IN DEMUT ERINNERN – NIE WIEDER IST HEUTE!

Die SPD-Abteilungen Tiergarten Süd und Tiergarten Mitte luden am Sonntag, 5. Mai anlässlich des Jahrestages der Befreiung zum Gedenken an die Gräuel, die Deutsche an Jüdinnen und Juden und Anderen verübt haben zu einem Gedenk-Spaziergang ein.

Treffpunkt des etwa zweistündigen Gedenk-Spaziergangs entlang der Kurfürstenstraße war vor der „Kleinen Nachtrevue“ an der Bushaltestelle „Schillstraße“. Der Weg führte die ca. 20 Teilnehmenden zu vier ausgewählten Mahn- und Erinnerungsorten, zu Stolpersteinen von ehemaligen Anwohnerinnen und Anwohnern in unserem Kiez.

Gedenk-Spaziergang am 5. Mai Dr. Maja Lasic

Zu Beginn begrüßte Dr. Maja Lasic (Mitglied des Abgeordnetenhauses) die Anwesenden. Sie erinnerte daran, dass laut „mapping the lives in den dreißiger Jahren fast 300 jüdische Mitbürger*innen in der Kurfürstenstraße lebten und, dass wir ebenso aber auch erinnern wollen, dass hier auch die Täter wohnten und arbeiteten.

Auf dem Mittelstreifen der Kurfürstenstraße 115/116 steht eine Stele, eine Kopie der Gradiva (Die Vorschreitende).

Bettina Schulze, Schriftführerin der Abteilung Tiergarten Süd, trug einen Text vor, der aus verschiedenen Quellen zusammentragen war und erinnerte damit daran, dass wir hier dem Ort gegenüber stehen an dem ‚das Haus des Jüdischen Brüdervereins für gegenseitige Unterstützung‘ einst gestanden hat. 1940 missbrauchte Adolf Eichmann das Haus des Brüdervereines als Deportationszentrale für Juden.

Bettina Schulze vor der Gradiva

Die vielfache Besetzung des Ortes durch die Figur der Gradiva als Novelle, als psychoanalytische Übertragungsfigur, die allen Psychoanalytikern weltweit bekannt ist, als Gegengestalt Eichmanns und seiner nationalsozialistischen Verbrechen wird damit zu einem Ort, der an die gemeinsame psychoanalytische Kultur erinnert – aber nicht ohne die zerstörerische NS-Vergangenheit auszublenden. Damit wird der Ort zu einem dialogischen Angebot, der zum Erinnern und Nachdenken einlädt.

Gedenk-Spaziergang am 5. Mai, Mahnort für Eichmanns „Judenreferat“

Weiter ging es zurück auf die gegenüberliegende Seite zur Bushaltestelle Schillstraße in der Kurfürstenstraße 116 (am ehemaligen Sylter Hof) zu dem Mahnort für Eichmanns „Judenreferat“, 1988 gestaltet von dem Künstler Ronnie Goltz.

Paul Völsch mit einer Teilnehmerin vom Gedenk-Spaziergang am Mahnort

Eichmann und seine Mitarbeiter*innen organisierten von der Kurfürstenstraße aus die Vertreibung und Deportation von Millionen europäischer Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Sie waren alles andere als Mitläufer – sie waren gemeine Mörder führte Paul Völsch (Stellvertretender Vorsitzender der Abteilung Tiergarten Süd) aus. Er verwies auch auf die Protokolle der Wannseekonferenz vom 20.1.1942.

Hier erstellte er (Eichmann) die Redevorlagen für den Vortrag des Hauptverantwortlichen des Holocausts, Reinhard Heydrich (Chef des Reichssicherheitshauptamtes), zur „Endlösung der Judenfrage“, für deren Protokoll er ebenfalls verantwortlich war. Hier wurden die Statistiken „zur Judenfrage in Europa“ erstellt, die zur Grundlage des Tötungsprogramms für Millionen Juden wurden. Eichmanns Wannsee-Protokoll vermerkt auf Seite 6: „Anstelle der Auswanderung ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten und im Zuge dieser Endlösung der europäischen Judenfrage kommen rund 11 Millionen Juden in Betracht“.

Die zwei Stolpersteine für Georg Blumenfeld ein in Berlin geborener jüdischer Privatbankier, der mit seiner Frau Lucia Margarete von der Schlüterstraße in Charlottenburg 1926 in die Villa in die Kurfürstenstraße 58 einzog liegen vor der Villa (Café Einstein), der nächsten Station des Gedenk-Spaziergangs. Hannah Elten, Stellvertreterin der Europaabgeordneten(-Kandidatin) Gabi Bischoff, sprach über die Bankiersfamilie.

Hannah Elten vor dem Haus Kurfürstenstraße 58

Was die Familie Blumenfeld nach 1933 erlebte, erzählt die Geschichte Tausender: die nicht enden wollenden, dezentralen umfassenden antijüdischen Ausschreitungen und die sukzessive pseudolegale Ausgrenzung und Stigmatisierung des jüdischen Bevölkerungsteiles durch die Reichsregierung sowie durch das Umfeld. Für die Bankiersfamilie kam es bereits in den ersten beiden Jahren nach der Machtergreifung zu einschneidenden Rückgängen im Geschäft. Die Benennung einer jüdischen Bankadresse war für Privatkunden und Firmen nicht mehr opportun.

Georg Blumenfeld hatte wie viele andere Berliner Juden den Ersten Weltkrieg in patriotischer Begeisterung erlebt und mit Kriegsanleihen deutsche Heeresaufträge finanziert.
1938 erfolgte die Liquidation der Bank G. Blumenfeld & Co. Georg Blumenfeld entschied sich am 21. Juni 1939, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, für den Freitod mittels Einnahme von Gift.

Die Stolpersteine für Luise Wolf(f) und ihre jüngere Schwester Julie Wolfthorn, sind heute vor dem Parkplatz von Getränke Hofmann in der Kurfürstenstraße 50 zu finden. Ihr Wohnhaus, in dem sie fast 40 Jahre gemeinsam wohnten, stand einst an dieser Stelle.

Manuela Buyny bei den Stolpersteinen für Luise Wolf und Julie Wolfthorn

Luise Wolf  trat viele Jahre lang besonders mit Übersetzungen literarischer, wissenschaftlicher und kulturhistorischer Werke aus mehreren Sprachen hervor: aus den skandinavischen Sprachen, dem Französischen und Englischen.

Julie Wolfthorn: Nachdem sie wegen ihrer jüdischen Herkunft aus Berufsverbänden ausgeschlossen worden oder selber ausgetreten war, konnte und durfte sie nur noch innerhalb des Jüdischen Kulturbundes arbeiten und ausstellen. Auch hier hatte sie noch große Erfolge und gewann künstlerische Wettbewerbe.

Gemeinsam mit ihrer Schwester Luise Wolf wurde sie am 28. Oktober 1942 aus Berlin nach Theresienstadt deportiert. Dort starb ihre Schwester Luise Wolf kurz nach ihrer Ankunft. Julie Wolfthorn arbeitete bis zu ihrem Lebensende weiter, auch noch in Theresienstadt. Sie überlebte noch mehr als zwei Jahre, sie starb im Dezember 1944.

Der Vortrag den Manuela Buyny, stellverstretende Vorsitzende der Abteilung Tiergarten Süd, gehalten hat.

Der nächste Stolperstein war ein Erinnerungsort für Dr. Arthur Simon, der ab 1923 als außerordentlicher Professor an der Humboldt-Universität tätig war und dem auf Grundlage des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums 1933 die Lehrbefugnis entzogen und die Stellung an der Charité gekündigt wurde, der in der Kurfürstenstraße 50 nicht nur wohnte, sondern der dort auch eine kleine Praxis unterhielt, in der er danach allerdings nur noch jüdische Mitbürger*innen behandeln durfte, davon erzählte Adda Schmidt-Ehry, Beisitzerin der Abteilung Tiergarten Süd.

Im September 1942 wurde Arthur Simons verhaftet, am 26. September mit einem Deportationszug in das besetzte Estland deportiert und bei Raasiku ermordet. (Copilot/Wikipedia)

Auch von der Lebensgeschichte Erich Hirschwehs sprach Adda Schmidt-Ehry. Erich Hirschweh war Kaufmann und heiratete die Katholikin Margarethe Edel, sie hatten ein Kind, Peter. Als Mitglieder der reformierten Jüdischen Gemeinde in Berlin musste die Familie 1937 ihre Wohnung im Hansa-Viertel aufgeben. Sie fand bei Julie Wolfthorn Zuflucht. Um den Sohn zu schützen, sahen die Eltern 1940 nur die Möglichkeit einer formalen Scheidung – so führte Peter Edel fortan nicht mehr den Nachnamen Hirschweh, sondern den Geburtsnamen der Mutter. Peter Edel überlebte den Holocaust in mehreren Konzentrationslagern – er gehörte zu den Gefangenen, die in der Operation Bernhard zur Fälschung von englischen Pfundnoten gezwungen waren – und wurde später ein bekannter Schriftsteller, Grafiker, Drehbuchautor und Fotograf.

Adda Schmidt-Ehry am Stolperstein für Erich Hirschweh

Erich Hirschweh teilte das Schicksal vieler Jüdischer Mitbürger und Mitbürgerinnen. Der Kaufmann Erich Hirschweh wurde am 14.8.1942 mit dem 44. Alterstransport nach Theresienstadt und im Oktober 1944 von dort nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. (Aus Bürgerverein Luisenstadt e. V., Stolpersteine Berlin und Peter Edel Archiv)

Ecke Potsdamerstraße 122/Kurfürstenstraße (vor dem Kaufhaus Woolworth) prodozierte und vertrieb die Fabrik Kopp und Joseph als Marktführer für Drogerieprodukte Parfüme, Cremes, Verbandstoffe, Bade- und Schönheitsprodukte – darunter den erfolgreichen Nagelpolier-Stein „Stein der Weisen“.

1911 wurde im Haupthaus an der Ecke Potsdamer/Kurfürstenstraße die vierte Ausstellung der „Neuen Secession“ eröffnet, die von zentraler Bedeutung für die Entwicklung des Expressionismus war.

Als Adolf Hitler 1933 zum reichsweiten „Judenboykott“ aufrief, wurden Listen der Geschäfte mit jüdischen Betreibern verbreitet. SA-Männer marschierten als „Boykottposten“ auf. Plakate mit judenfeindlichen Sprüchen wurden an die Schaufenster geklebt und Parolen geschmiert. Eigentürmer und Mitarbeiter wurden beschimpft und mit offener Gewalt bedroht. Im Herbst 1938 hatte sie nur noch 13 Angestellte, davon fünf Juden. In der „Reichspogromnacht“ im November 1938 wurden die Geschäftsräume geplündert, verwüstet und endgültig zerstört. Kurt Josef wurde verhaftet und ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Nach seiner Entlassung musste Kurt Josef sein Unternehmen „weit unter Preis“ verkaufen. Er emigrierte nach Großbritannien. Seine Frau und zwei Kinder wurden nach Auschwitz deportiert und ermordet. Die Informationen wurden von Sarah Hegazy, Kreisvorsitzende der Jusos Berlin Mitte, vorgetragen.

Sarah Hegazy an der Ecke Potsdamer Straße/Kurfürstenstraße

Die letzte Station des Gedenk-Spaziergangs war das „Dreiländereck Schönberg/Tiergarten/Friedrichshain-Kreuzberg“. Zwischen Nelli-Sachs-Park und dem Eingang zum Gleisdreieck-Park befand sich von 1890 bis 1976 in der Dennewitzstraße 35 die Firma KORI GmbH eine Berliner Ofenbaufirma. Dieser Ort ist noch kein Mahnort.

Kori stellte mobile Verbrennungsöfen für das Euthanasie-Programm T4 und Leichenverbrennungsöfen für die Konzentrationslager her.

Nach dem Tod des Firmengründers nahm der Gesellschafter und Geschäftsführer Hugo Heßler Kontakt zur SS auf. Er selbst war seit 1933 NSDAP-Mitglied. Der Kontakt zur SS kam möglicherweise durch einen Neffen des Gründers, Georg Kori, zustande, der seit 1933 Mitglied und seit 1937 Scharführer der SS war.

Von der Firmen-Zentrale in der Dennewitzstraße wurde die Belieferung der SS für die Konzentrationslager mit den für den Massenmord benötigten Verbrennungsöfen gegen „gute Reichsmark“ betrieben. Die erste Bestellung ging im Dezember 1939 ein. Ein Ofen kostete 3200 Reichsmark.

Zunächst stellte Kori mobile Verbrennungsöfen für das Euthanasie-Programm T4 her. Später wurden diese fest installiert oder Kori errichtete vor Ort in den Lagern gleich ortsfeste Verbrennungsöfen – in 18 Konzentrations- und Vernichtungslagern.

Dr. Bergis Schmidt-Ehry zwischen Nelly-Sachs-Park und Gleisdreieck-Park

Nach 1945 arbeitete die Firma ungeachtet der Beteiligung am Holocaust unbehelligt weiter. Unter anderem im Geschäftsfeld „Verbrennungsöfen für Abfälle aller Art, Müllschluckanlagen, Feuerungsanlagen“. Diese ungeheuren Verbrechen schilderte Dr. Bergis Schmidt-Ehry, Organisator der Gedenkveranstaltung.

Dr. Schmidt-Ehry führte weiter aus, dass „in der Gedenktafelkommission des Bezirks Tempelhof-Schöneberg am 19.04.2023. waren sich alle Beteiligten einig, dass nicht nur Information vor Ort wichtig ist, sondern auch ein mahnendes Zeichen benötigt wird. Der Ort soll als „Täterort“ markiert werden. Ein Gestaltungswettbewerb wird stattfinden. Da dies aber noch Jahre dauern wird, soll eine Interimslösung mit einer Informationstafel umgesetzt werden. In den nächsten Jahren soll am Eingang Kurfürstenstraße in den Westpark des Gleisdreiecks über die Firma KORI informiert werden, die von der Dennewitzstraße 35 aus Leichenverbrennungsanlagen für den industriellen Massenmord in zahlreichen Konzentrationslagern und Tötungsanstalten geplant und geliefert hat.“

Text: E. Kitzelmann/B. Schmidt-Ehry Fotos eki

Die Erinnerung an die Opfer der Nazi-Verbrechen wachhalten, damit es kein Vergessen gibt.

Jüdische Gewerbebetriebe (1): Hermann Heymann Hutfabrik (Teil 1)

Aufmerksame Leser werden sich erinnern, dass wir einen Artikel zur „Hermann Heymann Hutfabrik“ in mittendran schon einmal hatten, danach auch im Blog „Jüdisches Leben und Widerstand im Tiergarten“: Im Dezember 2022 und im Januar 2023 hatte Bethan Griffiths im Rahmen einer Serie von drei Artikeln zu „Jüdisches Gewerbe rund um die Potsdamer Straße“ über die Arisierung der Firmen Hermann Heymann HutfabrikA. Blumenreich GmbH und die Ultrazell GmbH und die entsprechenden Wiedergutmachungsverfahren nach dem 2. Weltkrieg berichtet. Diese Leser werden aber auch festgestellt haben, dass in diesen Berichten die Familien selbst und deren Herkunftsgeschichten eher kurz geschildert worden waren – das war der Autorin in der Kürze der Zeit nicht möglich gewesen. Dies soll in den nächsten Wochen für die jüdischen Familien hinter diesen drei Firmen nachgeholt werden. Heute also für die Hutfabrik Hermann Heymann und deren Inhaber Theodor Heymann (Bild 1).

Bild 1. Anzeige im HRA 1931

Rogasen, Kreis Obornik, Provinz Posen

Die Herkunft der Familie Heymann bleibt trotz intensiven Suchens weitgehend im Dunkel, aus vielerlei Gründen: Heymann (manchmal Heimann geschrieben) ist ein nicht seltener Name, auch unter Juden, und der sehr gebräuchliche Vorname Hermann macht die Suche nicht leichter. Aus der Sterbeurkunde des Herrmann Heymann wissen wir, dass er in Rogasen (nach 1815 der preußischen Provinz Posen; heute: Rogoszno, Polen) geboren wurde (s. unten), und dass auch seine Frau aus diesem kleinen Ort 30 km nördlich der Stadt Posen stammte. Aber das hilft nicht viel weiter, weil komplette Einwohnerlisten fehlen, nicht zuletzt durch schwere Stadtbrände im Jahr 1794 (1), bei denen Dokumente vernichtet worden sind. Selbst ausgewiesene jüdische Genealogen wie Jacob Jacobson (2) und David Luft (3) haben sich mit diesen Schwierigkeiten abgemüht. Wir beginnen also die Familiengeschichte der Heymanns mit der Geburt von Herrmann am 8. Oktober 1858 – zu diesem Zeitpunkt und noch für viele Jahre später wird sein Vorname mit doppeltem „r“ geschrieben, eine von ihm selbst später veranlasste Korrektur auf die gebräuchliche (und korrekte) Schreibweise mit einem „r“ werden wir von hier ab übernehmen.

Wenn ein wenige Jahre später (1863) ebenfalls in Rogasen geborenen Gustav Heymann (verstorben 1905) der Bruder von Hermann Heymann gewesen wäre, wüssten wir auch noch die Namen seiner Eltern: Kaufmann Josef Heymann (verstorben vor 1884) und seine Frau Karoline, geborenen Krause (1834-1917), aber das ist nicht gesichert, sondern Spekulation, hervorgerufen durch die drei doch sehr traditionellen deutschen Vornamen. Aber Hermann Heymann könnte auch der Bruder von Abraham Heymann gewesen sein, der am 22. Dezember 1861 in Rogasen geboren wurde und der um 1905 in Berlin starb – dann wäre die gemeinsamen Eltern David Heymann und seine Frau Rosalie, geborene Silberstein gewesen. Leider haben wir keinerlei Informationen, dies zu entscheiden. In Berlin zu suchen, macht demgegenüber wenig Sinn: 1890 gab es in Berlin allein 40 Kaufleute mit den Nachnamen Heymann – ohne die Variante Heimann -, Vornamen wurden meist abgekürzt, und die Schreibweise des Nachnamens war nicht verbindlich, da auch Hermann Heymann gelegentlich Hermann Heimann geschrieben wurde.

Hermann Heymann muss spätestens zu der Zeit, als er volljährig wurde, also um 1882 Rogasen in Richtung Berlin verlassen haben – vielleicht war seine Familie auch schon vorher aus der preußischen Provinz Posen nach Brandenburg gezogen, einem allgemeinen Trend folgend. 

Die Situation der Juden in Posen

Denn obwohl um 1840 nahezu 40% der Rogasener Gesamtbevölkerung jüdischen Ursprungs war, d.h. es etwa 1500 jüdische (erwachsene) Einwohner gab, hatten nur 55 Personen in den Jahren 1834 und 1835, als Preußen den Juden die rechtliche Gleichstellung versprach, auch ein Naturalisierungspatent erhalten (4), und darunter war kein Mitglied einer Familie Heymann – die anderen blieben bestenfalls geduldete Juden. Das gleiche galt auch für andere Gemeinden im Regierungsbezirk Posen: Nur 7 bis 10% der jüdischen Einwohner wurden naturalisiert (5).

Hinzu kam, dass Juden von der mehrheitlich polnischen, katholischen Bevölkerung nicht nur gemieden wurden, sondern – wie die preußischen Besatzer selbst – zum Teufel gewünscht wurden. Davon zeugen Zeitungsberichte wie der folgende im Landboten von 1848: „In dem Landstädtchen Rogasen in der Provinz Posen ist es am 7. April zu einem Aufstand gekommen. Die Polen durchzogen mit Sensen, Heugabeln und Feuerhaken bewaffnet die Stadt und drohten, die Deutschen und Juden niederzumetzeln, sie legten sogar Feuer an. Den vereinten Kräften der Bürgerschaft gelang es jedoch, die Meuterer zu Paaren zu treiben“ (6) (Bild 2). Und auch wenn die Vertreibung (noch) verhindert werden konnte, so war auch die rechtliche Gleichstellung der Juden ein hohles Versprechen der Preußen, dass in Kriegs- und Kriegszeiten (1848, 1864, 1866, 1870, 1914) gern wiederholt, aber danach auch schnell wieder vergessen wurde: „Die Juden in der Provinz Posen … wissen, daß die ihnen von den Polen vorgeworfene Undankbarkeit eine Legende ist, sie wissen aber auch, daß die Begeisterung ihrer deutschen Behörden für die Gleichberechtigung der Religionen nur in den Zeiten der Not zu Tage trat, und daß sie alle Rechte, die sie in Wirklichkeit errungen haben, ihrer eigenen zähen Arbeit verdanken“  (7). So kam es, dass die große Auswanderung aus dem Großherzogtum Posen bereits mit der versprochenen Gleichstellung um 1840 begann und nach der Reichsgründung 1871 seinen Höhepunkt fand. Lebten 1858 noch 1500 Juden in Rogasen, waren es 1887 noch 1318, 1895 noch 834, 1905 nur noch 666 und 1913 noch 516 Personen, d.h. 9% der Bevölkerung. Diese massenhafte Auswanderung betraf nicht nur Rogasen, sondern nahezu alle Gemeinden in Posen (7), denn davon versprachen sich die Juden bessere Chancen für Beruf und Leben, sei es in Berlin, in Brandenburg oder im europäischen und überseeischen Ausland.

Bild 2. Artikel aus Der Landbote (5)

Familiengründung

Wir wissen daher nicht, wann und wo Hermann Heymann seine Frau Reisal (Rosalie), geborene Rummelsburg getroffen und geheiratet hat, möglicherweise noch in Rogasen – sie war ebenfalls dort geboren worden, um 1861, und war daher volljährig nach 1885. In den Namenslisten der Juden in Posen taucht der Name Rummelsburg überhaupt nicht auf, daher ist es möglich, dass dieser Nachname erst mit dem Umzug nach Brandenburg angenommen wurde – alternativ kann die Familie allerdings auch aus der Stadt oder dem Landkreis Rummelsburg in Pommern (heute: Miastko, Polen) stammen, einer Kleinstadt 250 km östlich von Stettin von etwa 4000 Einwohner (um 1850), von denen 3% jüdischen Glaubens waren.

Zu dieser Zeit (ab 1890) gab es in Berlin nur eine Familie Rummelsburg, ein Kaufmann Siegfried Rummelsburg in der Alexanderstraße 37a, Mitinhaber der Firma Gottheim & Co., die er später allein weiterführte. Nach 1893 findet sich außerdem ein Moses Rummelsburg im Osten von Berlin (Blankenfelderstraße 6), der Miteigner des Herrengarderobegeschäftes Salomon Kurzweg & Co. (Inhaber: Leopold Kurzweg, Königstraße 30). Er war möglicherweise ein Sohn des Siegfried Rummelsburg; Rosalie Rummelsburg könnte seine Schwester gewesen sein.

Hermann Heymann und seine Frau Rosalie wohnten 1890 bis 1893 zunächst in der Schlegelstraße 27 in der Oranienburger Vorstadt, bevor sie (ab 1893) an die Potsdamer Straße 61 zogen. Sie bekamen zwischen 1891 und 1898 fünf Kinder: 

– Alfred, geboren am 11. Dezember 1891. Er starb im ersten Weltkrieg am 5. Oktober 1915 (im Grenadier-Regiment No. 12) (8) (Bild 3).

– David, geboren am 24. Januar 1893, verstarb wenige Tage später (2. Februar 93).

– Frieda Flora, geboren am 29. November 1893. Sie heiratete 1921 Isidor Isaak Barkowsky, der, wie sie und ihre beiden Kinder, Margot Lilly (* 2. März 1922) und Alfred (* 14. März 1924), 1942 deportiert und in Auschwitz am 27. Februar 1943 ermordet wurde.

– Helene, geboren 18. Februar 1896. Sie heiratete 1922 Julius Barkowsky, den Schwager ihrer Schwester Frieda, und hatte mit ihm einen Sohn Adolf (* 20. Dezember 1923). Helene, ihr Sohn Adolf und ihr Ehemann Julius wurden 1941 deportiert und starben im Konzentrationslager Kauen in Kaunas (Litauen) am 25.11.1941.

– Theodor David schließlich wurde am 30. April 1898 geboren. Er übernahm nach dem Tod des Vaters 1928 das Hutgeschäft in der Potsdamer Straße 61.

Bild 3. Traueranzeige für Alfred Heymann (aus: (8))

Firmengründung

Das Haus Nummer 61 in der Potsdamer Straße (heute: Nr. 146, zwischen Bülow- und Winterfeldstraße) war 1890 neu gebaut worden (es gab schon vorher ein Mietshaus, nur kleiner) und gehörte ab 1892 einem königlichen Kammerherrn und Zeremonienmeister Werner Hesse Edler von Hessenthal (1845-1914), der in der Villa Genthinerstraße 13D (heute: 30D, im sogenannten Begaswinkel) wohnte. Nach 1894 war der Fabrikant (Hutfabrikant) Heimann (später Heymann) hier nachweisbar, auch wenn er seine Firma erst am 8. Januar 1908 in das Handelsregister hat eintragen lassen (9): HR A 31717: Der Gewerbebetrieb ist eine „Schirm- und Huthandlung“ mit einem jährlichen Einkommen und Umsatz oberhalb eines Kleingewerbes. Anlässlich der Registrierung musste Heymann einen Fragebogen (Bild 4) ausfüllen, der weitere Informationen über sein Gewerbe hergibt: Jährlicher Umsatz ca. 47.000 RM, Betriebskapital ca. 15.000 RM, Betriebsertrag 3.000 RM, Mietbedarf 4.700 RM für 2 Läden (1 großer, 1 kleiner), 2 Verkaufsräume, Kreditbelastung 9.000 bis 10.000 RM, ca. 20 Lieferanten. Auf der Basis dieser Daten wurde der Betrieb der Steuerklasse III zugeordnet und musste 72 RM an Steuern im Jahr zu zahlen. Auch wenn Heymann das Formular zur Eintragung seiner Firma mit „Herrmann Heymann“ unterzeichnete, wurde die Firma als „Hermann Heymann Hutfabrik“ auch für die amtlichen Eintragungen in den Zeitungen registriert.

Bild 4. Fragebogen zur Gewerbe des Hermann Heymann (aus: (9)).

Rosalie Heymann geborene Rummelsburg starb am 18. März 1926 in ihrem Heim in der Potsdamer Straße 61 – sie wurde 65 Jahre alt. Ihre beiden Töchter waren zu diesem Zeitpunkt verheiratet und lebten in zuletzt Berlin-Wedding (Reinickendorfer Straße 77), Sohn Theodor wohnte bei seinen Eltern. Ein Jahr nach dem Tod seiner Ehefrau, am 21. März 1927 heiratete Herrmann Heymann erneut: Betty Winterfeld, geboren am 1. Januar 1896 in Lauenburg (Pommern).

Am 1. Oktober 1926 wurde Sohn Theodor Heymann Mitinhaber und persönlich haftender Gesellschafter der Firma Hermann Heymann Hutfabrik (10) (Bild 5). Am 3. November 1927, ein Jahr vor seinem Tod, schloss Hermann Heymann einen Erbvertrag (9), in dem er die Übernahme der Firma „Hermann Heymann Hutfabrik“ an seine Erben im Falle seines Todes regelte: Den gesamten Haushalt erbe seine Ehefrau, das Geschäft solle seinem Sohn Theodor und seiner Ehefrau je zur Hälfte zufallen, seine Ehefrau und seine drei Kinder sollen den übrigen Nachlass zu je einem Viertel erhalten. Falls seine Ehefrau sich wieder verheirate, solle sein Sohn sie auszahlen, ebenso, falls sie entscheide, aus dem Geschäft auszusteigen. Falls seine Töchter die Regelung anfechten, sollen sie unter Anrechnung der erhaltenen Aussteuer auf den gesetzlichen Pflichtteil gesetzt werden. Der Wert des Nachlasses wurde auf 10.000 Mark geschätzt.

Bild 5. Anzeigen im Reichsanzeiger (10) und in der Handeslregister-Akte (9).

Hermann Heymann starb am 29. April 1928 in seiner Wohnung in der Potsdamer Straße 61. Das Testament (Erbvertrag) wurde am 15. Mai 1928 im Beisein aller Erben sowie der Ehemänner der beiden Töchter eröffnet (9). Danach übertrugen die Ehefrau und die beiden Töchter des Heymann ihren Erbteil an Theodor, der sich seinerseits verpflichtet, seiner Stiefmutter 10.000 Mark und seinen beiden Schwestern je 4000 Mark auszuzahlen mit Stundung und Verzinsung bis 1931.

Im Testamentseröffnungsprotokoll 1928 werden zwei Geschäftsräume (Läden) erwähnt, die Hermann Heymann auch in seinem Anmeldeformular von 1908 notiert hatte. Im Jahr 1928 handelte es sich um die Potsdamer Straße 61 einerseits, um die Frankfurter Allee 70 andererseits: hier hatte Theodor Heymann 1927 ein eigenes Geschäftslokal mit Herrenartikeln eröffnet, das noch 1928 bestand, danach jedoch nicht mehr. Ob auch sein Vater Hermann Heymann in den Jahren vor seinem Tod ein zweites Geschäftslokal unter seinem Namen an anderer Stelle in Berlin betrieb, erschließt sich aus den Unterlagen nicht.

Mit dem Tod des Vaters schied dieser aus der Firma aus und wurde gelöscht, und Theodor Heymann wurde als alleiniger Inhaber eingetragen; der Name der Firma „Hermann Heymann Hutfabrik“ blieb jedoch zunächst bestehen. Erst im April 1938 wurde die Firma umbenannt in „Theodor Heymann Herrenartikel“ (10) (s. Bild 5); zu diesem Zeitpunkt war die Nummerierung der Potsdamer Straße geändert worden, die Nr. 61 war jetzt die Nr. 146. 

Im zweiten Teil der Geschichte werden wir uns mit dem Verbleib der Firma unter der nationalsozialistischen Herrschaft beschäftigen, der Flucht Heymanns nach Shanghai 1939, der Auswanderung in die USA 1947, und dem Wiedergutmachungsprozeß nach dem Krieg. 

Literatur

1. https://jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/p-r/1679-rogasen-posen

2. Jacob Jacobson. Zur Geschichte der Juden in Rogasen. Unveröffentlichtes Manuskript von 1935, einsehbar im Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Signatur: II. HA GD, Abt. 10, VI Nr. 2680.

3. Edvard David Luft. The naturalized Jews of the Grand Duchy of Posen in 1834 and 1835. Scholars Press, Atlanta, Georgia 1987.

4. Edvard David Luft. The Jews of Posen Province in the Nineteenth Century. A Selective Source Book, Research Guide, and Supplement to The Naturalized Jews of the Grand Duchy of Posen in 1834 and 1835. Washington 2015, einsehbar im Archiv des Leo-Baeck-Instituts, New York. 

5. Sophia Kemlein. Die Posener Juden 1815 – 1848. Entwicklungsprozesse einer polnischen Judenheit unter preußischer Herrschaft. Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 1997.

6. Der Landbote. Ein Blatt zur Belehrung und Unterhaltung. Nr. 33 von Donnerstag, den 23. April 1846, Seite 1.

7. Bernhard Breslauer. Die Abwanderung der Juden aus der Provinz Posen. Denkschrift im Auftrag des Verbandes der Deutschen Juden. Druck Berthold Levy, Berlin 1909.

8. Berliner Tagblatt und Handelszeitung vom 28. Oktober 1915, Seite 14.

9. Akte im Landesarchiv Berlin (LAB): Handelsregister A. Herrmann Heymann Hutfabrik, Akte Nr. A Rep. 342-02 Nr. 35400 (Amtsgericht Charlottenburg HRA 94940)

10. Deutscher Reichsanzeiger, 31. März 1927, Seite 34 und 19. April 1938, Seite 1. 

Denk Mal Am Ort in Berlin am 4. und 5. Mai 2024

Kennen Sie die Geschichte Ihres Hauses?

27 Erinnerungen an in der NS-Zeit verfolgte Berliner:innen

Ausstellungen, Erzählungen, Vorträge, Gedenkspaziergänge, Rundgänge, Lesungen, eine Performance, akustische Stolpersteine sowie zwei
Zeitzeug:innengespräche:
Am Samstag, den 4. und Sonntag, den 5.5.2024 gedenken engagierte Bewohnerinnen Berlins im Rahmen der Initiative „Denk Mal Am Ort“ durch 27 Veranstaltungen an den einstigen Wohn- und Wirkungsstätten Berlinerinnen, die während der NS-Zeit verfolgt wurden oder Widerstand leisteten.
14 Nachkommen reisen aus Amerika, Großbritannien, Argentinien, Spanien, den Niederlanden, Frankreich und Israel an. Der Eintritt ist frei.

Sylvia Paskin kommt aus London nach Berlin, um am Samstag um 17 Uhr in Berlin-Charlottenburg vor deren letzten Wohnung in der Wielandstraße 30 an ihre Großmutter Lily Knips zu erinnern. Liliy Knips Geschichte hört sich an wie aus einem Krimi: Aus Angst vor den Nationalsozialisten sendete sie ihren Sohn Lothar, Sylvia Paskins Vater, 1933 nach London. Ihr selbst gelang keine Ausreise. Dann traf sie Josef Jakobs, einen weit jüngeren „arischen“ Mann, der gefälschte Pässe verkaufte und verliebte sich. Mit einem seiner Pässe flüchtete Lily nach London.
Josef Jakobs wurde erwischt und kam ins KZ. Unter der Auflage für die Nazis zu spionieren, landete er per Fallschirmsprung in England, in der Tasche Lilys Adresse. Um 17 Uhr erzählt die 96-jährige Ruth Winkelmann in der Turnhalle ihrer einstigen Schule in der Auguststraße im Restaurant House of Small Wonder von ihrem Überleben. Michaela Maria Müller liest Passagen aus Winkelmanns Buch „Plötzlich hieß ich Sara“. Die 96-jährige erzählt und beantwortet Fragen.

Am Sonntag erzählt Frauengeschichtsforscherin Sabine Krusen um 11 Uhr die Geschichte des Gartenhaus in der Brunnenstraße 41. Minna Schwarz ließ das Gartenhaus 1913 als Mütter- und Säuglingsheim errichten. Damals befanden sich hier bereits verschiedene Wohlfahrtseinrichtungen des jüdischen Frauenvereins der Berliner Logen U.O.B.B. Mit Beginn der NS-Herrschaft mussten sie schließen. Bis auf ein Altenheim, das schließlich als Deportationssammellager missbraucht wurde.

Krusen hat die Geschichte des Ortes und der Menschen, die hier arbeiteten oder wohnten über 30 Jahre erforscht. In der Käthe-Niederkirchner-Straße 35 erinnert eine stumme Klingeltafel an 83 jüdische Menschen, die hier lebten. Einer von ihnen war Georg Jacobsohn – als Schauspieler unter dem Künstlernamen Georg John bekannt. Der heutige Hausbewohner Simon Lütgemeyer einnert um 12 Uhr durch Filmbeispiele und Recherchen an den Charakterdarsteller, der den deutschen Film zwischen 1916 und 1933 durch Nebenrollen prägte, ehe er vom Kulturbetrieb ausgeschlossen und ins Ghetto Litzmannstadt (Łódź) deportiert wurde.

Um 14 Uhr erinnert das „Netzwerk Ottilie Pohl“ in Moabit bei einem historischen Spaziergang mit Lesung und Gespräch an die kommunistische und jüdische Widerstandskämpferin Ottilie Pohl.

Ebenso um 14 Uhr wird in Berlin-Schöneberg in der Kirche zum Heilsbronn die radikale und vielfältige Stimme der Dichterin Gertrud Kolmar durch eine Performance der Schauspielerin Lisa Schell erfahrbar.
Kolmar gilt als eine der bedeutendsten jüdischen Dichterinnen. Doch der Großteil ihres Werks wurde posthum publiziert. Die Cousine Walter Benjamins musste Zwangsarbeit leisten und wurde 1943 nach Auschwitz deportiert. Davor war es ihr gerade noch gelungen, ihre Manuskripte in die Schweiz zu schicken.

https://www.denkmalamort.de/deutsch/berlin-4-5-mai-2024/

www.denkmalamort.de

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 10

Mit der Zusammenfassung der Wiedergutmachungsverfahren der Fürstenberg-Söhne nach dem 2. Weltkrieg wollen wir die Geschichte der Familie beenden. Dabei stellt sich – nicht nur für die Nachkommen von Sally Fürstenberg – die Frage, ob mit den prozessualen Ergebnissen eigentlich eine Wiedergutmachung erlittenen Unrechts erreicht wurde, oder ob die finanzielle Kompensation nur dieses Unrecht verschleierte; dann wäre, wie wir oben (Teil 8) diskutiert haben, der Begriff der Restitution (der Wiederherstellung des finanziellen Status quo ante), der angemessenere Begriff. Zu unserer Überraschung hatte diese Diskussion bereits in den 1950er Jahre eingesetzt und war ihm allzeit immanent. Dazu im Folgenden ein längerer Textausschnitt von 1990 (58).

„Der unselige Begriff ´Wiedergutmachung`

In den Gründerjahren der Bundesrepublik haben gerade solche Politiker den Wiedergutmachungsbegriff hochgeschätzt, die klarer als andere erkannten, dass die Deutschen sehr viel zu ersetzen, zu bezahlen und zu sühnen hatten. Adolf Arndt oder Carlo Schmid, Franz Böhm oder Theodor Heuss sahen in diesem Sprachgebrauch ein Zeichen der Anerkennung von Schuld und Verbrechen und einen moralischen Appell, um die Selbstbezogenheit und Teilnahmslosigkeit des überwiegenden Teils der deutschen Bevölkerung zu überwinden. Dabei schwang die Idee einer deutschen Selbstreinigung mit, die Bundespräsident Heuss auf die Formel brachte: Es gelte nicht zuletzt, „sich selber wieder gut zu machen“. 

Ein Streiter für die Sache der Verfolgten, der Unionsabgeordnete Franz Böhm, erläuterte 1954 die zeitgenössische Semantik so: ´Wen die Grausamkeiten der Hitlerzeit damals, als sie verübt wurden, entsetzten, wer mit den Opfern fühlte, wer, wenn er konnte, zu helfen suchte, dem ist heute die Wiedergutmachung Herzenssache. Wer aber damals mit Hitler sympathisierte, wer jeden, den die Gestapo abholte, für einen Feind, Übeltäter oder Schädling hielt oder wer sich auch nur beim Anblick all der Herzlosigkeit und Brutalität mit dem Satz tröstete: wo gehobelt wird, da fallen Späne, für den ist heute die Wiedergutmachung ein Ärgernis.`

In unserer Gegenwart verhält es sich gerade umgekehrt: Je stärker der Zivilisationsbruch von Auschwitz in das Zentrum deutscher Erinnerungskultur getreten ist, um so mehr ist der Wiedergutmachungsbegriff zum Ärgernis geworden. Vielen gilt er als ´unerträglich verharmlosend`. Die Abwehr ist verständlich, auch deshalb, weil es immer problematisch ist, einem Diskursbegriff der Zeitgenossen die historiografische Deutungshoheit zu überlassen. Doch sollte man sich vor dem anachronistischen Fehlschluss hüten, den frühen Protagonisten der Wiedergutmachung sei es nur um eine Art Schadensabwicklung gegangen.

Wenn heute an diesem Begriff festgehalten wird, dann primär aus pragmatischen Gründen. Wie keine andere Sammelbezeichnung rückt er einen Gesamtkomplex in den Blick, der sich in fünf Felder unterteilen lässt. Es handelt sich, erstens, um die Rückerstattung von Vermögenswerten, die den NS-Verfolgten entzogen worden sind, und, zweitens, die Entschädigung für Eingriffe in die Lebenschancen wie den Verlust an Freiheit, Gesundheit, beruflichem Fortkommen. Zu den einschlägigen Gesetzen traten, drittens, Sonderregelungen auf verschiedenen Rechtsgebieten, insbesondere in der Sozialversicherung. Die juristische Rehabilitierung, viertens, stand vor der Aufgabe, Unrechtsurteile zu beseitigen – vor allem in der Strafjustiz, aber auch Unrechtsakte wie die Ausbürgerung oder die Aberkennung akademischer Grade sind zu bedenken. Diese vier Bereiche betrafen das innerdeutsche Recht. Aber die Verfolger haben Staatsgrenzen niedergerissen, Terror nach außen getragen und Millionen von Ausländern in das Deutsche Reich deportiert. Das Thema hat somit auch, fünftens, weite internationale Dimensionen, die den Hintergrund für eine Reihe von zwischenstaatlichen Abkommen bilden“ (58).

War die Wiedergutmachung der Fürstenbergs nur Schadensabwicklung oder mehr?

Versucht man, die verschiedenen Wiedergutmachungsprozesse der Familie Fürstenberg bezüglich ihrer Ergebnisse zusammenzufassen, so ergibt sich folgendes Bild:

1. Aus den beiden hier ausführlicher diskutierten Verfahren (Teil 8 und Teil 9) ergeben sich finanzielle Zahlungen an die Familie in der Größenordnung von 1.2 Millionen DM.

2. Von den übrigen Immobilien der Familie zum Zeitpunkt ihrer Vertreibung (1938) wurde die Lützowstraße 60 offenbar vor einer Enteignung im Frühjahr 1938 an das Finanzministerium (Abteilung Militär) verkauft. Nimmt man einen Bodenwert von 20-40€/qm an (59), kann man vermuten, dass das Grundstück nebst Wohnhaus zu diesem Zeitpunkt und mindestens zu diesem Preis verkauft wurde und dieses Geld den Fürstenbergs auch zur Verfügung stand – sonst hätten sie zu Recht dafür Wiedergutmachung verlangen können.

3. Die Immobilien Leipzigerstraße 72/73 und Niederwallstraße 13/14 lagen nach dem Krieg in Ost-Berlin, die DDR hat sich an der Wiedergutmachung nicht beteiligt – sie sahen sich nicht als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches. Für diese Immobilien wurde daher wohl kein Rückerstattungsanspruch erhoben.

4. Für die Immobilie Wassertorstraße 3 wurde am 6. Januar 1954 ein Rückerstattungsantrag von 1950 zurückgezogen (60), da das Grundstück zurückgegeben wurde. Laut Bauakten (61) war das Haus 1934 für 19.000 RM aus einer Versteigerung erstanden und hatte einen Verkehrswert von etwa 24.000 bis 26.000 RM. Es war nach dem Krieg noch nahezu vollständig bewohnbar, nur eine Werkstatt im Hof war vollständig zerstört.

5. Das gleiche galt für das Grundstück Lietzenburgerstraße 13, über das es keine Wiedergutmachungsakte gibt. Laut Räumungsakte von 1949 (62) war das Grundstück 1600qm groß und zu 26% beschädigt (nur Quergebäude, das Vorderhaus war bewohnt).

Wie hoch war der Grundwert, und wie verhielt sich dies zu den Werten um 1955?

Die Kaufkraft einer Reichsmark vor dem Krieg (1938) entspricht einer Kaufkraft von 4,7€ heute (63), aber das sagt uns wenig über den Wert der RM vor nunmehr 90 Jahren, 20 Jahre nach der Restitution, 1956, außer vielleicht einem etwa 10:1 Verhältnis von RM:DM. Dem entspricht aber sehr genau eine andere Kalkulation: Der VbK bewertete den Kaufpreis für Grund und Gebäude Lützowplatz 9 (370.000 RM) im Jahr 1956 mit 37.000 DM (37). 

Das vom Landgericht veranlasste Gutachten des Dipl.-Ing. Enderlein vom 23. Juli 1953 im Wiedergutmachungsprozess Fürstenberg gegen den VbK (59, Bl. 58-72) bezifferte den Bodenwert der etwa 1800qm, die der VbK 1938 erworben hatte, mit 58.000 RM, und das Gebäude mit 228.000 RM, zusammen also etwas mehr als die bezahlten 370.000 RM. Gegenüber dem Gebäudewert, der sich im Jahr 1953 durch die Zeit, aber auch durch das Ausmaß der Zerstörung 1943 gegenüber 1938 verringert hatte, war der Bodenwert praktisch gleichgeblieben und wurde im Gutachten mit 50.000 DM angenommen (59, Bl. 71).

Nehmen wir also der Einfachheit halber an, dass die beiden Grundstücke zu 4. und 5. im Jahr 1956 zusammen einen Grundwert von etwa 50.000 DM hatten, dann beläuft sich die Gesamtsumme der finanziellen Restitution für die Familie Fürstenberg auf etwa 1.25 Millionen DM im Jahr 1960, und dies entspricht etwa dem zehnfachen Wert (12,5 Mio. RM) im Jahr 1938.

Die Fürstenbergs (Sally, Paul und Sophie Fürstenberg) hatten im Rahmen ihrer Vermögenserklärungen 1938 (s. Teil 7) in der Größenordnung von ca. 7 Millionen RM angegeben, die im Ausland angelegten Vermögenswerte nicht mitgerechnet. Da auch das Vermögen von Fritz Fürstenberg und seiner Firma Reveillon in Amsterdam 1942 durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt wurde, und die Firma Reveillon in London durch deutsche V2-Bomben zerstört wurde (wofür es vor Ort keine Kompensation gegeben haben dürfte), lässt sich das Vermögen der Familie 1938 auf mindestens 10 Mio. RM schätzen und entspricht somit von der Kaufkraft ungefähr der Restitutionssumme von 1.25 Mio DM im Jahr 1960. 

Es muss an dieser Stelle aber daran erinnert werden, dass Vermögenden, insbesondere mit Immobilienbesitz, im Rahmen des Lastenausgleichs (1952) (64) ebenfalls erhebliche finanzielle Abstriche ihres Vermögens hinnehmen mussten, wenngleich gestreckt auf viele Jahre, wozu auch der Entzug von Vermögen und Immobilien im Machtbereich der DDR gehörte, den auch sehr viele haben hinnehmen müssen. Und „last but not least“: Hätten die Fürstenbergs nicht die finanziellen Möglichkeiten gehabt, wären sie, so makaber das klingt, vermutlich wie viele weniger vermögende Juden Opfer des NS-Terrors geworden und ermordet worden.

War die Lösung der Wiedergutmachungsprozesse also gerecht?

Da wir darauf keine befriedigende Antwort finden können, sollen am Schluss die Söhne von Sally Fürstenberg selbst zu Wort kommen. In einem Zeitungsartikel im „Tagesspiegel“ vom 17. März 1954 (65) (Bild 1) berichtet der Reporter (G.L.) über ein soeben stattgefundenes Treffen mit zwei der Gebrüder Fürstenberg – bei denen es sich möglicherweise um Fritz aus den Niederlanden und Ulrich aus Ägypten handelt, von denen wir aus anderen Quellen wissen, dass sie gelegentlich in Berlin bzw. auf der Frankfurter Messe waren. Sie hatten offenbar auf der Durchreise in Berlin Station gemacht, vermutlich auch, um im Prozess auszusagen. Zum Zeitpunkt dieses Besuches aber waren die Prozesse noch keineswegs beendet, sondern noch mehr als sechs Jahre von den oben beschriebenen Ergebnissen entfernt.

Bild 43: Artikel im Tagesspiegel vom 17. März 1954

Das Treffen fand in einer Villa im Grunewald statt, und die beiden „plauderten … bei einer Tasse Tee von ihren Erlebnissen, in den letzten zwanzig Jahren: Verfolgung, Emigration, Aufbau von Geschäften in Kairo, Alexandrien, Rhodesien und Amsterdam, erneute Flucht, Internierung in der Schweiz mit Lagerleben, Gefängnismauern, gewaltsamer Trennung der Familie und schließlich wieder geschäftliche Erfolge in Europa und in Afrika. Lächelnd, mit verbindlichen Handbewegungen, geht man von diesen angedeuteten Reminiszenzen, als wolle man die Gesprächspartner damit nicht belasten, zur Gegenwart über“ und deutet an, dass sie zukünftig vielleicht auch am Kurfürstendamm in Berlin wieder ein „Haus der Geschenke“ eröffnen möchten, „wenn die gegenwärtigen Restitutionsverhandlungen günstig verlaufen„. Auch wenn sie das am Ende vielleicht gewesen sind, Jahre später waren vermutlich die Bedingungen für einen Neubeginn ungünstig, die Preise für Immobilien am Ku-Damm zu hoch, und alle Beteiligten um Jahre älter und um Erfahrungen reicher.

Literatur

58. Quelle: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/162883/wiedergutmachung-in-deutschland-1945-1990-ein-ueberblick/

59. Akte im Landesarchiv Berlin (LAB): B Rep. 025-05 Nr 204/49 Nr. 5725/50. 

60. LAB: B Rep. 020-02 Nr. 2138/51, Blatt 2.

61. LAB: B Rep. 206 Nr. 4619 (Bauakte Wassertorstraße 3).

62. LAB: B Rep. 207-01 Nr. 971 (Abräumakte Lietzenburger Str. 13).

63. Deutschen Bundesbank: Kaufkraftäquivalenten historischer Beträge in deutschen Währungen seit 1810 – Gulden, Taler, Mark, Reichsmark, D-Mark (Stand: Januar 2022; siehe: https://www.bundesbank.de/resource/blob/615162/13c8ab8e09d802ffcf2e5a8ae509829c/mL/kaufkraftaequivalente-historischer-betraege-in-deutschen-waehrungen-data.pdf).

64. https://de.wikipedia.org/wiki/Lastenausgleichsgesetz.

65. Tagesspiegel vom 17. März 1954.

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 9

Im Wiedergutmachungsverfahren Fürstenberg gegen die Firma Reiwinkel „Haus der Geschenke“ bzw. gegen dessen Kommanditisten Walter Koch war die Ausgangssituation eine etwas andere: 

Die Firma Reiwinkel im und nach dem Krieg

Das Geschäft in der Leipziger Straße 72-73 bis zur Niederwallstraße 13 war zwar im Krieg erheblich beschädigt worden (Bild 41), lag aber nach dem Krieg im sowjetischen Sektor der Stadt, und die Sowjets haben die Restitutionsanordnungen der westlichen Militärbehörden nicht mitgetragen; die 1949 gegründete DDR sah sich nicht als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches und hat daher die Wiedergutmachungsregelungen ebenfalls nicht für sich akzeptiert: die entsprechenden Gebäude und Grundstücke gingen vermutlich in Staatseigentum über (36).

Bild 41: Foto des Geschäftes der Firma Rosenhain in der Leipziger Straße 72/73 aus dem Jahr 1945. Hinter dem Haus rechts von Rosenhain sieht man die ebenfalls kriegsbeschädigten Kollonaden. Zum Vergleich siehe die Bilder 20 und 21 im Teil 5 (Quelle: Albert Rosenhain Collection im Leo-Baeck-Institut New York, Archiv Nr. AR 3272: mit freundlicher Genehmigung).

Das Geschäft am Kurfürstendamm 230/232 (Bild 42) war durch Bomben 1943/4 zerstört worden, Teile des Warenlagers im Wert von 170.000 Mark waren vor den anrückenden russischen Truppen gen Westen gebracht worden und landeten schlussendlich im niedersächsischen Bückeburg (zwischen Hannover und Bielefeld) im britischen Sektor, wo sie teilweise von der Armee bzw. der Luftwaffe 1945 beschlagnahmt worden war (49, Bl. 8f). Ein separates Klageverfahren der Fürstenbergs gegen diese Beschlagnahmung wurde dem Hauptverfahren zugeschlagen.

Bild 42: Das Geschäft „Rosenhain, Haus der Geschenke“ am Kurfürstendamm im Jahr 1936 (Beflaggung für die Olympischen Spiele) (Quelle: Albert Rosenhain Collection im Leo-Baeck-Institut New York, Archiv Nr. AR 3272: mit freundlicher Genehmigung).

Der Reiwinkel-Teilhaber Ludwig Reisse war am 7. Mai 1943 aus der Firma ausgeschieden, und der Teilhaber Fritz Grawinkel war am 11. August 1944 bei einem Bombenangriff in Berlin ums Leben gekommen. Seine Witwe Gertrud Grawinkel lebte bei Kriegsende in Erkelenz (bei Düsseldorf) und registrierte am 9. Dezember 1957 die Firma Reiwinkel in Düsseldorf (Königsallee 98), aber schon zwei Jahr später überlies sie die Firma Reiwinkel Walter Koch allein, der sie im Jahr 12. November 1959 zurück nach Berlin verlegte, jetzt mit seiner Frau Hildegard geborene Hoffmann als Geschäftsführerin (50). Bis 1964 versuchte die Firma noch, in Berlin Geschäftsräume am Kurfürstendamm anzumieten oder zu kaufen, dann wurde sie auf Drängen der Industrie- und Handelskammer (51, Bl. 5,18,25,27) am 12. Dezember 1964 im Handelsregister gelöscht (52). In dieser ganzen Zeit lief gegen Koch und die Firma der Wiedergutmachungsanspruch der Fürstenbergs. Die wurde auch in diesen Verfahren durch den Rechtsanwalt (RA) Hans-Georg Tovote, Berlin vertreten, der ihr Familienanwalt bereits vor dem Krieg war und der auch der Testamentsvollstrecker für das Testament von Gustav Fürstenberg war (siehe Teil 6). Walter Koch wurde vom Rechtsanwalt (RA) Hermann Reuss aus Berlin vertreten.

Die gleichen Argumente, ein ähnlicher Ton

Die Ausgangssituation war, wie gesagt, eine andere und weitaus klarer: Der Prozess der Arisierung („Entjudung“ wurde dies in der Zeit genannt) war, anders als bei Kauf des Wohnhauses durch den VbK, mit dem Ziel gemacht worden, jüdische Gewerbebetriebe zu enteignen, und dafür wurden „arische“ Käufer gesucht, die nach Möglichkeit den Gesamtkomplex und nicht nur Teile davon übernehmen sollten und wollten. Dass, wie im Falle von Walter Koch, dabei auch noch Devisen (englische Pfund) in die deutsche Kriegskasse kamen, war keineswegs von Nachteil, ganz im Gegenteil. Und dass Walter Koch und sein bislang unbekannter Bruder in England zu diesem Zeitpunkt und kurz vor dem Krieg nicht wohlgelitten waren, hatte schon die deutsche Handelskammer in London bestätigt (siehe oben Teil 6). Wären sie mit ihrem Geld bis nach Kriegsausbruch September 1939 in England geblieben, wäre nicht nur ihr Geldtransfer nach Deutschland unmöglich geworden, sondern sie wären vermutlich auch als „Alien enemies“ in England interniert worden.

Walter Koch hatte im Übrigen „vorgesorgt“: Noch bevor Klagen der Familie Fürstenberg 1949 aktenkundig wurde, hatte in seinem Auftrag ein Wirtschaftsprüfer namens Dr. habil. Waldemar Koch, Berlin (Bayrische Straße 6), am 26. Juni 1948 ein 61-Seiten langes Gutachten (nebst 48 Seiten Dokumentenanhang) erstellt (53), in dem all die Argumente, die auch später im Wiedergutmachungsverfahren aufgefahren werden, bereits prophylaktisch und im Sinne des Walter Koch abgehandelt werden. Dieses Gutachten spielt allerdings im späteren Prozess kaum keine Rolle, nicht zuletzt, weil es ein Parteiengutachten war, das zwei Jahre vor Prozessbeginn erstellt wurde – ein Schelm, wer Böses dabei denkt. 

Ohne auch nur die Vorgeschichte der Firma Reiwinkel in Betracht zu ziehen, widerspricht RA Reuss dem Rückerstattungsanspruch (am 27. Oktober 1950): „Es ist schlechterdings unerfindlich, wie dieser Rückerstattungsanspruch begründet sein sollte. Das Unternehmen in „Firma Reiwinkel ‚Das Haus für Geschenke‘ Reisse & Grawinkel K.G.“ war zu keiner Zeit Bestandteil des Vermögens der Antragsteller oder ihrer Rechtsvorgänger. Daher kann es sich hierbei auch nicht um ihnen entzogenes Vermögen‘ handeln, das ihnen zurückzuerstatten wäre. Was einem Antragsteller niemals gehört hat, kann ihm weder ‚entzogen‘ worden sein noch ‚zurückerstattet‘ werden“ (54, Bl. 5-7) – blauäugiger geht es kaum.

Ein dubioser Charakter: Walter Koch

Sein Mandant, Walter Koch, befand sich zu diesem Zeitpunkt in Wildbad/Schwarzwald (Eiberg 1), aber dem Anwalt lag natürlich das Gutachten Koch (53) vor. Auf dessen Basis behauptete RA Reuss in einem 30-seitigen Schriftsatz vom 24. Oktober 1950 (55, Bl. 111-125) unter anderem, dass er gemäß den Vorschriften des Militärgesetzes Nr. 59 (56) belegen kann, dass die Fürstenbergs einen angemessenen Kaufpreis erhalten haben, dass sie darüber frei verfügen konnten, und dass Walter Koch „in besonderer Weise und mit wesentlichem Erfolg den Schutz der Vermögensinteressen“ der Fürstenbergs wahrgenommen hat, insbesondere durch Mitwirkung bei der Übertragung ihres Vermögens ins Ausland (55, Bl. 112f). Ferner wird behauptet, dass die Übernahme der Firma Rosenhain durch Koch und zwei Kompagnons im Jahre 1938 ein reines Verlustgeschäft gewesen sei: Statt den 57.000 britischen Pfund, die 1938 einem Devisenwert von etwa 2,5 Millionen Reichsmark (RM) entsprachen, hätte Koch in das Geschäft – direkt und indirekt – rund 6 Millionen RM investiert (55, Bl. 114); dem ständen übertragene Sachwerte in Höhe von netto 4,3 Mio. RM gegenüber. Auch hätte Walter Koch in England mit den investierten 57.000 Pfund weit mehr Profit machen können, hätte er die Aktien nicht verkauft, und die übernommene Firma Rosenhain habe im Übrigen in den Jahren zuvor nur Verluste eingefahren – daher, so der Tenor, habe er den Fürstenbergs, die sich schließlich an ihn gewandt hatte, eigentlich nur einen Gefallen getan mit der Übernahme der Firma. Dass ihnen das Geld nicht ausgezahlt worden sei, sei schließlich eine Angelegenheit der deutschen Behörden gewesen: rückständige Steuerzahlungen einerseits, Verhinderung von Geldtransfer ins Ausland andererseits, jenseits von politisch motivierten Strafzahlungen für Juden wie der Reichsfluchtsteuer und den sogenannten „Sühnezahlungen“ nach der Reichspogromnacht – dafür sei Koch nicht verantwortlich zu machen. RA Tovote hatte dieser Argumentation zuvor widersprochen (55, Bl. 78-110), führte die monatlichen Mieteinahmen der Augsburger Straße 34 an und die Gewinne von Rosenhain, die Steuerpflichten von Rosenhain, und korrigierte Angaben zum Verlauf der Gespräche und Transaktionen 1938, zur Übernahme der holländischen Firma Reveillon 1942 und vieles mehr. 

Die Rückübertragung und die Rücknahme der Rückübertragung

Die Argumentation von RA Reuss verfing bei Gericht nicht, und es deutete sich früh an, dass das Kammergericht, im Hinblick auf das Grundstück Augsburger Straße 34, eine Teilentscheidung (Rückübertragung) für möglich hielt. Auf diesem Grundstück stand ein nicht-beschädigtes Wohnhaus, das bis zu diesem Zeitpunkt auch Mieteinnahmen hatte und einen Grundwert vom 110.000 RM. Mit Datum vom 7. November 1950 erließ die Wiedergutmachungskammer des Landgerichts Berlin eine Teilentscheidung über eine Rückübertragung des Grundstücks unabhängig von Fragen in der Hauptsache mit sofortiger Wirkung (55, Bl. 141). Die Umschreibung im Grundbuch auf die Familie Fürstenberg wurde angeordnet, die dort eingetragene Hypothek blieb bestehen. In einer Ergänzung zum Urteil notierte der vorsitzende Richter, dass RA Tovote zusätzliche Urkunden und Abschriften in einer „grünen Sammelmappe“ zu den Akten gegeben habe (55, Bl. 142) .

In einer ausführlichen Stellungnahme mit sofortiger Beschwerde gegen dieses Urteil machte Kochs Rechtsanwalt Reuss erheblich verfahrensrechtliche Bedenken, unter anderem im Hinblick auf die „grüne Mappe“ geltend (55, Bl. 177ff), die dem Gericht erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung überreicht worden sei (55, Bl. 180). Diese Argumentation veranlasst das Gericht, den Beschluss mit Datum vom 20. Mai 1952 wieder zurückzunehmen (55, Bl. 260) und in der Hauptsache weiter zu verhandeln.

In der Hauptsache (55, Bl. 260-277; 56; 57) ging es dann um zwei Argumentationslinien: Zum einen um die Frage, ob und warum die Fürstenberg Familie kein Geld aus dem von Koch bezahlten Kaufpreis bekommen habe, sondern dieser von den deutschen Finanzbehörden einbehalten worden war. Zum anderen darum, ob Koch dieses Kaufgeschäft guten Glaubens abgeschlossen habe (so, wie vermeintlich der VbK) oder ob er in Kenntnis der Zwangslage der Familie Fürstenberg gehandelt habe. Beide Parteien nutzen die wenigen Gerichtstermine ausgiebig, entweder die vielen dokumentarischen Belege aus der Arisierungsgeschichte 1938 (s. oben, Teil 6) zu präsentieren (RA Tovote), oder die finanzpolitischen und ökonomischen Implikationen des Erwerbs 1938 zu diskutieren, mit Gutachten von Bank- und Finanzexperten (RA Reuss, dem inzwischen weiterer Rechtsanwälte zur Seite standen, RAe Osthoff und Rapp aus Bielefeld).

Da uns über die persönliche Situation des Walter Koch bislang wenig bekannt ist, und Gerichtsakten diesbezüglich kaum Informationen enthalten, sind wir an dieser Stelle in dieser Frage auf wenige Vermutungen angewiesen. Dazu gehört die oben angeführte Behauptung, dass die Gebrüder Koch ihr in England angelegtes Vermögen im Deutschen Reich in Sicherheit bringen wollten; dazu gehört auch, dass Walter Koch, der in den Arisierungsakte bis 1938 mit einer vagen englischen Adresse (Fulmer, England) auftrat, zwar ausweislich der Akten immer wieder betonte, in England bleiben zu wollen, der aber – da deutscher Herkunft – nach dem Kauf nicht nach England zurückkehrte, sondern seinen Wohnsitz in Berlin nahm. Die wenigen biografischen Informationen, die wir bis heute erhaben sammeln können, sprechen ebenso dafür.

Die finale Entscheidung der Kammer zur Rückerstattung (55, Bl. 260ff) wurde vom Obersten Restitutionsgericht Berlin (ORG) (56, Bl. 12-23) am 13. Juli 1955 bestätigt, aber auch korrigiert: Die Rückerstattung habe an die wieder existierte frühere Eigentümerin des streitigen Grundstücks, die Wohnstätte Kurfürstendamm AG zu erfolgen und nicht an die derzeitigen Mitglieder der Familie Fürstenberg (56, Bl. 23).

Auch hier wird hinter verschlossenen Türen verhandelt

Wie im Prozess gegen den VbK wird auch im Prozess gegen Walter Koch parallel zum Gerichtsverfahren quasi „privat“ weiterverhandelt (43: Bl. 163), und auch hier kommt es überraschend und im letzten Moment zu einem Vergleich, den die Parteien am 6. November 1957 dem Gericht zur Kenntnis geben (57, Bl. 117-119). 

Danach zahlte Walter Koch der Familie Fürstenberg den Betrag von 1.095,800 DM, im Gegenzug verzichtete die Familie Fürstenberg auf alle Ansprüche auf Rückübertragung der Grundstücke Kurfürstendamm, auf Erstattung der Mieteinnahmen, und bestätigte die Löschung der Rückübertragung Augsburger Str. 34. Ansprüche auf Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz verblieben bei den Fürstenbergs, Treuhänderguthaben aus den drei Grundstücken verblieben bei Walter Koch.

Ende gut – Alles gut?

Im nächsten und letzten Teil der Geschichte werden wir uns mit der Frage auseinandersetzen, ob dies nun ein gutes oder ein nicht-so-gutes Ende der Geschichte des Hauses Fürstenberg am Lützowplatz ist.

Literatur

49: Akte des Landesarchivs Berlin (LAB): B Rep. 025-06 Nr. 616/51

50: LAB: A Rep 342-02 Nr. 21057,21058

51. LAB: A Rep 342-02 Nr 21056

52. LAB: A Rep 342-02 Nr. 21059, 21061

53. LAB: B Rep 025-04 Nr. 482/49 (4)

54. LAB: B Rep 025-06 Nr. 891/50 

55. LAB: B Rep 025-04 Nr. 482/49 (2)

56. https://de.wikipedia.org/wiki/Militärregierungsgesetz_Nr._59

57. LAB: Akte B Rep 025-06 Nr. 482/49 (3)

Stille Zeichen

Gestern, am 9. November 2023, gedachten wir der Opfer des Holocaust zum 85. Mal.
Es gibt über siebzig Stolpersteine hier im Kiez. Menschen aus der Nachbarschaft haben für die Steine Patenschaften übernommen. Sie behalten die Steine im Auge, putzen sie und schmücken sie mindestens zwei Mal im Jahr (5. Mai und 9. November).

Gestern gab es überraschender Weise weiteren Schmuck in Form von Blumengestecken – wunderbare Gesten von Unbekannten, die den Stadtraum zumindest für einige Stunden veränderten und an die Pogromnacht und die Verfolgung von Jüdinnen und Juden, von Widerstandskämpfer:innen und anderen Marginalisierten des Nationalsozialismus erinnern ließen.

Leider war der Kerzen- und Blumenschmuck nach einigen Stunden verschwunden – doch die Steine glänzen weiterhin.

Danke an alle, die so für einige Stunden Zeichen der Anteilnahme an die Verfolgten des NS-Regimes setzten.

(Fotos: Susanne Regener / Stolpersteine im Bereich der Genthiner Straße und Lützowstraße)

Gedenken „In Demut erinnern“

Am 9. November jährt sich die Reichsprogromnacht, welche in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 Angst und Schrecken in der jüdischen Bevölkerung verbreitete.

Die SPD Tiergarten Süd lädt zu einem Gedenken an dem Ort in der Lützowstraße ein, wo einst die erste Gemeindesynagoge in Berlin stand.

Gedenken „In Demut erinnern“, am Do 9.11.2023, 19 Uhr
Lützowstraße 16, 10785 Berlin (heute Umspannwerk)

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 8

Im Wiedergutmachungsverfahren Fürstenberg gegen den Verein Berliner Künstler (VbK) wurden die Angehörigen der Familie Fürstenberg durch den Rechtsanwalt (RA) Hans-Georg Tovote, Berlin vertreten, der ihr Familienanwalt bereits vor dem Krieg war und der auch der Testamentsvollstrecker für das Testament von Gustav Fürstenberg war (siehe Teil 6). Der VbK hatte dem Rechtsanwalt (RA) Georg Graul aus Berlin Vollmacht gegeben, seine Angelegenheit zu vertreten.

Runde Eins: Der Ton macht die Musik

Den Auftakt machte RA Tovote in seinem Schriftsatz vom 18. Juli 1950, in der er den VbK als „Rechtsnachfolger eines Nazi-Vereins gleichen Namens“ titulierte (41, Bl. 37). Das hat den vermutlich geschmerzt, weil es nicht der Nachfolger, sondern der gleiche Verein war, den es schon seit 1841 gab (siehe Teil 7); der befand sich aber zumindest seit 1938 fest in der Hand der Nationalsozialisten (39). Der Verweis auf die letzte große Ausstellung des Juden Max Liebermann im Jahre 1927, mit dem RA Graul den Vorwurf zurückwies, half da wenig, Legitimation herzustellen (41, Bl. 90). Stattdessen stilisierte sich Graul selbst als „Opfer der nationalsozialistischen Unterdrückungsmaßnahme“ (41, Bl. 87) und bezweifelte gleichzeitig, dass die Fürstenbergs sich 1938 in einer Zwangslage befunden hätten. 

Dem Prinzip nach war alles strittig, was die Fürstenbergs im Wiedergutmachungsverfahren ab 1948 – zehn Jahre nach ihrer faktischen Enteignung – vorbrachten, vielleicht mit Ausnahme des für das Haus bezahlten Kaufbetrages von 370.000 Reichsmark: dass der Verkauf unter Zwang für die Familie stattfand, dass der Kaufpreis unangemessen war, und dass die Familie Fürstenberg dieses Geld nie erhalten habe. Im Originalton des Anwaltes klang das so: „Inwieweit der Grundstücksverkäufer sich wirklich in einer Zwangslage befunden hat oder sich in einer solchen glaubte, kann – und konnte damals – der Verein nicht übersehen. Dem Verein gegenüber ist jedenfalls diese Zwangslage vom Verkäufer selbst durch eine freiwillige Handlung des Verkaufes unterbrochen worden, indem er nicht etwa einen Käufer an sich herantreten ließ, sondern durch einen Makler dem Verein das Grundstück von sich aus zum Kaufe anbot“ (41, Bl. 88). Mit anderen Worten: Echte Opfer verhalten sich passiv, wer sein Schicksal in die eigene Hand nimmt, verliert die Glaubwürdigkeit.

Im Prinzip verfolgen Rechtsanwälte keine eigenen Interessen (jenseits ihrer Gebührenordnung, die sich über den Streitwert bestimmt), sondern drücken mit ihrer Position die Ansicht ihrer Mandanten aus. In den wenigen Unterlagen des VbK, die wir dazu einsehen konnten, findet sich daher der gleiche aggressive Ton, z.B. in dem oben erwähnten Bericht des Vereinsvorsitzenden Arthur Hoffmann an die Mitglieder von 1956 („… da die Gegner behaupten, keinen Pfennig erhalten zu haben, da der Kaufpreis seinerzeit auf ein Sperrkonto gezahlt werden mußte …“) (37).

Interessant ist, dass die Parteien jenseits ihres Gerichtsstreites immer auch parallel direkt miteinander verhandelt hatten und dies den Akten nicht zu entnehmen ist, solange kein Vergleichsvorschlag zu Protokoll gegeben wird. Ein erster solcher Vergleich wurde gerichtsprotokolliert am 7. November 1950, wonach der VbK der Familie Fürstenberg eine Zahlung von 40.000 DM als Nutzungsentschädigung für die Zeit 1938 bis 1943 anbot, um endgültig Eigentümer zu werden – dies nahmen die Fürstenbergs nicht an. In einem privaten Gegenangebot sollte der VbK noch 100.000 DM an die Familie zahlen, um Mitbesitzer des Hauses zu werden – dies lehnt der VbK ab, nachdem klar wurde, dass dies – trotz Zahlung – auch den Verlust des Gebäudes bedeutete (37). Die Parteien erklärten am 19. September 1952 den Vergleich für gescheitert (41, Bl. 130), und die Verhandlungen gingen in die zweite Runde.

Runde Zwei: Alles ist strittig

Strittig aufgearbeitet werden mussten zunächst die Enteignungsdaten von 1938 und finanziellen Regelungen, mit denen das Deutsche Reich sich des Vermögens der Fürstenberg bemächtigt hatte – bis hin zur Frage, ob über den Kaufpreis überhaupt verfügt werden konnte. Dazu legten die Fürstenbergs viele im Arisierungsverfahren angefallenen Dokumente, Verträge und Verordnungen vor, die – mit Sicherheit – dem VbK zu diesem Zeitpunkt erstmals zu Gesicht kamen.

Als das 1953 Gericht erwog, im Rahmen eines Teilbeschlusses eine Rückübertragung des Grundstücks anzuordnen, legte RA Graul letztmalig eine Stellungnahme vor, in der der das Gericht auf die Notwendigkeit eines „gerechten Ausgleichs“ zwischen den Antragsparteien hingewiesen wurde (42, Bl. 133ff) – offenbar war er selbst nicht in der Lage, dies zwischen den Parteien zu vermitteln. Stattdessen trat ein neuer Anwalt, Dr. Walter Fuhrmann, Berlin auf den Plan (42, Bl. 139), der die weitere Vertretung des VbK übernahm (12. November 1953). RA Fuhrmann verwies unmittelbar auf die vergleichbare Situation der Antragsteller Fürstenberg im parallelen Prozess Fürstenberg gegen Walter Koch (s. unten, WGA-2), bei dem eine Teilentscheidung des Kammergerichts über einer Rückübertragung des Grundstücks Augsburgerstraße 34 im Mai 1952 wieder rückgängig gemacht wurde (43, Bl. 260) und warnte davor, RA Tovote argumentierte dagegen und nannte die Rückerstattungspflicht „absolut entscheidungsreif“ (41, Bl. 166). 

Runde Drei: Sanierung oder Abriss nach dem Krieg

Als die Wohnungen im Hause Lützowplatz 9 im Jahr 1954 baupolizeilich gesperrt wurden (41, Bl 174), forderte RA Tovote am 19. Mai 1954 Ortstermin, Sachverständigengutachten und wegen „Gefahr im Verzug“ eine Änderung der Hausverwaltung. Der Ortstermin unter Beteiligung des Architekten Prof. Sagrekow am 10. Juni 1954 ergab hingegen nur einen gesperrten Raum, ansonsten unfertiger Umbauzustand, und die Parteien einigten sich auf erneute Vergleichsverhandlungen. 

Strittig war nach wie vor der Zustand des Gebäudes nach den Bombardierungen 1943, der Grad der Zerstörung und der Aufwand, der zur Nutzung des Gebäudes als Ausstellungsraum betrieben wurde – allein über diese Kosten gibt es fünf Verfahrensbeiakten (44). Es wurden Gutachten zum Bauzustand 1945 eingeholt, die zum Ergebnis kamen, dass die Zerstörung mehr als 60 bzw. „nur“ 44% betrugen – der Unterschied bedeutete Abriss oder Sanierung (45, Bl. 224) (Bild 40). Es wurden unterschiedliche, alte und aktuelle Verkehrswerte des Grundstücks berechnet und vorgetragen (weniger als 150.000 DM versus 210.000 DM und mehr), entstandene Schäden während des Krieges (45, Bl. 291) und die getätigten Auswendungen des VbK vor Ort begutachtet (46, Bl. 58ff), argumentiert, inwieweit sie werterhaltend oder wertsteigernd waren, getrennt nach Kosten in Reichsmark während des Krieges, und vor und nach der Währungsreform 1948 sowie gegenwärtig (1953).

In der Wahrnehmung des VbK (37) hatte der Verein das Gebäude (bei mehr als 60% Zerstörung) entgegen der Vernunft vor dem Abriss gerettet, daher müsse ihm, bei Rückgabe an die Familie Fürstenberg, diese Kosten erstattet werden, ebenso die Ablösung einer Hypothek.

Bild 40: Selbst Bilder sind nicht immer objektiv, sondern können zugunsten der einen oder der anderen Position herangezogen werden. Das linke Bild (aus: 37) zeigt das Haus und seine Zerstörung nach Kriegsende 1945, und man hat den Eindruck, dass hier nur Abriss hilft. Das rechte Bild (aus: 48) zeigt das Haus nach Räumung des Schutts, vermutlich also Anfang der 50er Jahre und vermittelt den Eindruck einer Beschädigung, die man reparieren kann – was ja dann letztlich auch passiert ist.

Das Finale: Der Vergleich

Gemessen an der gerichtlichen Auseinandersetzung in den drei Phasen, die wir oben berichtet, hätten wir erwartet, dass der Vergleich ein Kompromiss zwischen den Parteien ist; leider haben wir keine Dokumente, die den „privaten“ Verhandlungsprozess zwischen den Parteien dokumentieren. Unabhängig davon entschied das Landgericht am 6. November 1959 nach mündlicher Verhandlung am 28. September und präsentierte eine Teilentscheidung (47, Bl. 11ff) – zu diesem Zeitpunkt hatte der VbK offenbar einen neuen, dritten Rechtsvertreter bestellt, RA Dr. Gregor, Berlin.

Danach wurde die VbK verurteilt, das Grundstück Lützowplatz 9 sowie das 501qm große Zwischenstück (siehe oben, Teil 7) zurückzuerstatten (d.h. die Grundstücke mussten im Grundbuch umgeschrieben werden), und etwaige Kriegssachschädenersatzansprüche und Lastenausgleichsansprüche abzutreten. Eine bestehende Hypothek auf dem Grundstück bleibe bestehen und würde der Familie Fürstenberg als Gesamtschuldner übertragen. Außerdem müsse sie dem VbK Kosten in Höhe von 77.700 DM zzgl. 4 % Zinsen seit dem 1. Januar 1960 zahlen. Dazu solle eine Hypothekenlast in gleicher Höhe auf dem Grundstück eingetragen werden. Weiterhin wurden die Fürstenbergs verurteilt, dem VbK alle Rückerstattung- und Entschädigungsansprüche abzutreten, wenn in entsprechenden Verfahren festgestellt wird, dass solche Ansprüche bestehen. Und jetzt erst kam es zum Vergleich.

Der Vergleich

Die Rechtsanwälte Tovote und Gregor formulierten in einem Eilbrief (41, Bl. 167) am 15. November 1960 an das Kammergericht: Der VbK wolle das Grundstück vorbehaltlich eines Vergleiches weiterveräußern an den Förderkreis Kulturzentrum Berlin e.V., der 1960 zu diesem Zweck von Berliner Sozialdemokraten unter Leitung von Willy Brandt (1913-1992) gegründet worden war (48); man bitte um einen Vergleichstermin beim Kammergericht. Dort verzichteten die Fürstenbergs auf ihren Rückerstattungsanspruch und auf die Rechte aus dem Beschluss vom 28. September 1959 auf das Grundstück Lützowplatz 9, übertrugen das Eigentumsrecht daran und an die 501qm großen Parzelle an den „Förderkreis Kulturzentrum Berlin e.V.“, der das Grundstück Lützowplatz 9 vom VbK erwerben wollte. Im Gegenzug zahlte der VbK an die Familienmitglieder Fürstenberg den Betrag von 100.000 DM. Etwaige Lastenausgleichsansprüche verblieben beim VbK, Ansprüche aus dem Bundesentschädigungsgesetz (wegen der Nicht-Verfügbarkeit des Kaufpreises von 370.000 RM im Jahr 1938) verblieben bei der Familie Fürstenberg.

Der Verkaufsvertrag zwischen dem VbK und dem Förderverein vom 22. November 1960 (45, Bl. 435) sah einen Kaufpreis von 271.507,88 DM vor, davon sollten 100.000 DM an die Familie Fürstenberg überwiesen werden, der Förderverein übernahm die eingetragene Grundschuld von insgesamt 42.000 DM, die verbleibenden 128.000 sollten an den VbK überwiesen werden.

Literatur

Vorbemerkung: Es gibt im Landesarchiv Berlin insgesamt über 30 Akten in den Wiedergutmachungsverfahren der Familie Fürstenberg, mit insgesamt weit über 1500 Blatt, die dieser Auswertung zugrunde liegen. Der Verweis auf einzelne Aktenseiten wird dadurch erschwert, dass viele dieser Akten die gleiche Archiv-Nummerierung tragen (z.B. B Rep. 025-05 Nr. 204/49), die aber oft unterschiedlichen Gerichtsprozess-Akten zugewiesen wurde (z.B. Beiakte 1 bis 10.). Innerhalb einer Akte sind die Seiten nummeriert. Die Zitation erfolgt daher mit Angabe der Seitennummerierung im Text (z.B. 41, Bl. 167)

41. Akte B Rep 025-05 Nr. 204/49 (1)

42. Akte B Rep 025-05 Nr. 204/49 (2)

43. Akte B Rep 025-04 Nr. 482/49 (1) 

44. Akte B Rep 025-04 Nr. 482/49 (5) bis (10)

45. Akte B Rep 025/05 Nr. 204/49 (3)

46. Akte B Rep 025-05 Nr. 204/49 (2)

47. Akte B Rep 025-05 Nr. 5723/5048.

48. https://de.wikipedia.org/wiki/Haus_am_Lützowplatz

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 7

Bereits vor dem Tode von Sally Fürstenberg im Juni 1942, spätestens aber nach seinem Tod zogen seine vier Söhne in alle Welt und brachten sich vor den Nazis in Sicherheit. Während und am Ende des Krieges waren sie mit ihren Familien in Ägypten, England, Rhodesien, der Schweiz und den USA, und sie stellten bereits 1948 gemeinsam und konzentriert Anträge auf Restitution ihrer Vermögenswerte, deren Darstellung hier die Familiengeschichte der Familie Fürstenberg beschließen soll. Zuvor jedoch wollen wir ihre jeweils persönlichen Geschichten nacherzählen, soweit wir sie rekonstruieren konnten. Wesentliche Grundlage dafür war ein Bericht, den Paul Fürstenberg dem Leo-Baeck-Institut zur Verfügung stellte (28). Die genealogischen Angaben sind – wie meist – durch Michael Schemann komplettiert worden.

Die Söhne des Egon Fürstenberg

Der Erstgeborene, Paul Philip Hans Fürstenberg, geboren am 30. Juli 1900, heiratete am 26. März 1929 in Berlin Maria Margot Birnholz, geborene Brodnitz, geboren am 10. Januar 1905 in Berlin. Sie war von 1923 bis 1929 verheiratet gewesen mit Joseph Birnholz, und Sophie Birnholz, die Ehefrau von Gustav Fürstenberg (siehe Teil 3), war dessen Schwester. Er (Paul) verbrachte die Kriegszeit in England und führte dort die englische Niederlassung der Firma Reveillon gemeinsam mit seinem Bruder Ulrich. Er ließ sich von seiner Frau scheiden und wanderte wie Ulrich nach Rhodesien aus, vermutlich, um der Internierung in England während des Krieges zu entgehen (Bild 35). In Rhodesien heiratete er am 25. September 1950 Edith Ida Baer, die am 10. Februar 1915 in Worms geboren worden war; seine erste Frau heiratete in England erneut im November 1943 einen bekannten Cricketspieler. Paul und Edith Fürstenberg wanderte in den 50er Jahren in die USA aus, wo sie am 22. November 1966 naturalisiert wurden und sich dann Forbes nannten. Paul Forbes starb am 8. November 1979 in Oakland (Kalifornien), seine Frau verstarb dort am 23. Dezember 2005. In seiner Vermögenserklärung von 1938 (siehe Teil 6) hatte Paul Fürstenberg darauf hingewiesen, dass er zwei minderjährige Kinder habe, Helga Pauline Birnholz (aus der ersten Ehe seiner Frau), geboren am 6. September 1924, und Stephan Egon Albert Fürstenberg, geboren am 18. Mai 1930 aus der Ehe mit Maria Birnholz. Mit seiner zweiten Frau hatte er ein weiteres Kind, dessen Identität bislang geschützt ist.

Bild 35: Biografische Daten der Maria Margot Birnholz, geborene Brodnitz, insbesondere zu ihrem Internierungsaufenthalt auf der Isle of Men 1940-1941. Sie war zu diesem Zeitpunkt geschieden und heiratete 1943 erneut (Quelle: https://www.imuseum.im/search/collections/people/mnh-agent-99845.html)

Der zweitälteste Sohn, Werner Fritz Fürstenberg, geboren am 1. August 1903 in Berlin, zog 1933 nach Holland und heiratete dort am 29. Mai 1936 Käthe Ruth Smoszewski, geboren am 22. Mai 1913 in Posen (Bild 36). Werner leitet das Geschäft in Amsterdam, bis dieses – nach dem Einmarsch der deutschen Armee in den Niederlanden – konfisziert und von der Firma Reiwinkel übernommen wurde, die auch das Geschäft der Firma Rosenhain in Berlin übernommen hatte. Werner und Käthe Fürstenberg hatten zwei Kinder; ihre Tochter Madeline Rose wurde am 2. Oktober 1937 in Amsterdam geborenen, für ein weiteres Kind sind die Geburtsdaten nicht freigegeben. Die Eltern flohen 1942 in letzter Minute vor der Deportation aus Holland in die Schweiz und ließen ihre Tochter bei Freunden in Holland zurück. Sie wurden nach dem Krieg repatriiert und lebten in Amstel, wo Werner Fürstenberg am 15. Februar 1971 verstarb und seine Frau am 20. November 2003 in Amstelveen. Ihre Tochter Madeline war bereits am 3. März 1972 im Alter von nur 34 Jahre verstorben.

Bild 36: Werner Fritz Fürsternberg und seine Käthe Ruth, geborene Smoszewski (Quelle: Ancestry, Fotograph unbekannt um 1935).

Ulrich Ernst Rolf Fürstenberg, geboren am 15. August 1906 in Berlin, übernahm 1936 die Leitung einer Firma Rivoli in London, die 1941 durch deutsche V2-Bomben zerstört und nicht wieder aufgebaut wurde. Aufgrund seiner Auswanderung wurde er seiner deutschen Staatsangehörigkeit verlustig erklärt. Er heiratete Hilde Eloise Klembt, geboren am 29. Juli 1915 in Bremen. Im Mai 1947 wanderte die Familie nach Rhodesien aus und nahm den Namen Ralph Ernest Forbes an. Ulrich und Hilde Forbes hatten einen Sohn, Roy Ralph Forbes, geboren am 17. Dezember 1947, der 1998 in Leeds, England verstarb. Irgendwann zwischen 1949 und 1988 wanderte die Familie nach Oregon, USA aus, wo Ulrich als Farmer tituliert wird. Ulrich Forbes starb in Turner, OR am 6. Juni 1988, seine Frau verstarb am 31. Oktober 2004 ebenfalls dort.

Der jüngste Sohn der Fürstenbergs, Hellmuth Joachim Moritz, geboren am 7. Juli 1908, wanderte 1937 nach Ägypten aus und leitete dort die Geschäfte der Firma Reveillon bis nach dem Krieg. Er heiratete Sylvia Low, geboren am 20. März 1904 in Vancouver, British Columbia, Kanada, die am 14. Dezember 1966 in Los Angeles, USA starb. Das Ehepaar hatte zwei Töchter: Rosanne J. Fürstenberg, geboren am 25. März 1929 in New York, die am 9. Juni 2008 dort verstarb, und Catherine, geboren 1930 in New York und im gleichen Jahr dort verstorben (?). Nach dem Tod seiner Frau 1966 zog Hellmuth Fürstenberg zurück nach Deutschland; er verstarb am 3. November 1971 in Frankfurt/Main.

Die rechtlichen und finanziellen Regelungen zur Wiedergutmachung 

Als die Fürstenberg-Söhne 1948 den Antrag auf Wiedergutmachung des durch die Nationalsozialisten erlittenen Unrechts stellten, war die rechtliche Regelung dafür noch keineswegs abgeschlossen. Erst am 16. August 1949 wurde das Gesetz Nr. 951 „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts (Entschädigungsgesetz)“ vom amtierenden Länderrat (den Bundestag gab es noch nicht) auf der Basis von zwei Proklamationen der Militärregierung von 1945 beschlossen. Danach hat „ein Recht auf Wiedergutmachung nach diesem Gesetz …, wer unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft (30. Januar 1933 bis 8. Mai 1945) wegen seiner politischen Überzeugung, aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung verfolgt wurde und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen oder in seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat.

Das Gesetz hat in der Folge eine Reihe von Ergänzungen erfahren und wurde 1955 durch den Bundestag neu gefasst. Bis dahin waren insgesamt 418 Millionen DM ausgezahlt worden. Der finanzieller Gesamtaufwand für die Durchführung des Gesetzes in der neuen Fassung wurde auf 6,5 bis 7 Milliarden DM geschätzt, wovon bei Inkrafttreten der Novelle (1. April 1956) rund 1 Milliarde DM gezahlt sein sollten (35). Bis 2022 betrugen die Gesamtleistungen etwa 48 Milliarden Euro (als ca. 94 Milliarden DM), wovon (gerundet) 7 Milliarden auf Kapitalentschädigungen und 41 Milliarden auf Renten entfielen; 40 Milliarden Euro an Zahlungen gingen ins Ausland. Nahezu eine Milliarde DM wurde im Rahmen von Globalabkommen mit den europäischen Nachbarstaaten gezahlt. Insgesamt wurden von 1953 bis 1987 mehr als 4 Millionen Anträge auf Wiedergutmachung gestellt, von denen etwa die Hälfte positiv entschieden wurde und die übrigen je zur Hälfte abgelehnt oder zurückgenommen oder anderswie erledigt wurden (Daten aus (36)). Diese Zahl entspricht jedoch nicht der Anzahl der Antragsteller, die niedriger ist: Wie wir sehen werden, haben die vier Fürstenberg-Söhne insgesamt mehr als 30 gleichlautende Anträge in verschiedenen Wiedergutmachungsverfahren gestellt: gegen den deutschen Staat als Rechtsnachfolger des NS-Regimes, gegen die Firma Reiwinkel bzw. gegen Walter Koch, der die Firma Rosenhain übernommen hatten, und gegen den Verein Berliner Künstler, das das Haus am Lützowplatz erworben hatte; diese Anträge wurden in zwei Verfahren zusammengefasst (siehe unten).

Es versteht sich von selbst, dass bei der Vielzahl solcher Verfahren Irrtümer und Fehlentscheidungen nicht ausgeschlossen werden konnten, ebenso wie es versuchten und erfolgreichen Betrug von Antragstellern gegeben hat. Darüber hinaus ist natürlich auch zu berücksichtigen, dass der „ideelle Wert“ eines erlittenen Verlustes mit der monetären Berechnung einer Sache (eines Hauses, eines Schmuckstückes etc.) nicht abgeglichen werden kann und immer zu Lasten des subjektiven Wertes gehen muss, da sich Emotionen nicht messen lassen. Die Wiedergutmachungsverfahren der Gebrüder Fürstenberg wurden daher, wie viele andere solcher Verfahren, vielfach mit erstaunlicher Härte auf Seiten der Beklagten geführt, mit Unterstellungen und Vorwürfen, die heute oft erschreckend wirken; davon weiter unten mehr.

Die beiden Wiedergutmachungsverfahren

Die Wiedergutmachungsakten (WGA) im Landesarchiv Berlin lassen sich grob in zwei Komplexe unterteilen:  1. Antrag auf Wiedergutmachung (Restitution) des Verlustes des elterlichen Hauses am Lützowplatz 9 (WGA-1), und 2. Antrag auf Restitution des Verlustes der Firma Rosenhain GmbH und der mit ihren verbundenen Immobilien (WGA-2). Auffallend ist dabei, dass eine Immobilie, Lützowstraße 60, in keinem der beiden Verfahren eine Rolle spielte, auch wenn die Familie dieses Grundstück bereits 1919 erworben hatte und darauf ein eindruckvolles Wohnhaus stand (Bild 37). 

Bild 37: Das Wohnhaus Lützowstraße 60 (rechts) sowie 61, 1938 kurz nach dem Umbau für die Herresplankammer. Das Wohnhaus 60 gehörte zur Hälfte der Familie Fürstenberg (s. unten, Bild 38) (Quelle: Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Akte zur Heeresplankammer, digitalisiert: https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/39ded8c4-abd5-4560-9b00-4ad0348fa79a/)

Bei Durchsicht der WGA-1-Akten fiel auf, dass ein Situationsplan der beiden Grundstücke Lützowstr. 60 und Lützowplatz 9 (Bild 38) darauf hinwies, dass es zum Grundstück an der Lützowstraße einen separaten Vertrag vom 28. Februar 1938 mit dem „Reichsfiskus (Heer) = Wehrkreiskommando III“ gegeben hatte, der zur „Auflassung“ und damit zum Verkauf des Geländes und Gebäudes am 29. Juni 1938 führte. Hier zog nach Umbau noch am 1. Oktober 1938 die Heeresplankammer ein. Zu diesem Vorgang gibt es keine Unterlagen, auch die Bauakte fehlt, aber das Fehlen eines Wiedergutmachungsantrags lässt darauf schließen, dass die Fürstenbergs diesen Vertrag noch ohne „Schaden“ abgewickelt haben und den Verkaufspreis, anders also als die beiden „Verkäufe“ zu WGA-1 und WGA-2, ohne Einschränkungen erhalten haben – er hat es ihnen möglicherweise die Flucht erst ermöglicht. Interessanterweise war das Gartengelände hinter diesem Haus Lützowstraße 60 wiederum Teil des Kaufvertrags mit dem Verein Berliner Künstler (VbK) vom 7. Dezember 1938 war. Nach Auffassung der Familie Fürstenberg war einzig ein 510qm großes Grundstück zwischen den beiden Grundstücken aus jeglicher Vereinbarung herausgefallen und wurde in WGA-1-Verfahren geltend gemacht.

Bild 38: Grundstückplan der Häuser Lützowstrasse 60 und 60a. Das Grundstück 60a (rot) war im Februar 1938 an das Deutsche Reich verkauft worden, das dazugehörige Gartenstück (blau) zusammen mit den Haus Lützowplatz 9 (blau, straffiert) im Dezember des gleichen Jahres
an den Verein Berliner Künstler (Quelle: Wiedergutmachungsakte im Landesarchiv Berlin, B Rep. 025-05 Nr. 204/49, Blatt 80).

Der Verein Berliner Künstler (VbK)

Elf Jahre nach dem Krieg und 18 Jahre nach dem Erwerb des Hauses Lützowplatz 9 (früher: 5), 1956, legte der Verein in einem Bericht (in 7 Teilen) an seine Mitglieder (37) Rechenschaft ab über die Geschichte des Vereins, insbesondere in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem 2. Weltkrieg. Der 1841 gegründete Verein residierte von 1898 bis 1928 in der Bellevuestraße 3, war aber „aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten“ gezwungen, dieses Haus zu verkaufen. In einem Bieterstreit zwischen Wertheim, Eigentümer des Kaufhauses im Leipziger Platz nebenan, und der französischen Kaufhauskette Lafayette, die in Berlin Fuß fassen wollte, wurde dem Verein von Wertheim 3,1 Millionen Reichsmark für das Haus geboten (davon 1 Million als Hypothek auf das Grundstück) und der Kauf besiegelt. Von diesem Geld erwarb der VbK die Villa des Barons Erich von Goldschmidt-Rothschild in der Tiergartenstraße 2a (Bild 39), die umgebaut und für die Zwecke des Vereins eingerichtet (Gesamtkosten: etwa 700.000 RM) und 1931 eingeweiht wurde. Das verbleibende Vermögen, immerhin noch 1,5 Millionen RM, erlaubte dem Verein üppige Ausstellungstätigkeit in den nächsten Jahren, bis nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 sich alles änderte: NSDAP-Mitglieder übernahmen den Vorstand (1935), jüdische Vereinsmitglieder mussten den Verein verlassen, und der Plan für die Nord-Süd-Achse der neuen Hauptstadt Germania des Albert Speer (38) machte allen klar, dass auch das Haus Tiergartenstraße 2 nicht mehr lange bleiben konnte. In dieser Situation, so der Bericht, „wendet sich die jüdische Familie Fürstenberg (Egon Sally Fürstenberg) an den Verein und bietet dem Verein ihr Haus Lützowplatz 9 an. … Der Verein … geht auf das Anerbieten ein …und erwirbt nach einer vierteljährlichen Verhandlung das angebotene Haus …“ für 370.000 RM am 10 Dezember 1938 – Ende des 6. Teils des Berichtes. 

Bild 39: Das Künstlerhaus in der Bellevuestraße 3 (links) (Foto von 1900, Fotograf unbekannt) und das Vereinshaus ab 1928 in der Tiergartenstraße 2A (Foto von 1935, Fotograf: Walter Köster, Landesarchiv Berlin Nr. F 290 (08) Nr. 0152454 mit freundlicher Genehmigung).

Was hier aussieht wie ein freundliches Entgegenkommen auf das Angebot der Fürstenbergs ist in Wahrheit ein Ausnutzen der Notlage der Familie – die vierteljährliche Verhandlung wird also eher dem Zwecke gedient haben, den Preis zu drücken, wussten doch alle Beteiligten (insbesondere der aus Parteimitgliedern bestehende Vorstand) im Frühjahr 1938 um die systematische Arisierung jüdischer Geschäfte und Immobilien. Dass die Familie Fürstenberg sich aktiv an der Suche nach einem Käufer beteiligt hat, ist dagegen sehr wahrscheinlich, das hat sie auch im Zuge der „Entjudung“ der Firma Rosenhain gemacht (s. oben, Teil 6). Später (33) wird aus dem freundlichen „Anerbieten“ sogar noch die historisch falsche Behauptung, dieses Angebot sei vom zum VbK gehörenden ausserordentlichen Vereinsmitglied Egon Sally Fürstenberg gekommen (s. oben, Teil 6), schamloser geht es kaum. An anderem Ort und nach dem Krieg wird dieses „Angebot“ sehr wohl in Anführungszeichen gesetzt (39).

Im 7. Teil des VbK-Berichtes geht es dann um das Restitutionsverfahren selbst, das 1949 begann – der „große Umbruch des Reiches“ und der „furchtbare Krieg“ dazwischen kommen sehr kurz weg, die 100-Jahr-Feier seiner Existenz 1941 unter dem Hakenkreuz überhaupt nicht – sie finden sich in anderen Dokumenten ihrer Zeit (40). Dieser 7. Teil fasst die Auseinandersetzungen zwischen dem VbK und den Fürstenberg-Söhnen bis 1956 zusammen und endet 1956; der VbK wird noch weitere drei Jahre warten müssen, bis ein Urteil des Landgerichts Berlin am 6. November 1959 den Streit beendet – und er wird dabei die meisten seiner initial erhobenen Ansprüche und Forderungen verlieren. Einen finalen Teil des Berichtes gibt es nicht, zumindest nicht im Archiv der Akademie der Künste (38).

Literatur

35. https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesentschädigungsgesetz

36. Bundesministerium der Finanzen: Wiedergutmachung – Regelungen zur Entschädigung von NS-Unrecht. Im Internet: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/Broschueren_Bestellservice/2018-03-05-entschaedigung-ns-unrecht.pdf

37. Archiv der Akademie der Künste (AdK): Archivalien-Nr. VereinBK Nr. 27 (Manuskript der Chronik von Arthur Hoffmann von 1956), und Nr. 713 (Schreiben des Rechtanwaltes Graul vom Dezember 1952).

38. Hans J. Reichhardt, Wolfgang Schäche: Von Berlin nach Germania. Über die Zerstörung der Reichshauptstadt durch Albert Speers Neugestaltungsplanungen. Transit Buch-Verlag 1984.

39. Martin-M. Langner: Der Verein Berliner Künstler zwischen 1930 und 1945. In: Verein Berliner Künstler: Versuch einer Bestandsaufnahme von 1841 bis zur Gegenwart. Berlin, Nikolaische Verlagsbuchhandlung 1991 (hier: Seite 110).

40. Die Kunst im Deutschen Reich, 5. Jahrgang, Folge 8/9 (August/September) 1941 (Zentralverlag der NSDAP, Franz Eher Nachf. München), S. 182-187.

Gedenkveranstaltung für die vergessene Berliner Malerin Eugenie Fuchs

Vor dem Gebäude der Urania, An der Urania Nr. 7, wurde am
Sonntag, 22. Oktober 2023, ein Stolperstein zum Gedenken an die jüdische Malerin Eugenie Fuchs verlegt.

Selbstbildnis Eugenie Fuchs

Eugenie Fuchs, geboren 1873 in Berlin, hatte viele Jahre in Schöneberg, an der ehemaligen Nettelbeckstraße gewohnt. 1933 musste sie Berlin verlassen und ging ins sicher geglaubte Exil in Paris. Von dort wurde sie 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Rabbinerin Jasmin Andriani sang und sprach anlässlich der Stolpersteinverlegung ein Kaddish für Eugenie Fuchs. Andriani wies darauf hin, dass ein Kaddish am Grab eines Verstorbenen gesprochen werden soll, da Eugenie Fuchs aber kein Grab habe, käme dieser Stolperstein ihrem Grab am nächsten.

Gedenken an Eugenie Fuchs anlässlich der Stolpersteinverlegung

Rund 40 Personen nahmen an der Verlegung des Stolpersteins teil, die unter erhöhtem Polizeischutz stattfand.

Stolperstein für Eugenie Fuchs

Zuvor gab es in der Urania eine Gedenkveranstaltung, in der das Leben und das künstlerische Werk von Eugenie Fuchs gewürdigt wurde. Die Ehrung fand im Kleist-Saal statt, einem holzgetäfelten großen Raum, der bis 1937 einer jüdischen Loge gehörte, deren Vorsitzender Leo Baeck war.

Kultursenator Joe Chialo sprach ein Grußwort anlässlich der Gedenkveranstaltung in der Urania

Berlins Kultursenator Joe Chialo sprach anerkennende Worte über das Werk der zu Unrecht vergessenen Berliner Malerin Eugenie Fuchs. Erinnern sei wichtig, so Chialo, gerade in der gegenwärtigen Situation, damit sich Ausgrenzung und Verfolgung von Menschen nicht wiederholen.

Im Anschluss berichtete Paul Spies, Direktor der Stiftung Stadtmuseum Berlin, über seine sehr persönliche Verbindung zu Eugenie Fuchs. Im Rahmen der Vorbereitung einer Ausstellung mit dem Titel „Geraubte Mitte“ hatte Spies von der vergessenen Malerin erfahren und stellte fest „sie konnte malen“; eines ihrer Bilder konnte Spies für das Stadtmuseum erwerben.

Paul Spies, Direktor der Stiftung Stadtmuseum Berlin, im Kleist-Saal der Urania

Paul Spies wies auf das Schicksal vieler jüdischer Künstler*innen hin, die, von den Nationalsozialisten vertrieben und ermordet wurden. Es sei wichtig, an ihr Leben und Werk zu erinnern, gerade angesichts der gegenwärtigen Ereignisse im Nahen Osten.

Lutz Mauersberger, der vor wenigen Tagen sein neues Buch (1) über Eugenie Fuchs vorgelegt hat, berichtete sehr kenntnisreich über seine Recherchen zu Leben und Werk der Künstlerin. Nur etwa 10 ihrer Werke waren bisher aufzufinden, vermutlich sind viele Bilder für immer verloren. In den Zwanziger Jahren sei ihre Beteiligung an zahlreichen Ausstellungen nachweisbar. Er freue sich, so Mauersberger, dass zum 150. Geburtstag der Künstlerin erstmals wieder Menschen von ihrem Schicksal erfahren.

Autor Lutz Mauersberger beim Vortrag in der Urania