei).

Die Bauzeit war mit knapp 1,5 Jahren (April 1897 bis September 1998) sehr kurz. Die gesamten Baukosten (ohne die Grundstückskosten) beliefen sich auf 515.000 Mark, nach Kaufkraft von heute also etwa das 7-fache in Euro, mithin günstig; die Innenausstattung der Synagoge kostete nochmals etwa 80.000 Mark, die des Vorderhauses etwa 100.000 Mark. Die am Bau und an der Ausstattung beteiligten regionalen und überregionalen Firmen sagen uns heute nicht viel, aber der Lieferant der Orgel verdient Erwähnung: E.F.Walcker u. Co., Ludwigsburg, eine seit dem 18. Jahrhundert im Orgelbau bekannte Firma, die Orgeln in aller Welt gebaut und installiert hat und immer noch baut (8).

Der Orgelstreit

Die Archivarin den Centrum Judaicum, Sabine Hank, erzählte bei einem Besuch folgende Geschichte: als sie einer Nachfahrin eines ehemaligen Berliner Rabbiners erzählte, dass sie in der früheren Synagoge an der Oranienburger Straße in Berlin arbeite, hätte diese entgegnet „Ach, die Orgelsynagoge, in die sind wir nie gegangen“. Was hat sie damit gemeint?

In einer traditionellen Synagoge gab es keine Musik, einzig der Kantor intonierte die vorgeschriebenen religiösen Gesänge. Als einige reformierte Gemeinden zu Beginn des 19. Jahrhunderts dazu übergingen, Orgeln zu installieren und Kirchenmusik einzuführen, kam es zum „Orgelstreit“: „Keine andere synagogale Reform hat so erbitternden Widerstand gefunden wie diese; sie wurden in vielen deutschen Gemeinden der Anlaß zur Bildung von `gesetzestreuen` Gemeinden. Orgelsynagoge erhielt geradezu die Bedeutung von Reformsynagoge“ (9). 

Es wurden von beiden Seiten Gutachten eingeholt zur drei Fragen: 1. Ist Instrumentalbegleitung beim Gottesdienst überhaupt statthaft? 2. Ist sie an Sabbat und Festtagen statthaft? 3. Ist speziell Orgelspiel in Synagogen gestattet? Und wie immer in solchen Fällen gab es positive wie negative Antworten auf diese Fragen, z.B. dass das talmudsche Verbot von Musik sich auf Gelage, aber nicht auf Kirchenmusik beziehe; dass Musik keine Arbeit sei, sondern Kunst, daher zulässig am Sabbat; dass es nur Juden, aber nicht Nicht-Juden verboten sei, an Festtagen zu musizieren; dass die Orgel gar keine christliche Erfindung sei, sondern aus dem Tempel in Jerusalem stamme; dass bei einer jüdischen Hochzeit Musik erlaubt sei, daher erst recht bei der religiösen Feier einer ganzen Gemeinde, usw. usw. (9).

Ab Mitte des 19.Jahrhunderts wurden nach und nach Orgeln in jüdischen Gemeinden in Europa (Österreich 1857) und Amerika (Charleston 1841) installiert. Die Neue Synagoge an der Oranienburger Straße in Berlin erhielt 1862 eine Orgel, aber auch hier gab es Befürworter und Gegner. Eine Synode erklärte schließlich die Einführung der Orgel für empfehlenswert, „… es steht ihrem Spiel am Sabbat und an den Festtagen kein religiöses Bedenken entgegen“ (1869) und „es ist dem Israeliten gestattet, am Sabbat die Orgel im Gotteshaus zu spielen“ (1871). Und so erhielt auch die Synagoge in der Lützowstraße eine Orgel, noch dazu eine der Firma Walcker, Ludwigsburg.

Wie kam die Gemeinde zum Grundstück und zum Bau?

Das im Bauantrag (s. Bild 1) genannte Grundstück Potsdamer Straße 118 wird uns an anderer Stelle noch mal begegnen: hier wohnte von 1837 bis 1856 der Besitzer der Druckerei Haenel, Eduard Hänel (1804-1856), der seine Villa 1840 vom Baumeister des Bürgertums, Eduard Knoblauch (1801-1865) hatte bauen lassen. Nach seinem Ableben (1856) war die alleinstehende Villa 1861 noch für einige Jahre in andere Hände übergegangen (Hertel bzw. Hertel´sche Erben), aber 1883 wurde das Grundstück von den Gebrüder Julius und Louis Oppenheim erworben, das Grundstück wurde geviertelt (118, 118a bis c), die Villa abgerissen und zunächst durch drei mehrstöckige Wohnhäuser entlang der Straßenfront ersetzt, von denen zwei je einem der beiden Brüder gehörte und die zum Teil Mietwohnungen waren; das dritte Haus (118) gehörte dem Rentier Neißer, das vierte Grundstück (118c) blieb bis 1895 unbebaut.

Da das Hänel´sche Grundstück weit in das Hinterland bis zur Druckerei reichte, trennten sich die Brüder Oppenheim 1896 von einem Teil dieses Grundstücks und vermachten es der jüdischen Gemeinde (Bild 1): Die Grundfläche im Hinterland Potsdamer Straße 118b, die damit für den Synagogenbau zur Verfügung stand, betrug 3121 qm zuzüglich 301 qm für das Grundstück Lützowstraße 16, das Julius Oppenheim 1883 ebenfalls erworben hatte, insgesamt also 3422qm, wie Cremer & Wolffenstein im Bauantrag ausführen (6) (Bild 5).

Bild 5: Situationsplan der Lage der Synagoge, projiziert auf einen Straßen- und Gebäudeplan von 1889. Die gelb markierte Fläche ist die für den Synagogenbau zur Verfügung gestellte Fläche von 3422 qm, die die Gebrüder Louis und Julius Oppermann von ihren Grundstücken (Potsdamer Straße 118a, blau; 118b, grün) abgezweigt und der jüdischen Gemeinde geschenkt hatten, einschließlich des Grundstücks Lützowstrasse 16.

Die Kaufleute Oppenheim

Bei der Suche nach der Herkunft der Gebrüder Oppenheim verirrt man sich leicht in dem Umstand, dass es zur gleichen Zeit eine große jüdische Familie Oppenheim in Berlin gab, die im Bankgeschäft tätig waren – die Brüder Louis und Julius Oppenheim gehörten nicht zu ihnen, sie waren Kaufleute, deren Familie aus Pommern stammte, die erst sehr viel später zu Bankiers wurden (s. unten). Aber es gab auch viele Kaufleute mit diesem Namen (und gleichen oder ähnlichen Vornamen, die im Adressbuch meist abgekürzt wurden). Diesen Fehler machen nicht nur Kiezforscher wie wir, sondern auch das Adressbuch Berlins hat angelegentlich die Familien verwechselt. 

Der zielführende Weg war hier der folgende: Die Sterbeurkunden der Brüder Louis und Julius Oppenheim gaben den richtigen Namen des Vaters preis (Neumann Oppenheim), darüber konnten wir dann im Judenbürgerbuch Berlins (10) seine Herkunft und in den Adressbüchern den Weg des Geschäftes verfolgen und ab Jahr der Volljährigkeit der Söhne (1867 bzw. 1869) auch deren Wohnsitze bis zum Umzug in die Potsdamer Straße.

Der Vater von beiden war also Neumann Nachmann Oppenheim, geboren am 2. Juni 1808 in Schwerin an der Warthe (heute: Skwierzyna, Polen), ein Kaufmann. Er hatte am 25. November 1830 das Bürgerrecht bekommen und handelte mit Samt- und Seidenwaren (10). Dessen Vater wiederum war ein Jacob Levin Oppenheim, geboren am 24. September 1777 in Schwerin a.d.W., Kaufmann zu Pyritz in Pommern. Neumann Nachmann Oppenheim heiratete mit 23 Jahren am 11. Dezember 1831 die Lene (Helene) Lindenau, Tochter des Jacob Herz Lindenau, Commissionair, aus der Lindenstraße 15, 28 Jahre alt (10). Neumann und Helene Oppenheim hatten 3 Kinder: Anna Oppenheim (1832-1898), Julius Oppenheim (1833-1909) und Louis Oppenheim (1835-1909).

Vom Kaufmann zum Bankier

Neumann Nachmann Oppenheim erhielt laut Judenbürgerbuch (10) im November 1830 das Bürgerrecht. Im Adressbuch ist er erstmals 1831 verzeichnet: „N.Oppenheim, Modewaaren-Handel, Brüderstraße 18“. Im Jahr 1871 heißt die Firma dann „N.Oppenheim Söhne“ (Damen und Mäntel-Fabrikant, Bazar zur Flora, Jerusalemstr. 20, Eigentümer sind J. und L. Oppenheim). 1879 wird die Firma N.Oppenheim Söhne liquidiert, ein Jahr später ist am gleichen Ort das Bankhaus „N.Oppenheim Söhne“, und die beiden nunmehr als Banquiers bezeichneten Geschäftsleute wohnen in der Eichhornstr. 8 (Louis) und am Halleschen Ufer 28 (Julius) bis zu ihrem Umzug in die Potsdamer Str. 118a bzw. 118b im Jahr 1885. Das Bankhaus existiert noch bis 1891, danach sind die Brüder Rentiers in ihren Häusern; beide starben im Jahr 1909.

Nach dem Tod von Louis und Julius

Von 1909 bis 1920 gehörten die Häuser 118a und 118b den Oppenheimer´schen Erben. Im Haus 119b wohnte 1905 noch die Witwe und Rentiere Anna Oppenheim, die Schwester von Louis und Julius. Ab 1907 ist der einzige Mieter der Deutsche Lyceum-Klub, ein Frauenklub der oberen Zehntausend von Berlin, gegründet von Marie von Bunsen (1860-1941) – auch die ist uns schon begegnet (s. mittendran vom 8. Juni 2021). Im Jahr 1910 zieht die Firma Keller und Reimer, ein Kunstsalon, der bislang an der Potsdamer Straße 122 residierte (s. mittendran vom 28. März 2021) als Mieter ein. Eigentümer ist zuletzt Prof. Leo Paul Oppenheim (1863-1934) aus Berlin Lichterfelde, ein Sohn von Julius und bekannter Geologe und Paläontologe. Im Haus Nr. 118a wohnte bis 1913 die Witwe und Rentiere Lene Oppenheim, die Mutter von Louis und Julius, und bis 1916 die Rentiere Jenny Oppenheim, die Witwe von Louis Oppenheim. Im Haus Nr. 118b residierte nach 1933 das Rassenpolitische Amt der NSDAP, das Rudolf Hess unterstellt war, und das sogleich Beschwerde einlegte gegen die Synagoge (1), aber das gehört in eine andere Geschichte.

Wie wurde die Eröffnung der Synagoge von der Presse aufgenommen?

Zur Einweihung am 11. September 1898 war viel lokale politische Prominenz anwesend, wie die Berliner (Vossische Zeitung vom 12. September 1898) und die jüdische Presse (Jg. 29, 1898, Nr. 39, vom 14. September 1898) zu berichten wussten, in weiten Teilen offenbar auf einem gemeinsamen Text beruhend, der in seinen technischen Teilen (Architektur, Baugeschichte) viele Übereinstimmungen aufweist mit dem im Oktober des gleichen Jahres veröffentlichten Bericht im Centralblatt (7), vermutlich, weil die Architekten die entsprechende Informationen vorab geliefert hatten, die dann auch im Centralblatt veröffentlicht wurden.

Unterschiede zwischen den beiden Berichten konnten wir nur hinsichtlich des letzten Satzes des Artikels in der Jüdischen Presse finden, in dem es heißt, daß ein Chorgesang die Feier beendete, „bei welcher nicht einziges hebräisches Gebet gesprochen wurde, wohl aber Männer und Frauen neben einander saßen“ – dieser Halbsatz fehlt im Artikel der Vossischen Zeitung (Bild 6), ist aber sicher als Referenz an die konservativen Leser der Jüdischen Presse zu verstehen und nachvollziehbar. Auch der Satz „Die staatlichen Behörden waren, wie die antisemitschen Blätter mit Genugtuung hervorheben, nicht vertreten“ fehlt in der Vossischen Zeitung, aber es bleibt offen, welche Zeitungen damit gemeint waren.

Bild 6. Artikel in der Voss´sche Zeitung vom 12. September 1898.

Nicht abgebrannt, aber brutal entweiht

Zwar hatte die Synagoge die Pogromnacht 9. auf 10. November 1939 äußerlich nahezu unbeschädigt überstanden, wohl aber im Innern verwüstet („Altar und Altargegenstände … abgebrochen“). Ob die jüdischen Heiligtümer, z.B. die Tora-Rolle, ebenfalls vernichtet worden sind, ist nicht bekannt, aber es fand vom 22. bis 24. April 1940 noch ein Pessach-Fest statt (3). Im weiteren Verlauf wurde sie dann auf brutale Weise „säkularisiert“ (entweiht, profaniert): 1941 befand sich im Innenraum der Synagoge das Lager einer Möbelfirma, und mit Schreiben vom 13. Oktober 1942 genehmigte der Stadtpräsident von Berlin den „Umbau der Synagoge, sowie eines behelfsmäßigen Lageschuppens und eines vierräumigen Kraftwagenunterstellraumes auf dem Grundstück Lützowstrasse 16„. Die endgültige Zerstörung des Synagogengebäudes erfolgte dann durch die Bombenangriffe, vermutlich am 30. Januar 1944.

Literatur

1. Konstantin Wächter: Die Berliner Gemeindesynagogen im Deutschen Kaiserreich. Integration und Selbstbehauptung. Gebrüder Mann Verlag, Berlin 2022.

2. Synagogen in Berlin, Zur Geschichte einer zerstörten Architektur, Teile 1 und 2. Verlag Wilhelm Arenhövel, Berlin 1983.

3. Nicola Galliner, Hrsg. Wegweiser durch das jüdische Berlin. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1987.

4. Max Sinasohn: Die Berliner Privatsynagogen und ihre Rabbiner, 1671-1971. Zur Erinnerung an das 300jährige Bestehen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Jerusalem 1971.

5. https://de.wikipedia.org/wiki/Leo_Baeck

6. Akte im Landesarchiv Berlin (B Rep. 202 Nr. 2284): „betreffend Grundstück des Eigenthümers: Oppenheim, Jüdische Gemeinde, Lützow.Str. 16, Band 2 (1896)“

7. Centralblatt der Bauverwaltung, 8. Jahrgang Nr. 41 vom 8. Oktober 1898, S. 491-4.

8. https://de.wikipedia.org/wiki/Eberhard_Friedrich_Walcker

9. Max Joseph, Cäsar Seligman: Orgelstreit. In: Jüdisches Lexikon, Band 4.1, Jüdischer Verlag, Berlin 1930 Spalte 601-4.

10. Jacob Jacobson: Die Judenbürgerbücher der Stadt Berlin 1809-1851. Verlag Walter de Gruyter & Co., Berlin 1962.

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 3

Im zweiten Teil haben wir die Generation der Eltern kennengelernt, heute sind Sally Fürstenberg und seine Geschwister das Thema unserer Geschichte. Sally Fürstenberg war das älteste der vier Kinder von Emma und Philipp Fürstenberg; er wurde am 5. Februar 1860 geboren, zu diesem Zeitpunkt wohnte die Familie in der Turmstraße 45 in Moabit.

Sally Fürstenbergs drei Geschwister

Martha Fürstenberg, geboren 8. Januar 1862. Sie heiratete am 1. April 1886 den Handlungs-Commis (Handlungsdiener) Emil Brock, geboren am 25. November 1858 aus Zellin, Kreis Königsberg, Neumark, Sohn des dort verstorbenen Kaufmanns Levin Judas Brock und dessen Ehefrau Laura, geborene Franck. Sie hatten zwei Kinder, Edith, geboren 1886 und Alice Margarete, geboren 1897. Die erste heiratete einen Horwitz, die zweite einen Dreifuss. Die Familie Brock, auch die beiden Töchter, wandern 1939 über Argentinien nach Uruguay aus (Bild 10). Dort starb Martha am 17. Mai 1946, nachdem 10 Monate zuvor ihr Mann verstorben war (Bild 11).

Bild 10: Passagierliste des Schiffs „Oceania“ nach Montevideo über Buenos Aires am 16. Oktober 1939 mit dem 81-jährigen Emil Brock und seine 77-jährige Frau Martha, geborene Fürstenberg sowie der jüngeren Tochter Alice Dreifuss geborene Brock mit drei Kindern (die letzten sechs Zeilen). In allen Pässen waren schon die jüdischen Zwangsnamen Israel bzw. Sara eingetragen. Sie kamen zu diesem Zeitpunkt aus Genf und hatte in Triest eingeschifft.
Bild 11: Todesanzeige für Martha Brock geborenen Fürstenberg und Emil Brock im Jahr 1946 in einer deutschsprachigen Zeitung in Uruguay (Quelle: unbekannt)

Julius Fürstenberg, geboren in Berlin am 18. Dezember 1865, wanderte bereits mit 18 Jahren in die USA aus. Einer eidesstattlichen Erklärung zur Erlangung eines Passes im Jahr 1907 können wir eine Reihe von Daten entnehmen: Erstmalige Einreise – per Dampfer von Bremen – am 23. Juli 1883, zwischen 1890 und 1907 dauerhaft in den USA, zum Zeitpunkt der Antragstellung in Houston, Texas wohnhaft; er wurde amerikanischer Staatsbürger im September 1906, sein Beruf: Stewart. 

Julius heiratete zweimal, in beiden Fällen eine Christin – was offenbar in den USA keine Rolle spielte, aber zu der in Teil 1 geschilderten genealogischen Verwirrung Jahre später führte. Die 1. Ehe war mit einer Katharine Riess (oder Reiss) am 20. Oktober 1891 in Galveston, Texas, USA; sie war 1871 in Deutschland geboren worden und starb am 30. August 1900 in Harris, Texas. Ihr Sohn Fritz Julius Carl wurde am 6. März 1899 in Potsdam geboren und am 14. Oktober 1900 in Harris County getauft. Die 2. Ehe wurde am 16. November 1905 in der Trinitiy Lutheranean Church, Harris County Texas geschlossen, seine Frau war Elise Loeser, geboren 1858 in Chemnitz, sie war mit ihren Eltern 1888 in die USA eingereist. Sie brachte einen Sohn (Willi Loeser, 1882-1942) mit in die Ehe. Julius starb am 17. Juni 1911 im Alter von nur 45 Jahren in Houston an einem Lungenkarzinom (Bild 12), der Sohn Fritz aus erster Ehe starb 1966 ebenfalls an einem Lungenkarzinom.

Bild 12: Sterbeurkunde für Julius Fürstenberg vom 17. Juni 1911

Gustav Fürstenberg, der 6 Jahre jüngere Bruder von Sally, wurde am 17.Juni 1868 geboren – er starb am 8. April 1931 in Berlin in der Charité. Kaufmann wie sein Bruder, wurde er 1901 zu dessen Partner und Teilhaber an der Firma Albert Rosenhain und wurde innerhalb kürzester Zeit zu einem sehr reichen Mann. Als die Firma 1911 um Verleihung des Titels „Großherzoglich Sächsischer Hoflieferant“ beim Sächsischen Hofmarschallamt in Weimar nachsuchte, bat das Amt den Polizeipräsidenten von Berlin um Auskunft „über das Geschäft, den Ruf und die Vermögensverhältnisse der Gesuchsteller„, ebenso beim Antrag zur Führung des Titels Hoflieferant des Königs von Rumänien 1913 (Bild 13). Aus dieser Akte (11) erfahren wir einiges aus der Geschichte der Firma, aber auch Gustavs Vermögensverhältnisse: „Sein Ruf und seine Führung sind einwandfrei. Für das laufende Jahr ist er mit einem Einkommen von 90 000 bis 92 000 und einem Vermögen von 260 000 bis 280 000 M zur Steuer veranlagt“ – und das macht nach einer Umrechnungstabelle der Bundesbank (12) etwa das 5,6-fache in Euro heute, also knapp eine halbe Million Jahreseinkommen und 1.5 Millionen auf der Bank. Im Jahr 1914 wurde Gustav, wie zuvor sein Bruder Sally, vereidigter Sachverständiger bei den Berliner Gerichten.

Bild 13: Genehmigung des Polizeipräsidenten vom 30. Juni 1913 für Gustav Fürstenberg, Hoflieferant des rumänischen Königshauses zu werden (aus: Akte im Landesarchiv Berlin (11)).

Auch wenn er nicht ganz so viel verdiente wie sein älterer Bruder, bei dem laut „Millionäre in Preußen“ (13) ein Einkommen von 170.000 und ein Vermögen von 2,8 Millionen für das Jahr 1911 zu Buche schlugen, reichte dies aus, einen Hausstand zu gründen: Gustav heiratete am 6. Januar 1914 die Sophia Birnholz, geboren am 21. Oktober 1887 zu Berlin, Tochter des Rentiers Elias Eduard Birnholz und dessen Ehefrau Pauline, geborene Lichtenstein, wohnhaft Wilmersdorf (Schayerstraße 1). Gustav und Sophia hatten zwei Töchter, Leonie und Vera. In seinem Testament von 1930 (14) setzte er seine Frau als Alleinerbin ein, verfügt aber, dass die Töchter Nacherben zu gleichen Teilen sein sollten.

Zum Zeitpunkt seines Todes wohnte die Familie in Berlin-Grunewald, Siemensstraße 19-21, aber Gustav wohnte noch bis 1904 in der Josephstraße 5 in Kreuzberg. Dann zog er näher an das Zentrum und zu seinem Arbeitsplatz und wohnte für zwei Jahre (1905, 1906) in der Jerusalemstraße 11-12, nachdem Sally dort ausgezogen und an den Lützowplatz gezogen war. 1907 ging es weiter westlich nach Charlottenburg (Kantstraße 3,4), dann Rankestraße 8 (1910-1914) und dann für viele Jahre (bis 1929) in die Lietzenburgerstr. 51. Und schließlich 1930, ein Jahr vor seinem Tod, zog die Familie in den Grunewald (Siemensstr. 19-21), wo sie ein bereits vorhandenes Haus gekauft hatten: die wechselnden Adressen spiegeln eindrucksvoll den ökonomischen Aufstieg der Familie.

Egon Sally Fürstenberg

Egon Sally Fürstenberg nannte sich erst ab 1901 so, in den Jahren zuvor war sein Name in den Adressbüchern mit Sally oder (abgekürzt) mit S. Fürstenberg angegeben. Dazu weiß der Polizeipräsident einige Jahre später: „Nach den Registern heisst er mit Vornamen nur Sally und unterzeichnet sich auch vor Gericht so. Den Vornamen Egon hat er sich augenscheinlich willkürlich zugelegt …“ (11). Vermutlich war der Name Sally, auch wenn er modern klang, angelehnt an Salomon, und dies wiederum war Sally zu jüdisch, so dass er sich einen weiteren Vornamen gab.

Als Sally Fürstenberg geboren wurde (5. Februar 1860), wohnte die Familie noch in der Turmstraße in Alt-Moabit, aber schon im nächsten Jahr zieht sie ins sogenannte Scheunenviertel, dem traditionell jüdisch bewohnten Bezirk im Nordosten der Stadt (siehe Bild 7 in Teil 2) – dort bleiben sie für die nächsten 20 Jahre hängen mit den für Berlin typischen häufigen Wechseln der Mietwohnung, weil Nachwuchs kommt einerseits, weil die Mieten steigen andererseits. Solange Kinder kein Gymnasium besuchen, lassen sich genealogische Spuren in dieser Zeit kaum eruieren: Schulzeiten sind archivarisch normalerweise nicht dokumentiert (mit Ausnahme des Abiturs, das in den obligaten Jahresberichten der Gymnasien an die Kultusadministration dokumentiert ist, oder wenn schulinterne Zeugnis- und Versetzungsberichte in ein Archiv eingestellt wurden), Lehrzeiten noch weniger, und auch Arbeitsverhältnisse kaum, wenn sie nicht im öffentlichen Dienst waren.

Die Schule wurde in der Regel ab dem 6. Lebensjahr für 8 Jahre besucht, eine Kaufmannsausbildung dauerte mindestens 5 Jahre, also dürfte Sally mit etwa 14 oder 15 in eine Kaufmannslehre bei einer Firma eingetreten sein und mit 19 oder 20 dort seine Lehre angeschlossen haben – das wäre dann für ihn 1879 oder 1880. Nach Beendigung der Lehre trat er 1879 nachweislich bei der Firma Albert Rosenhain in Berlin eine Stelle an und wurde bereits nach wenigen Jahren (1888) vom Kaufmann Albert Rosenhain zu seinem Mitinhaber ernannt; außerdem gab der ihm die einzige Tochter Rose, geboren am 30. Januar 1868 in Berlin, zur Frau (1890) (Bild 14).

Bild 14: Heiratsurkunde des Sally Fürstenberg und der Rose Rosenhain vom 19. Juni 1890.

Im nächsten Teil werden wir die Geschichte der Familie Rosenhain rekonstruieren, hat doch der Name der Firma Albert Rosenhain für weitere 50 Jahre bestanden, auch als er längst in die Hände der Familie Fürstenberg übergegangen war.

Literatur:

11. Akte im Landesarchiv Berlin (A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 12764) „betreffend die Firma Albert Rosenhain. Inhaber: Kaufmann Sally Egon Fürstenberg, Gustav Fürstenberg“, darin Blatt 7ff.

12. Deutschen Bundesbank: Kaufkraftäquivalenten historischer Beträge in deutschen Währungen seit 1810 – Gulden, Taler, Mark, Reichsmark, D-Mark (Stand: Januar 2022; siehe: https://www.bundesbank.de/resource/blob/615162/13c8ab8e09d802ffcf2e5a8ae509829c/mL/kaufkraftaequivalente-historischer-betraege-in-deutschen-waehrungen-data.pdf).

13. Rudolf Martin. Nachtrag zu den 12 Provinzbänden des Jahrbuchs der Millionäre im Königreich Preußen. Verlag Rudolf Martin, Berlin 1913.

14. Akte im Landesarchiv Berlin (A Rep. 342-02 Nr. 60363): Amtsgericht Charlottenburg, Handelsregister B „betreffend Albert Rosenhain GmbH“, darin Blatt 103-104.

Jüdische Geschichte in Tiergarten-Süd: Betsäle

Über die Jüdische Synagoge im Lützow-Viertel (Lützowstr. 16) ist das eine oder andere schon geschrieben worden, aber was steckt hinter der Bemerkung „In den 20er-Jahren mietete die Gemeinde noch einen Saal in der Lützowstraße 76 an …

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 2

Im ersten Teil der Geschichte hatten wir die Großeltern des Egon Sally Fürstenberg kennengelernt, Joseph David (Fürstenberg), der Handelsmann aus Lindow und seine Frau Fanni, geborene Levin/Michel. Sie hatten zwei Söhne, David Fürstenberg, geboren 1820 in Lindow, und Philipp Fürstenberg, geboren 1824, ebenfalls in Lindow, der Vater des Egon Sally.

Stolpersteinverlegung am 13. Mai 2023

Um 12 Uhr werden am Samstag, den 13. Mai 2033 in der Friedrich-Wilhelm-Str. 8 (Tempelhof) zwei Steine für Zoya Aqua-Kaufmann und ihren Sohn Hans Joachim verlegt.

Zoya Aqua-Kaufmann wurde 1918 in Berlin als Kind von Antonie Kaufmann und Thomas Manga Akwa geboren.In der Nazizeit musste sie die Schule verlassen, die Ausbildung zur Kinderärztin wurde ihr verwehrt. Daher arbeitete sie bis zum Berufsverbot 1939 als Tänzerin. Aus Angst vor Zwangssterilisation versteckte sie sich ab 1941 und wechselte ihre Aufenthaltsorte und auch das Land. Im November 1944 wurde sie in Prag denunziert und mit ihrem dreijährigen Sohn Hans Joachim im Gefängnis Pankrac inhaftiert. Erst nach Kriegsende kamen Mutter und Sohn am 13. Mai 1945 frei.

Zoya Aqua-Kaufmann musste lange um die Anerkennung ihrer Verfolgung und ihres Anspruchs auf Entschädigung kämpfen.