Die Autos der Familie Fürstenberg

Die Geschichte der Familie Fürstenberg vom Lützowplatz, in zwei Teilen bei mittendran (20. Januar 2024 und 17. Februar 2024) und in 10 Teilen im Blog Jüdisches Leben und Widerstand in Tiergarten erzählt, war ein Foto der Familie schuldig geblieben; es gab nur Einzelfotos von Egon Sally und seinem Bruder Gustav und das eine oder andere der Söhne in fortgeschrittenem Alter. Dieses Defizit soll mit diesem Foto nachgeholt werden (Bild 1).

Bild 1: Ein bislang unbekanntes Foto mit Egon Sally Fürstenberg und seinen vier Söhnen (von rechts nach links): Paul, Fritz, Ulrich und Hellmuth. Die blaue Markierung zeigt eine nachträgliche Retouchierung an, die rote Markierung einen abgeschnittenen Schriftzug, s. Bild 2) (Quelle: Stadtarchiv Nürnberg (1)).

Das Foto stammt aus dem Stadtmuseum Nürnberg (1) und zeigt Egon Sally Fürstenberg mit seine vier Söhnen, Paul, Fritz/Werner, Ulrich und Hellmuth, in einem offensichtlich großen Auto vom Typ Cabriolet. Quelle dieses Fotos ist die nationalsozialistische Hass-Postille „Der Stürmer“ des Julius Streicher in der Ausgabe Nr. 16 von 1940, so dass ich mir und den Lesern den unsäglichen Text und die Bildunterschrift erspare. Dennoch wirft das Bild einige Fragen auf, die wir versuchen wollen zu beantworten. 

Zum einen: Wann ist das Bild entstanden? In dem Artikel von 1940 heißt es lapidar „vor zwanzig Jahren“, das wäre dann 1920, kurz nach dem Ende des ersten Weltkriegs. Zu diesem Zeitpunkt war der älteste der Söhne, Paul, rechts hinten neben dem Vater, 20 Jahre alt, da er 1900 geboren wurde, der jüngste Sohn, Hellmuth, 10 Jahr alt. Der Vater Sally Fürstenberg selbst war 1860 geboren worden, somit also 60 Jahre alt im Jahr 1920 – 1920 könnte also stimmen, vielleicht ein wenig zu früh: Sohn Paul raucht in der Öffentlichkeit und trägt einen Hut, etwas ungewöhnlich für einen Zwanzigjährigen. Die Tatsache, dass der Jüngste auf dem Fahrersitz Platz genommen hat, spricht dafür, dass dieses Foto „arrangiert“ wurde, eine Pose ist, möglicherweise anlässlich einer Besichtigung und Begutachtung des Autos, vielleicht mit einer Kaufabsicht.

Zum anderen: Um was für ein Auto handelt es sich hier? Es fehlt zwar auf dem Bild die meist Auto-typische Frontpartie (Kühler), die eine Identifizierung erleichtern würde, aber nachdem ich das Bild ein paar Experten zukommen ließ, fand einer (danke, Alexander Darda) die Antwort schnell: Es handelt sich um einen Benz Typ 39/100, der zwischen 1912 und 1920 gebaut wurde. Das volle Automobilprofil lässt sich auf den Webseiten der Firma bewundern (2). Denkbar ist, dass die Fürstenbergs einen solchen Benz kaufen wollten oder gekauft haben, aber dazu unten mehr.

Weitere Merkmale des Fotos fallen auf: Nicht nur, dass das Foto vom Auto vermutlich vorn abgeschnitten wurde, am unteren Bildrand ist auch ein zweizeiliger Schriftzug halb sichtbar (Bild 2), in der oberen Zeile sieht man noch „lb. Meyer Nachf.“, was „Albert Meyer Nachfahren“ heißen könnte; darunter ein einzelnes Wort, in dem „….schneider“ vorkommen könnte. Dabei kann es sich entweder um die Firmenangabe des Fotografen handeln, die allerdings normalerweise nicht im, sondern eher unter dem Foto steht; oder es handelt sich um ein Werbefoto des Autobesitzers oder Autoverkäufers, z.B. einer Firma, die Daimler-Fahrzeuge verkauft.

Bild 2: Abgeschnittener Schriftzug auf dem Foto (Bild 1, rote Markierung)

Am auffälligsten ist auf dem Foto der blaue Fleck im Bereich des Vordersitzes (siehe Bild 1), hinter dem Knaben Hellmuth. Hier ist offensichtlich eine Person aus dem Bild retuschiert worden, unsachgemäß, da sehr auffällig, aber vermutlich war das 1940 nicht so wichtig wie die Tatsache, dass diese Person überhaupt nicht im Bild erscheinen sollte. Es kann sich daher nicht um die jüdische Ehefrau des Sally Fürstenberg, Rosa geborene Rosenhain, gehandelt haben, die 1918 noch am Leben war (sie starb 1924). Auch der Bruder von Sally Fürstenberg, Gustav, Mitinhaber der Firma Rosenhain, wird es nicht gewesen, da dies zur antisemitischen Polemik des Blattes durchaus gepasst hätte; er wird in dem besagten Artikel auch erwähnt und mit einem Foto gezeigt. Es hat sich möglicherweise um jemanden gehandelt, dessen Bild zusammen mit den Fürstenbergs zu zeigen 1940 nicht (mehr) opportun war, eine lokale (Berliner) oder nationale Person von Bedeutung, die sich, anders als die Fürstenbergs, die gerade (1938) aus dem Land vertrieben worden waren, nicht in Gesellschaft von Juden zeigen wollte, sollte oder durfte. Wir werden diese Fragen wohl nicht beantworten können.

Bleibt die Frage: Haben die Fürstenbergs dieses Auto besessen oder gekauft? Um dies zu klären, konnten wir auf neue, spannende Quellen zugreifen aus einer Zeit, als Datenschutz offenbar ein Fremdwort war: Im Auto-Adressbuch von 1909, in dem alle Autobesitzer des Reiches gelistet sind, war Egon Sally Fürstenberg mit seiner Adresse und dem Autokennzeichen (3937) aufgeführt, allerdings wird hier der Typ seines Autos nicht genannt, sondern nur als Luxuswagen klassifiziert (Bild 3). Zu diesem Zeitpunkt gab es gerade 10.000 Fahrzeuge im deutschen Reich, da reichte eine vierstellige Nummer noch aus.

Bild 3: Egon Sally Fürstenberg in der Liste der Autobesitzer 1909 (Quelle: https://wiki.genealogy.net/Deutsches_Automobildreßbuch/Adressbuch_1909)

Ihren Siegeszug traten die Personenkraftwagen nach dem Ersten Weltkrieg an. Vor 1914 waren in Berlin knapp 7.000 Autos registriert, 1922 waren es schon 17 000, 1926 rund 50 000 und 1932 über 114 000 (3). Mit der steigenden Zahl der Autos gab es in Berlin – und vergleichbar auch in vielen anderen Städten des Deutschen Reiches (4) – von 1926 bis 1934 jährlich eine Liste aller in Berlin zugelassenen Autos, einschließlich Nummernschilder, Autotyp und Name und Adresse des Autobesitzers. Die meisten dieser Bände für Berlin sind digital verfügbar (1926-1928, 1932-1934) (5), andere kann man in diversen Bibliotheken einsehen. 

Bild 4: Liste der Personenkraftwagen der Firma Rosenhain und der Familie Fürstenberg im Jahr 1934 (aus (5). Gelistet sind die Nummern (13063), der Typ (Personenwagen=P, Lastwagen= L) die Adresse des Besitzers und ggfls. der Wagentyp (Bck=Buick, Stud=Studebaker, Ex=Excelsior).

Die ältesten verfügbaren Bände 1 bis 3 (1926 bis 1928) weisen nur die Firma Rosenhain (Leipziger Str. 72/73) als Eigentümerin eines Personenkraftwagens aus, ohne allerdings den Wagentyp zu nennen. Im letzten der Bänden 7 bis 9 (1932 bis 1934) hatte der Vater, Egon Sally Fürstenberg, einen Personenkraftwagen vom Typ Lincoln, und im 9. Band (1934) hatten auch drei der vier Söhne je ein Auto, nur Paul, der älteste hatte keines auf seinen Namen; er fuhr möglicherweise den auf den Namen seines Vaters angemeldeten Wagen, immerhin war 1934 Egon Sally Fürstenberg fast 75 Jahre alt. Keines dieser vier Autos (Bild 4) war ein in Deutschland produziertes Fahrzeug (Borgward, Daimler-Benz, Horch, BWM, DKW u.a.m.), sondern es handelt sich ausschließlich um ausländische Modelle: Buick, Excelsior, Lincoln, Studebaker. Allerdings hatte die Firma Rosenhain 1934 sieben weitere Autos in ihrem Bestand (s. Bild 4), darunter zwei weitere Buick, ein Ford-Modell, und einige heute nicht mehr bestehende deutsche Auto-Typen wie die „Nationale Automobil-Gesellschaft“ (NAG) und Brennabor (Bild 5); sechs der sieben Wagen waren Lastwagen.

Bild 5: Logo (Schriftzug) der Pkw-Firma Brennabor (Quelle: Wikipedia, gemeinfrei).

Am Schluss konnten wir auch die Frage „Fotograf oder Autohändler?“ aufklären: in der Tagespresse von 1902 konnte man lesen, dass der Hoffotograf Albert Meyer seine Zweigniederlassung in der Potsdamer Straße 125 an den Fotografen Oscar Brettschneider verkauft hatte, der diese als eigenständige Hauptniederlassung weiterbetreiben würde (Bild 6). Im Branchenbuch 1920 fand sich eine Anzeige des Fotografie-Studios „Albert Meyer, Nachfolger Oscar Brettschneider“, von dem wir nunmehr annehmen können, dass dieses Studio für das Foto mit den Fürstenbergs verantwortlich war, und dass das Foto vermutlich deshalb entstand, weil die Fürstenbergs dieses Auto gekauft hatten – diese Tradition gibt es noch heute.

Bild 6: Übernahme des Fotostudios Albert Meyer durch den Fotografen Oscar Brettscheider 1902 (Berliner Börsenzeitung, BBZ) (oben) und Auszug aus dem Branchenteil des Berliner Adressbuchs 1920.

Literatur

1. Stadtmuseum Nürnberg: E39 Nr. 00119_002_001.

2. https://mercedes-benz-publicarchive.com/marsClassic/de/instance/ko/Benz-39100-PS.xhtml?oid=4353

3. Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/2001 www.berlinische-monatsschrift.de

4. https://wiki.genealogy.net/Kategorie:Adressbuch_der_Fahrzeugbesitzer

5. Auto-Adressbücher für Berlin: https://digital.zlb.de/viewer/metadata/34280679/ , https://www.digi-hub.de/viewer/toc/BV044786485/

Apotheker Lewy, Lützow-Apotheke (Teil 3)

Lange bevor Dr. Curt Lewy am 15. August 1932 die Apotheke seines Vaters übernahm, machte er auf einige sehr spezielle Weisen auf sich aufmerksam, und auch sein Lebenslauf davor wies einige für den Geburtsjahrgang 1899 typische Abweichungen vom Üblichen auf. 

Notabitur und Studium nach dem Krieg

Geboren am 1. August 1899, ging er ab dem 6. Lebensjahr (Ostern 1905) zum Mommsen-Gymnasium (bis 1904: Kaiserin-Augusta-Gymnasium) in der Cauerstraße 36 in Charlottenburg. Curt war 14 Jahre alt, als mit der Ermordung des Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich in Sarajewo (Bosnien, seit 1878 zu Österreich-Ungarn gehörig) das Deutsche Reich „in den Ersten Weltkrieg schlitterte“, wie es nachfolgend Historiker in Verkennung der Tatsachen gern relativierend ausgedrückt haben. Da war er noch zu jung für den Militärdienst, aber drei Jahre später, am 28. April 1917, erhielt er, zusammen mit vielen anderen gleichaltrigen Schülern dieses und anderer Gymnasien im Deutschen Reich, ein sogenanntes Notabitur unter Befreiung von der mündlichen Prüfung, um am Krieg teilnehmen zu können. Bis zu seiner Einberufung zum Ersatz-Bataillon Eisenbahnregiment I am 15. Juni 1917 war Curt als Hilfsmilitärkrankenwärter im Lazarett auf dem Tempelhofer Felde tätig. „Ich habe am Feldzug in Russland und Frankreich teilgenommen und gedenke nunmehr die Apothekerlaufbahn in der väterlichen Apotheke zu beginnen“, schrieb er am 28. Dezember 1918 in einem handgeschriebenen Lebenslauf in den Akten der Lützow-Apotheke (1).

Da war der Wahnsinn des ersten weltweiten Krieges schon fast wieder vorbei, bei dem mehr als 60 Millionen Soldaten unter Waffen waren, von denen nahezu 9 Millionen ums Leben kamen, pro Tag etwa 6.000. Bei den Mittelmächten (Deutschland, Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich, Königreich Bulgarien) betrug das entsprechende Verhältnis etwa 25 Millionen Soldaten zu 3,5 Millionen Todesfällen, bei der sogenannte Entente (Frankreich, Großbritannien und sein britisches Weltreich, Italien, die USA und Russland) 40 Millionen zu 5 Millionen. Der Eintritt der Amerikaner in den Krieg im April 1917 und die Revolution in Russland im Oktober 1917 brachten die Wende im Kriegsverlauf. Aber die Friedensverhandlungen 1919, von den Rechtskonservativen als „Diktatfrieden von Versailles“ bezeichnet, trugen zum Aufstieg der Nationalsozialisten bei, ebenso wie der Versuch der Kommunisten um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, 1919 die Revolution in Deutschland zu entzünden.

Patriotismus oder Antisemitismus?

Bild 1: Eintrag zur Immatrikulation (10. April 1921) und Exmatrikulation (8. März 1923) sowie zur Wohnung im SS 1926 (Archiv der Humboldt-Universität Berlin mit freundlicher Genehmigung

An der patriotischen Gesinnung des Curt Lewy hat weder dieser Kriegsverlauf noch seine eher kurze soldatische Erfahrung etwas geändert, wie ein Dokument aus seiner Studienzeit belegt. Aber der Reihe nach: Er begann seine Apothekerlaufbahn am 1. Januar 1919, wie er in einem Lebenslauf schrieb, zunächst als Praktikant in der väterlichen Apotheke vom 28. Dezember 1918 bis zum 30. September 1920. Am 10. April 1921 immatrikulierte er sich an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin im Fach Pharmazie und studierte dort bis zum 8. März 1923 (Bild 1). Das pharmakologische Staatsexamen bestand er im April 1923 mit der Note „rite“ (befriedigend). In dieser Zeit wohnte er zuhause bei seinen Eltern in der Keithstraße 18. Die Promotion erfolgte am 16. Dezember 1927 mit einer Dissertation zum blauen Farbstoff (Bild 2).

Bild 2: Titel der Promotionsschrift (Archiv der Humboldt-Universität Berlin mit freundlicher Genehmigung).

Im Studium war er in der „Wandergilde, Jugendgruppe nationaldeutscher Juden“ organisiert, einer Jugendgruppierung des Verbandes nationaldeutscher Juden (VnJ), eine konservative jüdisch-politische Organisation in Deutschland. Der VnJ wurde im März 1921 von Max Naumann (1875-1939) gegründet und 1935 verboten. Aufgrund des prägenden Einflusses des Gründungsvaters wurden die Mitglieder des Verbands auch als „Naumann-Juden“ oder „Naumannianer“ bezeichnet. Naumann und der VnJ befanden sich damit in scharfer Opposition zum Zionismus und zu den meisten jüdischen Verbänden und unterschieden streng zwischen Deutsch-Juden und Fremd-Juden. Besonders die ins Reich geströmten orthodoxen Ostjuden erregten seinen Zorn. Naumann und die Mitglieder des VnJ schlossen sich der Idee eines „deutschen Gottes“ an und begingen christliche Feiertage. Anfangs sah Naumann sogar in Adolf Hitler eine positive politische Kraft, dessen Antisemitismus tat er als unwichtig ab. Trotz (oder wegen) der Loyalitätsbekundungen gegenüber dem Nationalsozialismus und trotz seiner deutschnationalen Ausrichtung wurde Naumanns Verband nationaldeutscher Juden bereits am 18. November 1935 aufgelöst, früher als andere jüdische Organisationen (2). Unter Historikern ist dieser „jüdische Antisemitismus“ Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion gewesen (3), wenngleich heute nicht mehr sehr präsent.

Unter dem Motto „Ducunt volentem fata, nolent trahunt“ (Das Schicksal führt die Willigen und schleppt die Unwilligen) veröffentlichte der Student Curt Lewy einen flammenden Aufruf an seine jüdischen Mit-Kommilitonen (Bild 3), in dem es (unter anderen) heißt: „Werdet Deutsche! Die Jugend vor allem muß helfen am Aufbau deutschen Geistes und der deutschen Form! Ablegen soll sie alles, was ihr noch an sogenannten „kulturellen“ jüdischen Gütern anhängt … Herauszuschmelzen den letzten Rest fremder Schlacke in innigster Verflechtung mit unserer heiligen Mutter Deutschland“ (4).

Bild 3: Der Aufruf des Studenten Curt Lewy, Mitglied der Jugendgruppe nationaldeutscher Juden im Mitteilungsblatt des Verbandes nationaldeutscher Juden (aus: (4)).

Es darf sehr wohl bezweifelt werden, dass diese extreme Assimilierungspolitik – völlige Auslöschung der jüdischen Identität – von der Mehrheit der deutschen Juden zu dieser Zeit so geteilt wurde, wie gelegentlich vermutet (5), auch wenn sicherlich viele Juden der Auffassung waren, dass Anpassung statt Abgrenzung die Situation der Juden im Deutschen Reich verbessern würde. Selbst den Nazis war die Anbiederung durch den VnJ suspekt. Und diese Position hat Curt Lewy auch nicht vor Vertreibung gerettet.

Ein Lebensretter und seine Familie

Eine andere Tat des Curt Lewy hat dagegen nachhaltigere Folgen gehabt: In der Nacht vom 10. auf den 11. November 1926 rettete er an der Weidendammbrücke einem jungen Mann, der in suizidaler Absicht in die Spree gesprungen war, das Leben, indem er mutig hinterhersprang und ihn aus dem Wasser zog. Für diese Tat ist er im Februar 1927 vom preußischen Ministerium mit der Rettungsmedaille ausgezeichnet worden (Bild 4), wie er noch einige Jahre später in seinem Lebenslauf mit Stolz vermerkte.

Bild 4: Zeitungsnotizen zur Lebensrettung (Berliner Tagblatt und Handelszeitung, BTHZ vom 15.10.1926) und zur Verleihung der Rettungsmedaille (BTHZ vom 27.2.1927).

Am 29. Oktober 1927 heiratete er Johanna Breslau (Bild 5), die am 15. Mai 1904 in Wollstein (Provinz Posen) (heute Wolsztyn, Polen) geboren worden war. Die Daten des 1930 geborenen Sohnes unterliegen noch bis 2040 dem Datenschutz, so dass wir daher keine weiteren Informationen zu ihm haben. Am 15. August 1932 übernahm Curt Lewy förmlich die Leitung der Lützow-Apotheke, nachdem er, wie zuvor sein Vater, beantragt hatte, nicht im Haus der Apotheke, sondern in der Keithstraße 17 zu wohnen. Am 16. Oktober 1935 wurde das Eigentum an Apotheke und Wohnhaus Wichmannstraße 28 im Grundbuch von Albert Lewy auf Curt Lewy übertragen, zu einem formellen Kaufpreis von 200.000 Reichsmark (RM).

Bild 5: Johanna Lewy geborene Breslauer (* 15. Mai 1904) um 1930 (Fotograf unbekannt, Quelle: Ancestry)

Curt Lewys Vater Albert Lewy verstarb am 10. April 1936 in Berlin. Er hatte gemeinsam mit seiner Frau Margarethe, geborene Rosendorff im Jahr 1907 ein Testament verfasst, dass zu den Akten genommen worden war. Das Testament war am 21. April 1936 eröffnet worden, aber es war – vermutlich – kein Erbschein ausgestellt worden, da die Ehefrau noch am Leben war; sie starb am 1. Mai 1939 in Rio de Janeiro, Brasilien (siehe Teil 4).  Als Curt Lewy nach dem Krieg diesen Erbschein beantragte, konnte die Akte im Landesarchiv Berlin nicht mehr aufgefunden werden, da sie durch Brandeinwirkung im Krieg vernichtet worden war (6).

Die Flucht nach Brasilien

Trotz seiner nationaljüdischen Gesinnung muss Apotheker Dr. Curt Lewy die Auswirkungen der vielen antisemitischen Gesetze nach der Machtergreifung der Nazis 1933 gespürt haben. Er verkaufte seine Apotheke unmittelbar nach dem Tod seines Vaters am 16. April 1936 und kündigte seine Stellung als Apothekenleiter mit Schreiben an den Kreisarzt des Bezirks Tiergarten vom 9. Juni 1936 bereits zum 1. Juli 1936, zusammen mit der Ankündigung, demnächst Deutschland zu verlassen. Der Kaufpreis von Apotheke, Wohnhaus und Apothekenlizenz betrug laut Kaufvertrag vom 4. Mai 1936 290.000 RM, von denen 100.000 Mark in bar bezahlt wurden, 90.000 Mark durch Übernahme einer Hypothek beglichen wurden, und die verbleibenden 100.000 Mark bis 1946 gestundet wurden zu einem Zinssatz von 6%. Die Apotheke wurde von dem Apotheker Curt Blew aus Gransee (Mark) erworben, der bis dato dort die Königliche Adler-Apotheke geführt hatte. Für die die Übernahme der Lützow-Apotheke musste er nachweisen, kein Jude zu sein. Aus dieser Zeit ist ein Foto der Innenansicht der Apotheke überliefert (Bild 6) (7). 

Bild 6: Innenaufnahme der Apotheke, vermutlich 1937. Die Datierung wird ermöglicht durch das Plakat unten links (GEBT MIR VIER JAHRE ZEIT), das auf eine Hitler-Ausstellung vier Jahre nach der Machtergreifung 1933 hinweist (Quelle: Landesarchiv Berlin, Rep 290 Nr. 0268832 mit freundlicher Genehmigung).

Dr. Curt Lewy floh 1936 aus Deutschland nach Brasilien, gemeinsam mit seiner Frau, seinem Sohn und seiner Mutter. Im vierten und letzten Teil dieser Geschichte wird es um das Leben in Brasilien, die Rückkehr nach Deutschland, das Ergebnis des Wiedergutmachungsverfahrens und um die Frage gehen, was eigentlich aus der Lützow-Apotheke wurde.

Literatur

1. Landesarchiv Berlin, A Rep. 32-08 Nr. 202 (Lützow-Apotheke).

2. Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Verband_nationaldeutscher_Juden

3. Peter Loewenberg: Antisemitismus und jüdischer Selbsthaß. Eine sich wechselseitig verstärkende sozialpsychologische Doppelbeziehung. Geschichte und Gesellschaft, 5. Jahrgang (1979), Seite 455-475.

4. Mitteilungsblatt des Verbandes nationaldeutscher Juden, Jahrgang 1922, Nr. 4 (April)

5. Frank Leimkugel: Wege jüdischer Apotheker. Emanzipation, Emigration und Restitution: Die Geschichte deutscher und österreichisch-ungarischer Pharmazeuten. Govi Verlag, Eschborn 1999 (2. Auflage), S. 111ff.

6. Landesarchiv Berlin: A Rep. 348 Nr. 19365 (Erbscheinakte zur Testamentsakte)

7. Landesarchiv Berlin: B Rep. 012-485 (Lützow-Apotheke Berlin)

Das Auktionshaus Paul Graupe, Lützowstraße 38

Ein Beitrag, gemeinsam mit Marc-Thomas Bock

Schon lange vor dem Münchener Fund der Sammlung Gurlitt im Jahr 2012 standen Fragen zur Herkunft von geraubten Kunstwerken und eventuell relevanter Restitutionsansprüche im Fokus der Provenienzforschung. Die Dimension der von den Nazis ab 1933 betriebenen Enteignung von in jüdischem Besitz befindlicher Kunst ist auch heute noch keineswegs in Gänze erfasst und deshalb auch wichtiger Teil der gegenwärtigen Holocaust-Forschung. Dabei vollzog sich dieser Diebstahl auf sehr viel subtileren Wegen, als es das Wort „Raub“ beschreiben könnte.

Bild 1: Buchtitel zu Paul Graupe im Böhlau-Verlag 2016.

Ein jüdisches Schicksal aus dem Berliner Tiergarten macht dies besonders deutlich: Im Jahre 1907 hatte der 1881 in Neutrebbin im Oderbruch geborene Paul Graupe (Bild 1) als gelernter Buchhändler ein Antiquariat in der Kochstraße 3 in Kreuzberg eröffnet. Schon bald mussten größere Räumlichkeiten gefunden werden. Im Jahre 1911 dann zog das „Antiquariat Paul Graupe“ in die Lützowstraße 38 (Bild 2), wo in den Jahren bis 1927 bedeutende Kunstsammlungen und Privatbibliotheken versteigert wurden (1).

Bild 2: Foto des Haus Lützowstrasse 38 im Jahr 1939: Links das inzwischen von einem anderen Antiquar (Hans Linz) betriebene Geschäft, rechts vom Eingang eine Installationsfirma (Oscar Schroeler), dazwischen, wo auf dem Foto 1939 ein Optik- und Fotogeschäft war, lag 1927 ein Weinlokal (aus: Bauakte im Landesarchiv (3)).

Bis 1922 wohnte Paul Graupe in der Lützowstraße 38, im ersten Stock oberhalb seines Geschäftes, wo auch die Versteigerungen stattfanden, in einem sogenannten „Berliner Zimmer“, zwei durch eine Schiebetür verbundene große Wohnzimmer. Der Grafiker Emil Orlik (1870-1932) hat diese sehr beengte Situation eindrucksvoll dargestellt (Bild 3). Dann war offenbar diese Enge für die wachsende Familie zu groß, ab 1923 und bis 1926 wohnte Paul Graupe mit Frau und Sohn in der Genthiner Straße 28 (Bild 4). Es ist unklar, ob die Wohnung oberhalb der Verkaufsräume für Auktionszwecke beibehalten wurde; vermutlich ja, da nicht nur das Orlik-Bild von 1922 dies zeigt, sondern auch die Biographie der Sohnes des Berliner Galeristen Gustav Nebehay (1881-1935), Christian M. Nebehay (1909-2003) daran erinnert (2). Im Jahr 1926 zog die Familie um in die Hubertusallee 42-44, während das Antiquariat noch ein Jahr in der Lützowstraße verblieb. Die im Grunewald gemietete Wohnung war bekannt für ausschweifende Festlichkeiten mit bis zu 150 Personen (2).

Bild 3: Plakat einer Kunstauktion des Antiquariat Paul Graupe 1922 nach einer Lithografie von Emil Orlik (aus: Wikipedia, gemeinfrei).
Bild 4: Einträge der Familie von Paul Graupe im Adressbuch von Berlin zwischen 1908 und 1937.

Im Jahre 1917 hatte Paul Graupe die Katharina (Käthe, Kate) Florentine Henriette Joske (1889-1945) geheiratet, die in erster Ehe seit 1913 mit Georg Cohen verheiratet gewesen war; diese Ehe war am 12. Januar 1917 geschieden worden. Aus der Ehe von Paul und Katharina Graupe entstammte das einzige Kind der Familie, Thomas Peter Graupe, geboren am 19. Juni 1920 in Berlin. Der emigrierte nach Großbritannien und nannte sich Grange nannte; von dort beantragte er in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts Wiedergutmachung. Er starb am 15. Januar 1978 in London.

Aus assimiliertem Judentum entstammend, hatte Paul Graupe nach seiner Lehre in fünf Buchhandlungen von Kiel bis München gearbeitet, hatte Netzwerke geknüpft und durch Fleiß und Zuverlässigkeit das Vertrauen einflussreicher, durchaus nicht nur jüdisch-stämmiger Sammler sowie Kunst-und Buchhändler erworben. Noch in der Lützowstraße verlegte sich sein Schwerpunkt zunehmend auf die Tätigkeit des Kunst-Auktionators. Hier versteigerte er 1925 aufsehenerregende Werke junger aufstrebender Künstler wie Picasso oder Chagall. Immer wieder jedoch nahm er ganze Bibliotheken in Konzession und verkaufte beziehungsweise versteigerte wertvolle, in der Frühzeit des Buchdrucks gedruckte Werke und Erstausgaben.

Bild 5: Grundriss des Erdgeschosses Lützowstraße 38 (aus: Bauakte im Landesarchiv (3)).

Der Umzug des Antiquariats bzw. des Auktionshauses in die Tiergartenstraße 4 erfolgte 1927 nach einem Brand in der Lützowstraße 38: Zwischen dem Antiquariat links und dem Installateur auf der rechten Seite des Hauses lag – links vom Eingang – seinerzeit ein Weinrestaurant (Bild 5), dessen Küche im Keller untergebracht war. Als es dort im Januar 1927 zu einem begrenzten Brand gekommen war, stellte heraus, dass diese Küche ohne Betriebserlaubnis genutzt worden war. Um der Hauseigentümerin die Mietennahmen aus Restaurant weiterhin zu sichern, wurde der Mietvertrag mit Paul Graupe zum 1. Oktober 1931 gekündigt, da im Antiquariat eine entsprechende Erlaubnis zur Einrichtung einer Küche vorhanden war (3). Paul Graupe mietete stattdessen das Obergeschoß der Villa Tiergartenstraße 4 (Bild 6), die zu diesem Zeitpunkt den Liebermann´schen Erben gehörte: Der frühere Besitzer, der geheime Kommerzienrat Georg Liebermann (1844-1926), ein Bruder von Max Liebermann (1847-1935), war 1926 verstorben, hatte aber bereits zu Lebzeiten (ab 1925) an den Antiquar Hermann Ball und dessen Söhne Alexander und Richard aus Dresden vermietet. Als Paul Graupe daher 1927 in die Villa Tiergartenstraße 4 umzog, verlegte er damit nicht nur seinen Arbeitsmittelpunkt in das Zentrum der Berliner Kunstsammler und Kunstgalerien, während die meisten freischaffenden Künstler weiterhin im Lützow-Viertel südlich des Landwehrkanals lebten und arbeiteten (4). Gleichzeitig ging er mit dem Antiquariat Hermann Ball eine für beide Seiten lukrative Geschäftsverbindung ein.

Das Auktionshaus Graupe und die Firma Ball & Graupe waren in jenen Jahren nicht nur für die Versteigerung umfangreicher Privatsammlungen berühmt, sondern auch und vor allem für ihre erstklassigen und aufwändig gestalteten Kataloge bekannt: Im Heidelberger Universitätsarchiv sind diese mehr als 150 Graupe-Kataloge und über 20 Ball & Graupe-Kataloge archiviert und digital zugänglich (5), die heute mehr denn je als Forschungsgrundlage für Provenienz- und Restitutionsverfahren von geraubter Kunst dienen können. Im Tiergartenviertel kamen unschätzbare Kunstwerke wie etwa aus den Sammlungen des Erich Baron von Goldschmidt-Rothschild im März 1931 unter den Auktionshammer. Der Umzug im Jahr 1932 in die Bellevuestraße 3, in direkter Nachbarschaft zum Haus der Kunst des Vereins Berliner Künstler, erlaubte es dem Auktionshaus, die Räumlichkeiten des VBK für Ausstellungen und Auktionen zu nutzen; dies allerdings nur für kurze Zeit, da der VBK bereits ein Jahr später in die Tiergartenstraße 2 umzog (siehe JUELE vom 26. September 2023).

Bild 6: Villa in der Tiergartenstraße 4, die 1927 den Liebermann´schen Erben gehörte. Die Villa wurde 1935 von der NSDAP gemietet und 1940 gekauft und ging dann als „T4“ und Brutstätte des NS-„Euthanasie“-Programms in die Geschichte ein (Foto: https://war-documentary.info/tiergartenstrasse-4-in-berlin/)

Mit der Machtergreifung der Nazis im Januar 1933 waren nun auch jüdische Antiquare, Sammler, Kunsthändler und Auktionshäuser akut von Repressalien betroffen. Nach dem  Umzug 1932 begann Paul Graupe mit Versteigerungen der Bestände von in Bedrängnis geratenen jüdischen Berufskollegen, so die Sammlung des Kaufmannes Max Silberberg. Die schon seit 1931 bestehende „Reichsfluchtsteuer“ (6) sollte es Wohlhabenden schwer machen, Kapital oder Wertbesitz unversteuert ins Ausland zu verbringen. Nun wurde die Steuer in ein antisemitisches Rechtsmittel umgewandelt, um den von immer stärkeren Repressalien betroffenen Juden möglichst viel Vermögen abzupressen. Das betraf zunehmend auch bis dahin reichsweit bekannte und geachtete Kunsthändler und Sammler wie Walter Feilchenfeld, Herbert Guttman, Alfred Flechtheim, oder die Hamburgerin Emma Budge.

Im Gegensatz zu vielen anderen jüdischen Kunsthändlern gelang es Paul Graupe jedoch zunächst, eine Sondererlaubnis als Auktionator von der Reichskammer der Bildenden Künste zu erhalten. Die Gründe, weshalb ihm diese zugestanden wurde und wie er sein Privileg nutzte, sind nach seinem Tode diskutiert worden. Zum einen trugen sein Prestige und sein unbescholtener Ruf dazu bei, dass sich bedrängte Juden vertrauensvoll an ihn wandten, um von ihm die nun schon dringend zur Ausreise benötigten Barmittel zu erhalten und sich so ins Ausland zu retten. Der Großteil der Auktionserlöse wurde durch Zuschläge von Graupes langjährigen und Valuta-zahlenden Interessenten aus dem westlichen Ausland und Übersee bestritten. Zum anderen hatte Graupe die so gewonnenen Devisenbeträge abzüglich seiner eigenen Konzession und einem Bruchteil des Wertes für die Besitzer der Kunstwerke an die Nazis abzuführen. Die um ihre Besitztümer geprellten Kunstsammler, aber auch ehemalige, jetzt mit Berufsverbot belegte Konkurrenten Graupes, waren so in der Lage, wenigstens das Geld für die Flucht und die Kosten für die Visabeschaffung aufzubringen.

Doch schließlich kam auch für Paul Graupe das Aus: Er musste sein Geschäft 1937 „arisieren“ und übertrug die Führung an seinen langjährigen Mitarbeiter Hans W. Lange. Die letzte Auktion unter seinem Namen fand im Oktober 1936 statt. Nach seinem Ausschluss aus der Reichskulturkammer floh er 1937 über die Schweiz nach Paris, nachdem er bereits zuvor in Berlin einen neuen Kunsthandel – die Firma „Paul Graupe & Cie., Paris “ – gegründet hatte. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht 1941 musste er weiter nach New York flüchten. Dort verstarb seine Frau Katharina (Kate) am 5. Januar 1945. Nach dem Krieg kehrte Paul Graupe nach Paris zurück und begann, dem Verbleib seiner Kunstbestände nachzuforschen. Schwer erkrankt, verstarb er während eines Klinikaufenthaltes 1953 in Baden-Baden.

Literatur

1. P. Golenia. K. Kratz-Kessemeier, I. Le Masne de Chermont: Paul Graupe (1881-1953). Ein Berliner Kunsthändler zwischen Republik, Nationalsozialismus und Exil. Böhlau Verlag Köln 2016.

2. Christan M. Neberhay: Die goldenen Sessel meines Vaters Gustav Nebehay (1881-1935), Antiquar und Kunsthändler in Leipzig, Wien und Berlin. Edition Brandstätter Wien 1983.

3. Bauakte im Landesarchiv Berlin: B Rep. 303 Nr. 4340.

4. Kunst im Lützow-Viertel: https://www.mittendran.de/spaziergang-die-vergangenheit-24-kunstsammler-kunsthaendler-und-kuenstler/

5. Heidelberger Universitätsbibliothek: https://katalog.ub.uni-heidelberg.de/cgi-bin/search.cgi

6. Reichsfluchtsteuer: https://de.wikipedia.org/wiki/Reichsfluchtsteuer

Die Familie Popper, Lützowplatz 2 (Teil 2)

Julius Popper, geboren in Hildesheim am 5. Oktober 1822, war der erste und für lange Zeit der einzige der Popper-Ahnen, der nicht nur eine höhere Bildung erhielt, sondern der auch eine seiner Ausbildung entsprechende akademische Karriere anstrebte, der aber zu früh verstarb, um sie zu erreichen.

Schule in Hildesheim, Studium in Berlin und Leipzig

Vermutlich ging er, wie alle seine Geschwister, an die jüdische Gemeindeschule in Hildesheim, die in den Jahren 1831 bis 1844 vom Landrabbiner Levi (Löb) Bodenheimer (1807-1868) geleitet wurde. Von diesem haben wir ein genaues Bild (Bild 1), dank des Zeichentalents von Julius Bruder Isidor Popper (1816-1884), der uns später noch einmal beschäftigen wird.

Bild 1: Der Hildesheimer Rabbiner Levi Bodenheimer (1807-1868) nach einer Zeichnung von Isidor Popper (Quelle: Leo Baeck Institute, New York mit freundliche Genehmigung)

Mit 21 Jahren, am 7. September 1841 bestand Julius das Abitur am Gymnasium Andreanum in Hildesheim (heute: Scharnhorst-Gymnasium), einer ehemaligen Klosterschule mit langer Tradition: Das Gymnasium war bereits 1225 gegründet worden, wurde ab 1542 (nach der Reformation 1517) kurzzeitig evangelisch geführt, und war ab 1546 in städtische Trägerschaft; ab 1850 war es zusätzlich Realgymnasium. Es hatte im 19. Jahrhundert viele jüdische Schüler, wie die Schul-Annalen ausweisen (1).

Unmittelbar im Anschluss daran, am 20. Oktober 1841, immatrikulierte er sich an der Friedrich-Wilhelms-Universität (FWU) Berlin im Fach Philosophie. Sein Studium dauerte bis zum 31. Januar 1846 (Exmatrikulation). In dieser Zeit wohnte er im jüdischen Waisenhaus für Knaben in der Rosenstraße 12, und wir wissen von dessen Leiter, Baruch Auerbach (1793-1864), der ihm später ein Zeugnis ausstellte, dass er dort als einer von zwei Erziehern gegen Kost und Logis arbeitete, um sich so das Studium zu verdienen. Unter dieser Adresse ist er auch im Berliner Adressbuch erstmalig 1843 gelistet, und letztmalig 1852 (Bild 2).

Bild 2: Immatrikulation 1841 (0ben) und Exmatrikulation 1844 (unten) an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin (Quelle: Archiv der Humboldt-Universität Berlin), dazwischen der erste (1843) und der letzte (1852) Eintrag im Adressbuch von Berlin.

Erzieher am Auerbach´schen Waisen-Institut

Das von Baruch Auerbach 1833 gegründete jüdische Waisen-Erziehungsinstitut war zunächst für nur 4 Knaben eingerichtet worden, aber bereits 10 Jahre später waren es 18, die dort zeitgleich bis zur Entlassung in das Berufsleben wohnten. Sie besuchten in dieser Zeit die ebenfalls von Auerbach geleitete jüdische Gemeinde-Knabenschule. Das Waisenhaus wurde von privaten Spenden jüdischer Gemeindemitglieder in Berlin unterstützt. Jährlich veröffentlichte Auerbach eine Fortschrittsbericht, in dem nicht nur die Einnahmen und Ausgaben des Waisenhauses und die Sponsoren gelistet wurden, sondern auch, durchaus im Detail, die erzieherischen und berufliche Erfolge seiner Zöglinge dokumentiert wurden, und als deren Anzahl größer wurde, auch eine diesbezügliche Statistik eingefügt war (Bild 3). Ab 1844 gab es in der Rosenstraße auch eine Waisenhausabteilung für Mädchen. 

Bild 3: Statistik der beruflichen Erfolge der ersten 60 Knaben des jüdischen Waisenhauses des Baruch Auerbach aus dem Jahresbericht Nr. 19 (1852), Seite 14.

Mit dem Ende seines Studiums 1847 beantragte Julius Popper die Einbürgerung in Preußen, während sein Vater Meyer Popper in Hannover im Jahr 1847 die Entlassung seines Sohnes aus der hannoverschen Staatszugehörigkeit beantragte (2). Julius erhielt den preußischen Bürgerbrief am 22. Juli 1848. 

Prediger und Religionslehrer in Dessau

Seine erste Stelle nach dem Studium trat er 1852 als Lehrer und Prediger der jüdischen Gemeinde Dessau sowie als Religionslehrer an dortigen Franzschule an, nachdem er sich noch von Berlin aus auf die frei gewordene Stelle dort beworben hatte. Gleichzeitig setzte er seine Studien an der Universität Leipzig fort, wo er 1854 die Promotionsprüfung ablegte mit einer handgeschriebenen, in lateinischer Spache abgefaßte Doktorarbeit zum Thema „Observationes criticae in pentateuchi de tabernaculo relationem“ (Kritische Betrachtungen zum Pentateuch, den fünf Büchern der Tora, der jüdischen Bibel). (Bild 4) (3). Diese und seine weiteren Publikationen werden wir später diskutieren. Auch seine Predigerstelle in Dessau und deren nicht besonders glückliches Ende sollen noch ausführlicher dargestellt werden.

Bild 4: Titelblatt der Dissertationsschrift des Julius Popper an der Universität Leipzig 1854 (Quelle: Archiv der Universität Leipzig, Arch. Nr. Phil.Fak.Prom 00197)

Heirat in Berlin

Vier Jahre nach Beginn seiner Unterrichtstätigkeit in der jüdischen Gemeinde und zwei Jahre, nachdem er den Unterricht auf die Franzschule beschränkt hatte, beantragte er beim Konsistorium, der religiösen Aufsichtsbehörde für das Schulwesens in Anhalt-Dessau, die Genehmigung der Heirat mit seiner ihm vermutlich aus Berlin bekannten Braut Laura Sara Babs (1833-1896) aus Meseritz, damals in der preußischen Provinz Posen gelegen (heute: Międzyrzecz, Polen). Sie war 23 Jahre alt und die Tochter des Rentiers Jakob Abraham Bab und dessen Ehefrau Hanna, geborene Mendelson (Bild 5). Dabei ergab sich ein eher förmliches Heiratshindernis: Als preußischer Bürger sollte er, wie auch die anhaltischen Bürger, ein Ledigennachweis von seiner Heimatgemeinde erbringen, mit der belegt werden sollte, dass der Heiratskandidat nicht bereits woanders verheiratet war. Einen solchen Nachweis gab es aber in Preußen nicht, wie ihm auf Rückfrage aus Berlin mitgeteilt worden war. Das Paar verlobte sich am 18. August 1856 in Berlin. Da offenbar die Heirat bereits fest eingeplant war, beantragte er am 15. November des Jahres die Genehmigung der Bestellung des Aufgebots trotz noch fehlenden Ledigennachweises unter dem Vorbehalt, dass die Heirat erst dann erfolgen würde, wenn dieser Nachweis – aus Hildesheim – erbracht worden sei; dies wurde offensichtlich bewilligt, denn sie heirateten bereits im Dezember des Jahres 1856 und zogen in ein eigenes Haus in der Mittelstraße 19 in Dessau (4), wo Julius Popper seit 1855 auch ein Knabenpensionat betrieb für auswärtiger Schüler der Franzschule (Bild 6). Ein am 18. August 1857 zur Welt gekommenes erstes Kind starb am gleichen Tag.

Bild 5: Verlobungsanzeige von Julius Popper mit Laura Sara Bab in Berlin im August 1854 (Quelle: Hannoverscher Kurier vom 28. August 1856; Seite 4)
Bild 6: Anzeige der Eröffnung eines Knaben-Pensionats in Dessau durch Julius Popper 1855 (Quelle: Allgemeine Zeitung des Judenthums, 19. Jahrgang (1855) Nr. 2, Seite 25)

Seine Schwester Therese heiratet in Dessau, sein Vater stirbt in Dessau

Im Jahr 1854 zog Julius Schwester Therese, 34 Jahre alt, die ihre Mutter bis zu deren Tod gepflegt hatte, von Hildesheim nach Dessau und heiratete dort am 4. November 1854 den Drucker Hermann Neubürger (Bild 7), der nach dem Tod seiner ersten Frau mit sieben unmündigen Kindern zurückgeblieben war. Julius Popper, der vermutlich diese Ehe „arrangiert“ hatte, hielt die Traurede (5), in der es hieß: „Die besten Jahre Deines Lebens hast Du dieser edlen Kindespflicht geopfert … Der Herr zahlet Dir heute den Lohn kindlicher Treue „. Ob die „nachgelassene“ Therese auch so empfunden hat angesichts der Schar unmündiger Kinder, denen sie die Mutter ersetzen sollte, wissen wir nicht; wir wissen aber, dass sie keine eigenen Kinder mehr bekommen hat und dass sie fünf Jahre vor ihrem Mann am 23. November 1882 in Dessau verstarb – sie wurde nur 62 Jahre alt (Bild 8). Und vermutlich hat sie auch ihren Vater Meyer Popper bis zu dessen Tod versorgt: er kam nach 1856 aus Hildesheim hierher und verstarb am 10. August1860 im Alter von 70 Jahren. 

Bild 7: Trau-Rede des Julius Popper bei der Trauung seiner Schwester Therese mit dem Hermann Neubürger in Dessau am 4. November 1855. Dessau 1856 (Eigendruck).

Die überaus interessante Geschichte der jüdischen Familie Neubürger, die sich durch diese Heirat mit der Geschichte der Poppers verknüpfte, aber auch ein paar eigene Beziehungen zum Lützow-Viertel aufweist, wollen wir im nächsten Teil darstellen.

Bild 8: Sterbeurkunde der Therese Neubürger geborene Popper, Dessau 1882 (Quelle: Stadtarchiv Dessau mit freundlicher Unterstützung)

Literatur

1. https://de.wikipedia.org/wiki/Gymnasium_Andreanumhttps://www.andreanum.de/index.php

2. Stadtarchiv Hildesheim, Archiv Nr. 101 – 794a Nr. 24: Entlassung aus der Staatsangehörigkeit für Julius Popper 1847.

3. Pentateuch: https://de.wikipedia.org/wiki/Tora

4. Franz Brückner: Häuserbuch der Stadt Dessau. Band 9, Seite 706-712.

5. Trau-Rede des Julius Popper bei der Trauung seiner Schwester Therese mit dem Hermann Neubürger in Dessau am 4. November 1855. Dessau 1856 (Eigendruck).

Die Familie von Ernst Liedtke, Blumeshof 12 (Teil 2)

Im ersten Teil dieser Geschichte haben wir erfahren, dass die Familie des Berliner Rechtsanwalts Ernst Liedtke, der im Blumeshof 12 wohnte, aus Christburg, Kreis Stuhm in Westpreußen stammte. Heute werden wir die verschiedenen Familienmitglieder verfolgen: die, die in Christburg geblieben ebenso wie diejenigen, die nach Berlin gegangen sind. Für die weitere Dokumentation der Familie Liedtke konnten wir zurückgreifen auf Standesamtsurkunden aus Christburg und Berlin einerseits, auf Adressbuch-Einträge in Berlin andererseits, aber auch auf Zeitungsmeldungen.

Die Eltern

Tobias Liedtke war 1866, 1871, 1874, 1884/5 und 1891 Kaufmann für Manufakturwaren, Produktenwaren, 1891 auch für Lederwaren, und er annoncierte noch im Januar 1894 eine Lehrlingsstelle in seinem Tuch-, Manufaktur und Modewarengeschäft in Christburg (Bild 1). Er müsste aber noch 1894 gestorben sein, da er in der Sterbeurkunde seines Sohnes Meyer vom April in diesem Jahr als verstorben bezeichnet wurde. Den Tod seiner Frau Fanny konnten wir bislang nicht verifizieren.

Bild 1: Anzeige in „Der Gesellige“, Graudenzer Zeitung vom 3. Januar 1894, Seite 7.

Die Kinder

Meyer Liedtke (*1842) blieb zeitlebens in Christburg, war Kaufmann und saß in den Jahren 1883 und 1885 im Gemeinderat der dortigen jüdischen Gemeinde (1). Er starb früh, im Alter von nur 52 Jahre, am 8. April 1894 in Christburg, sein Tod wurde von seinem Bruder Salomon angezeigt. Clara Liedtke geborene Henschel, seine Ehefrau, zog 1910 mit ihrem Sohn Theodor nach Berlin, wo ihr anderer Sohn, Ernst Liedtke, bereits 10 Jahre lebte. Ab 1911 wohnte die Rentiere Clara Liedtke in der Jenaer Str. 2 im Bayrisches Viertel in Wilmersdorf (Bild 2); sie starb im Mai 1933.

Bild 2: Ausschnitt aus dem Adressbuch von Berlin 1912 für die Jenaer straße 2.

Salomon Liedtke (*1843) blieb ebenfalls Zeit seines Lebens in Christburg. Er war im jüdischen Gemeindevorstand von Christburg in den Jahren 1897, 1904, 1908, 1910 und 1913 (1) und starb am 16. Oktober 1925 im Alter von 72 Jahren in Christburg – sein Sohn Julius zeigte seinen Tod an. Seine Frau Franziska Liedtke (*1859), geborene Loewenstein war bereits am 27. Januar 1909 in einer Privatklinik in Berlin-Charlottenburg (Augsburgerstraße 66) verstorben; der Tod wurde vom Apotheker Julius Loewenstein (Berlin, Bärwaldstr. 57) angezeigt, vermutlich einem Neffen, Sohn ihres Bruders. Sie war offenbar zu einer medizinischen Behandlung nach Berlin gekommen, da als ihr Wohnsitz nach wie vor Christburg (Am Markt) angegeben wurde. 

Schier Liedtke (*1845), den wir jetzt als dritten Sohn der Eheleute Tobias und Fanny Liedtke einordnen, war offenbar der erste, der den Heimatort dauerhaft verließ und nach Berlin ging. Bei seiner Heirat mit Lydia Freudenberg am 27. Februar 1886 in Berlin wohnte er in der Steinmetzstraße 9, ein Jahr später bei der Geburt ihres einzigen Kindes, Theodor, wohnte die Familie eine Straße weiter, in der Blumenthalstraße 15. In beiden Fällen war er im Berliner  Adressbuch als „S. Liedtke, Handelsmann“ eingetragen, und selbst später, als alle Einwohner mit Vornamen, Nachnamen und Beruf angegeben wurden, blieb es bei dieser Abkürzung, so, als schäme er sich seines ungewöhnlichen Vornamens oder als wolle er vermeiden, mit diesem Vornamen als Jude identifiziert zu werden. In den Jahren nach der Reichsgründung 1871 war der sogenannte „akademische Antisemitismus“ Grund für viele Juden, zu konvertieren oder den Namen zu ändern (mittendran vom 1. September 2024). Da er aber der einzige Liedtke im Adressbuch war mit einem Vornamen, der mit S begann, lassen sich seine weiteren Wohnsitze bis 1899 vermuten: er zog 1888 in den Berliner Norden (Metzgerstraße 25), und betrieb ab 1896 einen Kolonialwarenladen (Fürstenwaldstraße 19, Pasewalkerstraße 7). Ab 1899 ist ein „S.Liedtke“ nicht mehr im Adressbuch verzeichnet, und auch seine Witwe nicht; ihr Verbleib ist bislang unbekannt.

Rosalie Liedtke (* 1847) heiratete am 29. Januar 1872 Louis Hirschberg aus Culm (heute: Chelmno, Polen), dort geboren 1843. Die Eheleute hatten ein Kind: Martin, geboren 1882 in Culm. Louis Hirschberg war bis zu seiner Pensionierung in Culm Stadtrat und Sadtältester, danach (1903) zog das Ehepaar nach Berlin, zunächst in die Bülowstraße 106, 1910 in die Regensburger Str. 28. Er starb dort am 18. August 1913, seine Witwe Rosalie sieben Jahre später, am 13. April 1920. Ihr Tod wurde von ihrem Sohn Dr. med. Martin Hirschberg angezeigt.

Die nächste Generation

Ernst Liedtke (*1875), der ältere Sohn von Clara und Meyer Liedtke, ging 1893 zum Studium nach Berlin. Sein Lebenslauf wird in einem weiteren Teil dieser Geschichte ausführlicher dargestellt.

Theodor Liedtke (*1885), der jüngere Sohn von Clara und Meyer Liedtke, von Beruf Kaufmann, wohnte 1912 zunächst unter der gleichen Berliner Adresse wie seine Mutter (Jenaer Str. 2), erneut im Jahr 1922, und auch nach deren Tod von 1934 bis 1937. Nach den Informationen von Simon May (2) war er Verkäufer im Warenhaus Tietz in Berlin und wurde möglicherweise von seiner Haushälterin Hedwig Kuss zunächst versteckt, als die Repressionen gegen die Juden begannen. Er wurde 1942 in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert und von dort 1943 weiter nach Auschwitz, wo er ermordet wurde.

Julius Liedtke (* um 1880), der Sohn von Salomon und Franziska Liedtke, erhielt im Mai 1914 Prokura in der Firma seines Vaters. Nach dem Tod des Vaters war Julius der alleiniger Erbe der Firma Salomon Liedtke. Ein im Dezember 1925 eröffnetes Konkursverfahren zog sich hin bis 1931 (Bild 3), wurde dann aber eingestellt. Weitere Informationen über Julius Liedtke fehlen bislang, aber ein Handelsgeschäft Liedtke gab es noch vor dem 2. Weltkrieg am Markt in Christburg (3).

Bild 3: Anzeigen im Deutschen Reichsanzeiger vom 10. Mai 1914 (oben), vom 10. Dezember 1925 (Mitte) und vom 15. Juni 1931 (unten).

Martin Hirschberg (*1882) machte das Abitur in Culm 1890, studierte anschließend Medizin in München, Freiburg, Königsberg und Berlin bis 1905, promovierte mit einer Arbeit über die operative Behandlung der Peritonealtuberkulose, und arbeitete zunächst am Kurhaus Schloss Tegel, bevor er 1917 eine eigene internistische Praxis für Magen-Darm-Erkrankungen in Wilmersdorf, Brandenburgische Straße 36 eröffnete (Bild 4). Von 1917 bis 1921 stand er als Dezernent für Krankenernährung im Dienste der Stadt Berlin, ab 1924 arbeitete er als Arzt beim Kassen-Ambulatorium „Cecilienhaus“ in Charlottenburg. Er hatte 1912 Friederike Henriette Jaffé geheiratet und hatte mit ihr drei Kinder (*1914, *1917, *1919). 1930 trat er zwar aus dem Judentum aus, aber nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 flüchtete die Familie mit dem Schiff nach Shanghai, von dort weiter nach Nanking, wo er als ärztlicher Berater der deutschen Diplomaten diente. Vor der japanischen Besetzung Nankings 1937 (4) flüchteten sie, zusammen mit den Diplomaten, nach Peking, von wo sie nach dem Krieg (1948) über Honolulu in die USA immigrierte. Dr. Martin Hischberg starb in Houston, Texas am 17. März 1950, drei Tage nach einem Suizidversuch.

Bild 4: Anzeige im Berliner Tageblatt und Handelszeitung vom 10. Oktober 1916, Seite 7.

Der andere Theodor Liedtke

Die Doppelung von Name und Beruf (Kaufmann), auch im Berliner Adressbuch (Bild 5), die relative Nähe der beiden Geburtstage (1885 bzw. 1887) und der Umstand, dass beide 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden, hat dazu geführt, dass Theodor, der Sohn von Clara und Meyer Liedtke (s. oben), und Theodor, der Sohn von Lydia und Schier Liedtke, in der Literatur oft verwechselt wurden, derart, dass die Daten des Einen dem Anderen zugeordnet wurden.

Bild 5: Ausschnitt aus dem Berliner Adressbuch von 1921, unter Liedtke.

So geschehen in Christoph Kreuzmüllers Monografie der jüdischer Betriebe, die nach 1933 enteignet wurden (5), wie auch über lange Strecken in der Familiengeschichte von Simon May (2), der annahm, der „andere Theodor“ sei der Bruder seines Vaters Ernst Liedtke, und der von einer „devastating discovery“ sprach, als er den „doppelten Theodor“ entdeckte und seither annahm, dass dieser einer anderen Familie entstamme. Sein Schicksal ist gut dokumentiert und soll im folgenden Teil der Familiengeschichte Liedtke ausführlicher dargestellt werden.

Literatur

1. Gerhard Salinger: Die einstigen jüdischen Gemeinden Westpreußens. Teilband 3. New York 1908 (Eigendruck), Seite 707ff.

2. Simon May: How to be a Refugee. Picador Publisher, London 2021.

3. Otto Piepkorn. Die Heimatchronik der westpreußischen Stadt Christburg und des Landes am Sorgefluß. Verlag Bösmann, Detmold 1962

4. https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_Nanking

3. Christoph Kreutzmüller. Ausverkauf. Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin 1930 bis 1945. Metropol Verlag, Berlin 2012

Apotheker Lewy, Lützow-Apotheke (Teil 2)

Dr. Albert Lewy hatte 1904 nicht nur die Lützow-Apotheke und die dazugehörige Apothekenlizenz vom Vorbesitzer erworben (diese Webseite vom 4. April 2025), sondern das ganze Wohnhaus an der süd-westlichen Ecke Schillstraße/Wichmannstraße (Bild 1). 

Bild 1: Blick vom Lützowplatz nach Westen in die Wichmannstraße, die sich mit der Schillstraße kreuzt. Links an der Ecke die Lützow-Apotheke (Bildpostkarte von etwa 1900, aus der Sammlung Schmidecke)

Wir können nur vermuten, dass das Kapital für diesen Kauf zum Teil zumindest aus seinem Anteil am Erbe seiner Eltern kam, insbesondere aus der Versteigerung des Kunst- und Antiquitätennachlasses seines Vaters bzw. seines Halbbruders Gustav Lewy, der das Antiquitätengeschäft seines Vaters übernommen hatte und der kurz nach dessen Tod (1894) selbst 1900 verstarb (Bild 2). 

Bild 2: Ankündigung der Versteigerung des Kunstnachlasses des Antiquars Gustav Lewy im Auktionshaus Rudolph Repke vom 13. – 15. November 1900 (Quelle: Katalog Nr. 1242 in der Heidelberger Univerrsitätsbibliothek, https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/lepke1900_11_13).

Dr. Albert Lewy wohnte aber nur im ersten Jahr in diesem Haus, auch wenn gemäß einer gesetzlichen Vorschrift vom 18. Februar 1902 der Apothekenvorstand die Pflicht hatte, im Haus der Apotheke zu wohnen. Aufgrund einer amtlichen Ausnahmegenehmigung wohnte er ab 1906 nicht weit entfernt in der Keithstraße 18, wo er telefonisch erreichbar war. Er wohnte dort zur Miete. Die Keithstraße war, soweit man den Fotos glauben kann, die ruhigere und elegantere Straße im Vergleich zur schon damals verkehrsmäßig weit belebteren Schillstraße. Die Mieteinahmen der sechs bis zehn Wohneinheiten (zwischen 1904 und 1932) im Apotheken-Haus Schillstraße 28 dürften die Miete in der Keithstraße getragen haben.

Inspektion durch das Gesundheitsamt

Neun Jahre nach der Apotheken-Übernahme durch Albert Lewy fand eine Inspektion der Apotheke statt (1). Ob es sich dabei um eine Routine-Inspektion gehandelt hat oder ob dem eine – anonyme – Anzeige zugrunde lag, ließ sich aus der Akte der Aufsichtsbehörde nicht ermitteln; es gab in der Akte allerdings keine vorherige Inspektion, und die nächste erst wieder im Jahr 1939, nach der Übernahme der Apotheke durch den Apotheker Blew (s. unten). 

Bei dieser Inspektion am 24. Juli 1913 erstellte die Aufsichtsbehörde, das Polizeipräsidium, Abteilung I, eine sechsseitige Liste mit Mängeln im Hinblick auf allgemeine Mängel der Apothekenführung, der Auszeichnung von Medikamenten und Homöopathie, der Führung des Giftschrankes, der Sauberkeit im Lager, in der Offizin und den Laborräumen, der Hygiene und Ordnung in allen Räumen und Schränken. Die Mängel waren offenbar so gravierend, dass das Polizeipräsidium eine Nachprüfung in wenigen Tagen ankündigte, deren Kosten der Apotheker tragen musste. Diese Nachprüfung fand am 5. November 1913 statt; sie ergab wiederum eine Mängelliste vorwiegend im Hinblick auf Bezeichnung und Etikettierung der Medikamente, während Ordnung und Sauberkeit als „nunmehr einwandfrei“ bezeichnet wurden. Apotheker Lewy wurde ersucht, „binnen drei Wochen durch Vermittlung des Herrn Kreisarztes über die Erledigung der einzelnen Beanstandungen zu berichten„.

Bau- und Eigentumsgeschichte des Hauses Wichmannstr. 21

Das Haus war im Jahr 1877 erbaut worden (2), Eigentümer zu diesem Zeitpunkt war, wie häufig, ein Handwerker, der Zimmermann- und Maurermeister Sobotta, aber der verkaufte nach Fertigstellung (1879) an den Hauptmann a.D. Dopatka. Der verkaufte 1884 an den Rentier von Moser, bevor das Haus im Juli 1887 an den Apotheker Steuer überschrieben wurde. Am 21. Februar 1898 kaufte der Apotheker Dr. Ernst Kuhlmann aus Geestemünde die Lützow-Apotheke von der Witwe Steuer. Sechs Jahre später, 1904, kaufte Dr. Albert Lewy die Apotheke und die Apotheken-Lizenz. 1935 übernahm dessen Sohn Curt Lewy Haus und Lizenz für 200.000 Mark, bevor dieser 1937 an den Apotheker Blew verkaufte, nun zu einem Nennwert von 237.000 Mark.

Nachdem Steuer nur geringfügige Änderungen an der Fassade initiiert hatte, plante der nächste Apotheken-Besitzer (Dr. Kuhlmann) einen größeren Umbau der Apothekenräume im Erdgeschoss und im Keller (Bild 3). Weitere Umbauten der des Hauses fanden in späteren Jahren statt: 1923 wurde das Haus um ein Dachgeschoss erweitert, das der Architekt Moritz Ernst Lesser (1882-1958) plante. Danach steig die Zahl der Mietparteien.

Bild 3: Erdgeschoß des Apothekenhauses Schillstraße 8/Wichmannstraße 28. Rot markiert sind die vorgesehenen Änderungen (Quelle: (2)).

Apotheker Lewy zieht sich zurück, sein Sohn übernimmt

Zwei Reisen des Dr. Albert Lewy in den Jahren 1928 und 1930 haben wir eher zufällig gefunden, in beiden Fällen Reisen mit dem Schiff „Belle Isle“ der französischen Linie Chargeurs Réunis ab Hamburg. Diese Linie brachte vor allem Auswanderer nach Südamerika (Rio de Janeiro, Buenos Aires, Montevideo), nahm aber auch Touristen mit bis an die französische Küste (Le Havre, Bordeaux). Die Agentur für die Buchung war die niederländische Firma Hoyman & Schuurman (Bild 4). Die erste Reise fand im August 1928 statt, Dr. Lewy reiste allein und fuhr in der I. Klasse bis Bordeaux. Die zweite Reise folgte zwei Jahre später (1930) statt, ebenfalls im August. Diesmal reiste er in Begleitung seiner Frau Margarethe in der I. Klasse, und sie gingen in Le Havre von Bord, während die meisten Passagiere als Auswanderer in der III. Klasse weiter nach Montevideo reisten. Wir können mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass Dr. Lewy die zweite Reise nicht nur zur Erholung machte, hatte er doch, wie er in dem unten genannten Schreiben vom September 1929 erwähnte, Ende April 1929 einen Schlaganfall erlitten und war möglicherweise auch im August des Folgejahres noch nicht vollständig wiederhergestellt.

Bild 4: Werbeplakat der französischen Schiffahrts-Linien nach Süd-Amerika, die auch Touristen an die französische Atlantikküste mitnahmen (Quelle: Internet, gemeinfrei)

Bis 1925 leitete Dr. Albert Lewy seine Apotheke, aber seit 1920 hatte er als seinen offiziellen Vertreter den approbierten Apotheker Karl Förder benannt, so dass es ihm gestattet war, der Apotheke zeitweilig fernzubleiben. Ausweislich der Akten der Gesundheitsbehörden übernahm er am 8. August 1827 wieder die Leitung. Im September 1929 teilte Albert Lewy den Medizinalbehörden mit, dass er aufgrund zunehmender Altersbeschwerden in absehbarer Zeit die Apothekenleitung aufgeben werde und man die Unterschrift seines Sohnes Curt, der am 1. April 1926 in die Apotheke eingetreten war, in allen notwendigen Fällen anerkennen möge. Es dauerte dann noch bis zum 15. August 1932, bis Dr. Curt Lewy die Apothekenleitung übernahm.

Ab 1930 ist neben Dr. Albert Lewy bis zu dessen Tod 1936 auch sein Sohn Curt (manchmal Kurt geschrieben) im Adressbuch unter der Adresse Keithstraße 18 gemeldet (s. unten). Es ist zwar möglich, dass sie im gleichen Haushalt lebten, aber da beide verheiratet waren, schien uns dies eher unwahrscheinlich. Im Telefonbuch von 1932 sind beide, Dr. Albert Lewy, Apotheker und Dr. Curt Lewy, Apotheker, mit zwei unterschiedlichen Telefonnummern unter der gleichen Adresse gelistet, so dass wir annehmen müssen, dass sie im gleichen Haus verschiedene Wohnungen hatten (Bild 5).

Bild 5: Adressbuch-Einträge (oben) und Telefonbuch-Einträge von Dr. Albert Lewy und Dr. Curt Lewy in der Keithstraße 18 für das Jahr 1932.

Literatur

1. Apotheken-Akte im Landesarchiv Berlin (LAB): A Pr. Br. Rep 030 Nr. 192 (Anlage neuer Apotheken) und A Rep. 32-08 Nr. 202 (Gesundheitsamt, Lützow-Apotheke).

2. Bauakte im LAB: B Rep. 02 Nr. 4754 und 4755.

Die Familie Popper, Lützowplatz 2 (Teil 1)

Auch diese Geschichte ist eine, in der wir vor allem den Beginn gesucht hatten, den Weg, den eine jüdische Familie genommen hatte, bis sie im Lützow-Viertel angekommen war. Der Hinweis auf die Geschichte der Familie des jüdischen Kaufmanns Martin Popper, der von 1914 bis 1932 am Lützowplatz 2 wohnte, kam von einem italienisch-amerikanische Nachkommen der Familie, Daniele Armaleo, der uns im Sommer 2023 kontaktiert hatte, nachdem wir über den Lützowplatz geschrieben hatten (mittendran 22. September 2024). Seitdem recherchieren wir, und haben zu diesem Zweck nicht nur digital zugängliche Quellen ausgewertet und das Landesarchiv Berlin besucht, sondern sind in Archive nach Hildesheim und Hannover gefahren, haben mit dem Staatsarchiv in Hamburg kommuniziert, mit den Universitätsarchiven in Göttingen, Düsseldorf und Basel, und haben noch einen Besuch im Landesarchiv Sachsen-Anhalt in Dessau vor uns.

Popper-Familien in Hildesheim

Die ältesten gesicherten Spuren der Familie Popper fanden sich in Hildesheim zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Dass das in unseren Augen sehr christlich-katholische Hildesheim zu diesen Zeiten eine größere jüdische Gemeinde hatte, war uns neu. Wer die Geschichten jüdischer Familien an dieser Stelle aufmerksam gelesen hat, dem wird auch auffallen, dass diese Familie aus „Westdeutschland“ nach Berlin kam und nicht aus den Osten; die „Ostjuden“ dieser Zeit (um 1800) galten mehrheitlich als arm, die Familien, die bereits vorher in den Westen des Reiches gekommen waren, waren zwar auch arm gewesen, viele hatten aber die Zeit genutzt, um sich erfolgreich zu assimilieren. Die Geschichte der Hildesheimer Juden reicht bis ins frühe Mittelalter zurück, war aber ähnlich wechselhaft wie in anderen Gemeinden und sah Perioden der Vertreibung im Wechsel mit Wiedereinwanderung und relativer Akzeptanz (1).

Das bischöfliche Hildesheim (Bild 1) kam 1803 zu Preußen, als Entschädigung für die linksrheinischen, an das napoleonische Frankreich abgetretene Reichsgebiete. Hildesheim „erbte“ damit die preußische Tradition, die jüdischen Einwohner sehr genau zu erfassen: Die Städte und Gemeinden mussten jährliche Berichte über ihre jüdischen Bewohner, über Geburten, Heiraten und Todesfälle berichten, und diese Berichte bilden die Grundlage dessen, was wir über die Familie Popper herausfinden konnten. 1807 wurde Hildesheim dem Königreich Westphalen zugeschlagen, das von Napoleons Bruder Jerome regiert wurde, und auch die – katholischen – Franzosen setzten diese Registrier-Tradition fort, ebenso wie nach den Befreiungskriegen 1813 das Königreich Hannover, das Hildesheim übernahm, allerdings die detaillierten Namensregister durch simple Statistik ersetzten, so dass ab 1827 die städtischen Register unvollständig wurden. Im Jahr 1866 schließlich wurde aus dem Königreich Hannover die preußische Provinz Hannover, die die preußische Registriertradition wieder aufnahm, bis zur Einführung der – religionsneutralen – Standesämter 1875 im gesamten deutschen Reich.

Bild 1. Deutsche Kleinstaaterei 1789, und mittendrin das Bistum (Bm) Hildesheim (aus: https://www.wikiwand.com/de/articles/hochstift_Hildesheim).

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es in Hildesheim mehrere Familien mit dem Namen Popper, allerdings gehörten nicht alle der jüdischen Gemeinde an. Nach einer Auswertung der 24 Adressbücher zwischen 1827 und 1871 gab es 14 erwachsene Individuen mit den Nachnamen Popper und mit unterschiedlichen Vornamen, allerdings zu Beginn auch einige, deren Vornamen nicht genannt wurden, sondern die stattdessen als Witwe, Witwer oder nur mit einer Berufsangabe gelistet wurde. Außerdem wechselte die Schreibweise des Nachnamens ab und zu, so dass aus manchem Popper Poper oder Poppe wurde. Ähnlich willkürlich wurde teilweise auch mit den Vornamen (und deren Schreibweise) umgegangen.

Eindeutiger wurde die Eingrenzung durch die Namensliste der Angehörigen der jüdischen Gemeinde, die 1835 zur Finanzierung der neuen Synagoge herangezogen werden sollten (2). Gemäß dieser Liste gab es dreiunddreißig jüdische Familien, also etwa 350 Einwohner von insgesamt 15.000 in ganz Hildesheim. Drei dieser jüdischen Familien trugen den Namen Popper: dies waren Meyer Popper (In der Neuenstraße 1030), Louis Popper (Wollenweberstraße 631) und die Witwe Josefine Popper (Im gelben Stern 1092), die alle drei auch in den Adressbüchern Hildesheims in diesen Jahren auftauchten. Um diese alte wie die neue Synagoge „Am Lappenberg“ (Bild 2) gab es seit etwa 1600 eine jüdische Siedlung, in der allerdings nicht alle und nicht nur Juden wohnten (1).

Bild 2. Stadtplan der Synagoge „Am Lappenberg“ (Scan aus: (2)).

Verfolgt man nun dies drei Familien rückwärts, kann man zumindest für zwei Namen (Meyer Popper, Louis Popper) deren genealogische Herkunft weiter klären. Dazu mussten wir aber in das Stadtarchiv von Hildesheim und in das Niedersächsische Landesarchiv nach Hannover. Ausgewertet wurden die jährlichen Berichte über Änderungen des Personenstands der Juden zwischen 1808 und 1826 sowie ab 1856 (Bild 3), die oft auch Altersangaben und Geburtstage vor dieser Zeit enthielten (3).

Bild 3: Meldebogen der in Hildesheim lebenden jüdischen Familien im Jahr 1810. In der dritten Zeile von unten die Familie Joseph Popper mit Ehefrau Gelle und den beiden Söhnen Meyer und Levi (aus (3)).

Die Herkunft der Familie Popper in Hildesheim

Es gab 1808 drei männliche jüdische Familienvorstände mit Nachnamen Popper in der Hildesheimer Gegend, die, gemessen am Geburtsdatum, Brüder gewesen sein könnten: Jacob Popper (*1758), Joseph Hirsch Popper (*1759) und Joseph Popper (*1751). Deren weitere Herkunft blieb unbekannt.

– Jacob Popper in Alfeld, geboren 1758 in Gröpzig, Sterbedatum unbekannt. Er war mit einer July Friede verheiratet, geboren 1790 in Wettensen und verstorben 1863 in Hildesheim, und sie hatten einen Sohn. Die Familie Friede lebte in Wettensen, kam aber aus Frankfurt/Main.

– Joseph Hirsch Popper, geboren 1759 vermutlich in Hildesheim, war in erster Ehe seit 1791 verheiratet mit einer bislang Unbekannten. Aus dieser Ehe stammt ein Sohn Levin (* 1792). Joseph Hirsch Popper heiratete in zweiter Ehe Rosa Levi geborene Emanuel, die um 1798 geboren wurde. Rosa brachte am 8. Dezember 1819 ein Mädchen (Röschen) zur Welt; die Mutter verstarb am 6. Januar 1820 im Wochenbett. Joseph Hirsch Popper war danach in dritter Ehe (1820) verheiratet mit Marianne Salomon, geboren um 1792, verstorben 1867 in Hildesheim. Aus dieser dritten Ehe stammen fünf Kinder: Hannchen (* 1821), Juda (* 1822, verstorben 1826), Salomon (* 1824), Josef (*1826) und Falk David (* 1827). Joseph Hirsch Popper verstarb vor 1867.

– Joseph Popper, geboren 1751 Wrisbergholzen, verstorben 1832 in Hildesheim. Er ist der erste gesicherte Popper in der Ahnenfolge der Familie, die wir hier rekonstruieren.

Die Urgroßeltern des Martin Popper: Joseph Popper und seine Frau Gelle

Joseph Popper war der Urgroßvater von Martin Popper.  Geboren 1751 in Wrisbergholzen (18 km südlich von Hildesheim), verstarb er 1832 in Hildesheim. Um 1790 heiratete er vermutlich in Wrisbergholzen eine Gelle, geboren um 1754, deren Geburtsort und Mädchenname unbekannt sind und die 1817 in Hildesheim an „Wassersucht“ starb (vermutlich Aszites -Ödeme – auf der Basis einer Herzinsuffizienz, manchmal auch Bauchwassersucht genannt). Das Ehepaar hatten zwei Söhne: Meyer Joseph, geboren 1790, und Levi (Louis) Joseph, geboren 1792. Joseph Popper übersiedelte mit seiner Familie 1811 von Wrisbergholzen nach Hildesheim (Bild 4). 

Bild 4. Joseph Popper übersiedelt von Wrisbergholzen nach Hildesheim im Jahr 1811 (aus: (3)).

Louis Popper heiratete 1826 in Hildesheim die Witwe Henriette Wolff geborene Lesser Cohn. Sie bekamen 1827 ein Mädchen (July) und waren auch 1840 noch in Hildesheim nachweisbar, später jedoch nicht mehr. Bild

Die Großeltern des Martin Popper: Meyer Popper und seine Frau Adelheid

Meyer Popper, der zwischen 1827 und 1852 als „Trödler“ im Adressbuch firmierte (dort heißt es anfänglich „kleiner Handel“) und ab 1853 als „Particulier“ (jemand, der von seinem Besitz lebt), heiratete 1815 in Hildesheim Adelheid Warrenstedt, geboren 1782 in Hildesheim. Die Eltern der Adelheid Warrenstedt waren der Simon Isaac Warrenstedt, geboren 1748 in Hildesheim, verheiratet in erster Ehe (vor 1773) mit Teiche Mayer (1748 – 1809) aus Hannover. Sie hatten drei Kinder: Simon (* 1773), Moshes (* 1775) und Adelheid (* 1782). Nach dem Tod seiner Frau heiratete Isaac Warrenstedt in zweiter Ehe 1810 Sara Joel aus Berlin. Im Jahr 1826 war die Familie, bis auf Adelheid, nicht mehr in Hildesheim nachweisbar, Isaak war in Hildesheim verstorben.

Das Ehepaar Meyer und Adelheid Popper hatte fünf Kinder: Isaak (Isidor) (*1816), Hirsch Levi (Hermann) (*1818), Teichen (Therese) (*1820), Juda (Julius) (*1822) und Joseph (*1824) (Bild 5). Adelheid verstarb 1852 in Hildesheim nach einem Schlaganfall. Meyer Popper verstarb 1860 in Dessau in der Nähe seines Sohnes Julius und seiner Tochter Terese, die dort mit dem Druckereibesitzer Hermann Neubürger verheiratet war (s. Teil 2).

Bild Die Heirat von Meyer Popper mit Adelheid Warrenstedt 1815 und die fünf nachfolgenden Geburten ihrer Kinder (aus: (3)).

Literatur

1. Herbert Obenaus, Hrsg. Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Band II. Wallstein Verlag, Göttingen 2005, Seite 835-870.

2. Herbert Reyer: Die Finanzierung des Hildesheimer Synagogenneubaus am Lappenberg von 1848/49. In: Hildesheimer Jahrbuch für Stadt und Stift Hildesheim. Band 75 (2003), Seite 111-137.

3. Archivalien im Stadtarchiv Hildesheim (Bestand 101 – 898 Nr.3; Bestand 101 – 899 Nr.1, Nr.2, Nr.3; Bestand 101 – 1361 Nr.1417) und im Niedersächsischen Landesarchiv Hannover (ID 83b, Nr. 194; Nr. 195; Nr. 196; Nr. 197).

Die Familie von Ernst Liedtke, Blumeshof 12 (Teil 1)

Manche Geschichten sind längst geschrieben, auch die der Familie Liedtke (1), die ich vor einiger Zeit hier vorgestellt hatte. Aber wenn man sie dann gelesen hat, fällt auf, dass der Geschichte einer Person, einer Familie oder einer Firma im Lützow-Viertel eine Vorgeschichte fehlt, die klärt, wie die Person, Familie oder Firma überhaupt ins Viertel gelang ist. So auch hier: Simon May, der in und mit dem Buch seine jüdische Herkunft entdeckt und erkundet, recherchierte rückwärts bis zu seinem Großvater, dem Rechtsanwalt Dr. Ernst Liedtke und dessen Ehefrau Emmy Liedtke, geborene Fahsel-Rosenthal, die im Blumeshof 12 wohnten (Bild 1). Neugierig geworden, wollten wir wissen, woher die eigentlich kamen …

Bild 1: Ernst und Emmy Liedtke 1926 (Foto aus (1) mit Erlaubnis von Simon May).

Die Herkunft aus Christburg in Westpreußen

Der Name Liedtke war zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Gegend um Danzig nicht selten, die Suche wäre aber wesentlich schwieriger geworden, wenn die Liedtkes nicht jüdisch, sondern katholisch gewesen wären. Christburg (heute: Dzierzgon, Polen) kam mit der ersten Teilung Polens 1776 zu Preußen (Provinz Westpreußen), und im Unterschied zu der Zeit vor 1776 galten danach preußisch-administrative Regeln der Bevölkerungsregistrierung, -statistik und -kontrolle. Daher wissen wir, dass es 1770 keine Juden in Christburg gab, aber 1812 vier jüdische Familien: Daniel Marcus, Moses Laser, Benjamin Isaac, Marcus Matthias Moses (2); darunter waren also keine Angehörigen einer Familie Liedtke. Vermutlich gab es aber einige Familien mehr, die nicht den Status von „naturalisierten“, sondern den von „geduldeten“ Juden hatten. 

Aufgrund einer preußischen Verordnung mussten sich 1812 alle jüdischen Erwachsenen einen Nachnamen zulegen, und diese neuen Namen wurden zusammen mit ihren traditionellen Namen (Jakob ben Abraham ben Salomon = Jakob Sohn des Abraham Sohn des Salomon = Jakob Abraham Salomon) im Amtsblatt veröffentlicht.  Ein Meyer Lewin in Christburg nannte sich ab 1812 Meyer Liedtke, der einzige jüdische Liedtke in Christburg. Andere Familien mit dem Namen Lewin haben sich anders benannt (Lewinsohn etc.); zu diesem Zeitpunkt gab es 55 jüdische Haushalte in Christburg (3). Dieser Meyer Liedtke war vermutlich der Urgroßvater von Ernst Liedtke, dem Berliner Rechtsanwalt. Er muss zu diesem Zeitpunkt (1812) mindestens 24 Jahre alt, d.h. volljährig gewesen sein, wurde somit um oder vor 1788 geboren, wobei wir nicht wissen wo, und mit wem er verheiratet war.

Großeltern, Onkel und Tanten, Eltern des Ernst Liedtke

Die weitere Generationenfolge wissen wir aufgrund von gerichtlichen Eintragungen von Personenstandsänderungen (Geburten, Heiraten Sterbefälle) bei Personen, die keiner Kirche angehörten, sogenannten Dissidenten. Diese Dissidentenregister sind bis zur Einführung des Personenstandsrechts (Standesämter) im Deutschen Reich 1876 (im ehemaligen Preußen 1874) die wichtigsten Quellen jüdischer Familienforschung, ähnlich bedeutsam wie die Kirchenbücher der Katholiken und Protestanten, nur oftmals bei weitem nicht so sorgfältig geführt und erhalten. Für Christburg gibt es diese Register von 1847 bis 1875, entweder im polnischen Staatsarchiv in Danzig oder im Family Search Center der Kirche der Heiligen der letzten Tage, den sogenannten Mormonen, die diese Register fotografiert und online zugänglich gemacht haben (4).

Folgende fünf Ereignisse, zwei Geburten, ein Todesfall und zwei Eheschließungen, konnten wir in den Registern von Christburg finden:

1. die Geburt von Caspar (Chaskel) Liedtke am 23.  September 1847; 

2. der Tod des Casper Liedtke am 25. September, 1849;

3. die Geburt von Rosalie (Rahle) Liedtke am 6. Juni 1850 (Bild 2);

Bild 2: Geburts- bzw. Sterbeeinträge aus dem Dissidentenregister (aus: (4)).

4. die Heirat von Rosalie (Rahle) Liedtke am 29. Januar 1872 mit Louis Hirschberg aus Culm (heute: Chelmno, Polen).

5. die Heirat von Meyer Liedtke am 25. Februar 1874 mit Clara, geb. Henschel, Tochter des Kaufmanns Leyser Henschel aus Graudenz in Westpreußen (heute: Grudziadz, Polen) (Bild 3).

Bild 3: Zwei Hochzeitseinträge aus dem Dissidentenregister (aus: (4))

Meyer Liedtke war zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt; er war bei seinem Tod am 8. April 1894 nur 52 Jahre alt: Daraus lässt sich ein Geburtsdatum zwischen dem 26. Februar und 7. April 1842 errechnen.

Am 29. März 1843, wurde sein Bruder Salomon Liedtke geboren, wie wir aus dessen Heiratsurkunde wissen: er heiratete am 24. November 1879 in Mewe (heute: Gniew, 60 km südwestlich von Christburg) Franziska Löwenstein, dort geboren am 5. Juni 1859. Sie war die Tochter des Kaufmanns Isaak Löwenstein und dessen Ehefrau Cäcilie geborene Elias, beide vor 1909 verstorben. Aus dieser Ehe ging ein Sohn hervor, Julius Liedtke, dessen Geburtsdatum wir bislang nicht kennen.

In der Liedtke-Henschel-Ehe wurden zwei Kinder geboren: Ernst Liedtke, geboren am 15. Juli 1875, der späteren Rechtsanwalt im Blumeshof, und Theodor Liedtke, geboren 10. Juni 1885. Ob in den 10 Jahren zwischen diesen beiden Geburten weitere Kinder auf die Welt kamen, die nicht überlebt haben, ist nicht bekannt. Da aber inzwischen die Standesamtsregistrierung obligatorisch war, ist dies eher unwahrscheinlich, da die Urkunden aus dieser Zeit sowohl in polnischen Archiven als auch – über Zweitschriften – im Berliner Landesarchiv gesammelt wurden und über die Genealogie-Plattform Ancestry zugänglich sind.

In allen diesen Fällen waren die im Dissidentenregister bzw. im Standesamt eingetragenen Eltern der vier Kinder (Salomon, Meyer, Casper, Rosalie) Tobias Liedtke und dessen Ehefrau Fanni (Fanny, Feine) geborene Löwenthal. Wenn diese vor 1842 (der Geburt von Meyer) verheiratet waren, müssten sie um oder vor 1818 geboren worden sein, Volljährigkeit vorausgesetzt. Hier half uns ein Zufall: In einer Mitteilung des Amtsblattes für den Regierungsbezirk Marienwerder vom 30. August 1878 wurde Tobias Liedtke, 67 Jahre alt, für die Rettung zweiter Kinder vor dem Ertrinken lobend erwähnt (Bild 4). Er war daher im Jahr 1810 oder 1811 geboren worden. Tobias Liedtke ist mit Sicherheit der Großvater des Ernst Liedtke, Meyer Liedtke sein Vater, Salomon Liedtke sein Onkel und Rosalie Liedtke seine Tante.

Bild 4: Meldung aus der Amtspresse der Regierung vom 30. August 1878.

Eine andere jüdische Familie Liedtke, oder doch die gleiche?

Tobias Liedtke wurde in den oben genannten Urkunden von 1847, 1849, und 1850 als Gastwirt, 1872 aber als Kaufmann in Christburg bezeichnet. Dies wirft ein weiteres, bislang ungelöstes Rätsel auf: Es gab in Christburg einen Gastwirt namens Drewitz Liedtke, verheiratet mit einer Finne, geborene Löwenthal; deren Sohn, der Kaufmann und Reisende Schiers (Simon) Liedtke, geboren am 23. August 1845 in Christburg, heiratete am 27. Februar 1886 in Berlin die Lydia Freudenberg (Bild 5). Sie war am 9. Mai 1862 in Berlin geboren worden und Tochter des Kaufmanns Gustav Freudenberg und dessen Ehefrau Friederike, geborene Frank, beide aus Berlin. Simon und Lydia hatten einen Sohn, Theodor, der am 21. Mai 1887 in Berlin geboren wurde (Bild 6). 

Bild 5: Heiratsurkunde Schiers Liedtke mit Lydia Freundenberg (aus: Ancestry)
Bild 6: Geburtsurkunde von Theodor Liedtke aus Berlin (Quelle: Ancestry).

Drewitz Liedtke könnte ein Bruder des Tobias Liedtke sein, und Finne Löwenthal eine Schwester der Fanni Löwenthal, aber es besteht natürlich auch die Möglichkeit, dass Drewitz=Tobias und Finne=Fanni waren, da die Namen Drewitz und Finne nur durch zwei einzelne Einträge in einer Heirats- bzw. Sterbeurkunde viele Jahre später dokumentiert wurden. Uns erscheint dies die wahrscheinlichere Erklärung als die Heirat von zwei Liedtke-Brüdern mit zwei Löwenthal-Schwestern. Auch das Geburtsjahr von Schiers/Simon (1845) würde in die Geburtenfolge der anderen Kinder von Tobias und Fanni Liedtke passen.

In diesem Falle hätte Ernst Liedtke einen weiteren Onkel, einen Bruder seines Vaters, gehabt, und einen Cousin namens Theodor, der später, wie sein Bruder Theodor (siehe unten), von den Nationalsozialisten nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde (5). Wir haben diese Hypothese bislang nicht final überprüft, aber es würde Simon May, der viel Zeit und Energie in die Suche nach diesem, seinem vermeintlichen Großonkel verbracht hat (1), erneut überraschen, ihn nun doch zur weiteren Familie Liedtke zählen zu müssen.

Literatur

1. Simon May: How to be a Refugee. Picador Publisher, London 2021.

2. Akte im Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA), Archiv Nr. I HA Rep. 104, IV C, Nr. 11: Tabelle von den Juden im westpreußischen Kammer-/Regierungs-departement für 1801 ohne Danzig und Thorn, Blatt 32/33, 60/61.

3. Gerhard Salinger: Die einstigen jüdischen Gemeinden Westpreußens. Teilband 3. New York 1908 (Eigendruck), Seite 707ff.

4. Jüdische Gemeinde Christburg (Kr. Stuhm): Matrikel 1847-1875 FamilySearch Centre: https://www.familysearch.org/de/search/

5. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945: https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/

Apotheker Lewy, Lützow-Apotheke (Teil 1)

Diese Story erzählt die Familien- und Lebensgeschichte der jüdischen Apothekerfamilie Lewy, die die Lützow-Apotheke an der Ecke Schillstraße/Wichmannstraße von 1904 bis 1938 betrieb (Bild 1), bevor der letzte Inhaber, Dr. Curt Lewy, aus Deutschland vertrieben wurde.

Bild 1: Die Lützow-Apotheke an der südlichen Ecke Schillstraße 7/Wichmannstraße 28. (Foto aus dem Landesarchiv Berlin, Fotograf unbekannt, um 1930 , F Rep. 290 (01) Nr. 0268831).

Familienherkunft

Die Lewys waren eine Berliner Familie, zumindest die vier Generationen, die wir mit konventionellen genealogischen Mitteln (Ancestry, Geni) übersehen können. Der Urgroßvater von Curt Lewy war Aron Israel Lewy, ein Berliner Lotterie-Untereinehmer und Handelsmann. Er war am 6. November 1782 in Pinne (polnisch: Pniewy) im Herzogtum Warschau geboren worden; Pinne gehörte seit der dritten Teilung Polens (1795) zu Preußen. Sein Vater Israel Aron Levy war dort „Schutzjude“ gewesen, d.h. er hatte ein offizielles Aufenthaltsrecht, und dort war er auch verstorben (1). Sein Sohn kam etwa 1798, mit 16 Jahren, nach Berlin. In der Liste der jüdischen Nachnamen von 1814 (2) ist er als Handlungsdiener Aron Israel Levy gelistet und wohnte in der Jüdenstraße 40. Das Bürgerrecht erhielt er am 8. März 1815. Er heiratete am 10. Dezember des gleichen Jahres Betty, die Tochter des Handelsmannes Moses Feiwisch aus Chodziesen (polnisch: Codziez; ab 1878 Colmar in Posen). Ihr vermutlich einziges Kind, ein Sohn, Israel Aron Lewy, wurde am 22. November 1816 in Berlin geboren wurde. Der Vater starb am 24. März 1853 (1).

Israel Aron Lewy hatte eine Ausbildung zum Goldarbeiter (Goldschmied-Gehilfe) gemacht, als er am 21. Juni 1838 das Bürgerrecht bekam. Er war Mitglied der Gehilfenkasse des Goldschmiedeamts und wohnte in der Friedrichstraße 73. Er heiratete am 25. August 1840 Johanna Bendix, die Tochter des Jacob Bendix, Schächter und Gemeindeschreiber der jüdischen Gemeinde Berlin. In der Liste der Nachnamen jüdischer Bürger in Preußen von 1814 ist er als Handelsmann gelistet (1). Aus dieser Ehe entstammten die Kinder Moritz (* 20. Juli 1841), Therese (* 14. Februar 1843), Gustav (* 9. Oktober 1844) und Abraham Adolf Lewy (* 1855). Ihr Vater machte sich derweil als Kunsthändler und Antiquar in Berlin einen Namen und durfte sich Hof-Antiquar nennen, weil Angehörige des Königshauses gelegentlich bei ihm vorbeischauten, und er erhielt aus diesem Grunde 1879 einen Orden (Bild 2).

Bild 2: Ordensverleihung für Aron Israel Lewy (Aachener Zeitung vom 9.3.1879).

Moritz und Therese verstarben früh, Gustav Lewy führte das Antiquariat seines Vaters weiter und erwarb dadurch internationales Ansehen, starb aber bereits 1900 im Alter von nur 55 Jahren. Abraham Adolf Lewy studierte Medizin und brachte es bis zum Sanitätsrat. Israel Aron Lewys Frau Johanna starb 1860 in Berlin. Drei Jahre später heiratete Israel Aron Lewy in zweiter Ehe am 27. Juli 1863 in Berlin die aus Fraustadt, Provinz Posen (heute: Wschowa, Polen) stammende Charlotte London, geboren am 7. Mai 1837. Dieser Ehe entstammten vier weitere Kinder: Betty, geboren am 27. Dezember 1864, Salomon, geboren 1865, der am 27. Mai 1867 geborene Albert Lewy, und Max Lewy, am 8. März 1869 zur Welt kam.

Betty heiratete 1887 einen Sigmund Zöllner und hatte mit ihm drei Kinder. Über Salomon (* 1865) wissen wir bislang nichts, außer dass er bereits 1912 nicht mehr am Leben war. Max wurde Porträtmaler und Bildhauer, heiratete 1903 eine Maria Schädler (1867-1940) und verstarb 1942 an Kreislaufversagen und Schlaganfall. Albert Lewy wurde Apotheker; ihn werden wir weiter begleiten. Der Vater Israel Aron Lewy verstarb 1894 in Berlin, und seine Frau verstarb am 21. April 1912 „nach kurzem, schwerem Leiden„.

Albert Lewy´s Apotheker-Ausbildung

Albert Lewy macht im Herbst 1886 das Abitur am Dorotheenstädtischen Realgymnasium in der Georgenstraße (Bild 3). Die Prüfung fand am 9. September 1886 statt, aber Albert wurde von ihr aufgrund seiner Leistungen entbunden. Dann studierte er Chemie an der Friedrich-Wilhelms-Universität (FWU) in Berlin: Immatrikulation war am 23. Oktober 1886, Exmatrikulation am 14. Dezember 1888 unter der Matrikel-Nummer 509 im 77. Rektorat (4). Daran schloss sich eine – vermutlich einjährige – Militärzeit sowie eine praktische Tätigkeit in einer oder mehrerer Apotheken. Nach deren Ende im Oktober 1893 arbeitete er, ausweislich des Lebenslaufs in seiner Dissertation, für kurze Zeit am 1. Chemischen Institut der FWU unter der Leitung von Prof. Dr. Emil Fischer, der 1902 den Nobelpreis für Chemie erhielt. Allerdings blieb er offenbar ohne einen Arbeitsvertrag, was durchaus üblich war; im Personalverzeichnis ist er jedenfalls nicht gelistet. Ostern 1895 legte er die pharmazeutische Staatsprüfung ab und erhielt am 15. Juni 1895 die Approbation zum Apotheker; da war er bereits in Erlangen. Zum Sommersemester 1895 wechselte er nämlich, wohl auf Empfehlung von Professor Fischer, zu dessen Vetter, dem Chemiker Prof. Otto Fischer, an die Universität Erlangen. Immatrikuliert hatte sich Albert Lewy an der Universität Erlangen am 1. Mai 1895 als Student der Chemie, wohnhaft in Erlangen, Heuwaagstraße 14. Nach drei weiteren Semestern des Studiums der Chemie promovierte er am 22. Juli 1896 zum Doktor der Philosophie. Der Titel seiner Doktor-Arbeit lautet: „Beitrag zur Kenntnis substituierter Ortho-Diamine“ und behandelt spezielle chemische Verbindungen, die später in der Kunststoff-Herstellung von Wichtigkeit wurden – noch waren diese nicht erfunden.

Bild 3: Das Dorotheenstädtische Realgymnasium (oben) (Zeitschrift für Bauwesen 1878) und deren Abiturienten des Jahres 1886 (Schulbericht des Jahres 1886, Auszug)

Im Jahr 1897 muss er nach Berlin gekommen sein, im Adressbuch von 1898 arbeitete der Apotheker Dr. Albert Lewy in der Königlich Privilegierten Löwen-Apotheke des Dr. J. Lewinsohn in der Lindenstraße 61, die ein Jahr zuvor noch in der Jerusalemstraße 30 residierte (Bild 4). Albert Lewy übernahm die Löwen-Apotheke im Jahr 1898. Und im gleichen Jahr im Dezember heiratete er in Gartz (Oder) Margareta Rosendorff (1877-1939), Tochter von Gustav Rosendorf aus Gartz und Nanny Rosendorf geborene Müllerheim aus Stolp (Hinterpommern) (Bild 5). Sechs Jahre später, zum 1. Oktober 1904, erwarb er die Lützow-Apotheke an der Wichmannstraße 28 vom Apotheker Dr. Ernst Kuhlmann.

Bild 4: Adressebuch-Eintrag für Apotheker Lewinsohn im Jahr 1897 (oben) und Anzeige der Übernahme der Apotheke durch Apotheker Lewy 1898 (Deutscher Reichsanzeiger vom 11.01.1898).
Bild 5: Verlobungs- (Berliner Börsen Curier vom 28.6.1898) und Heiratsmeldung (Berliner Tagblatt vom 3.12.1898).

Margarethe und Albert Lewy hatten zwei Kinder: den am 1. August 1899 geborenen Curt Lewy, der später die Apotheke seines Vaters übernehmen sollte (s. unten), und die am 1. November 1906 geborene Stephanie, die nicht einmal 8 Jahre später, am 5. Februar 1914, in Berlin verstarb (Bild 6).
 

Bild 6: Geburtsmeldung (Berliner Börsen Zeitung vom 14.1.1906) und Todesanzeige (Berliner Tagblatt vom 7.12.1914).

Die Lützow-Apotheke

Die Einrichtung einer neuen Apotheke „am Lützow-Platze an der Ecke der Schill- und Wichmannstraße“ wurde vom Ober-Präsidenten der Provinz Brandenburg mit Erlass vom 1. November 1886 bewilligt – zu diesem Zeitpunkt gab es in Berlin 89 Apotheken. Die Ausschreibung der Stelle des Leiters der Apotheke (sowie drei weiterer, zeitgleich bewilligter Apotheken) erfolgte am 16. November diesen Jahres. Ein Bewerber um die Stelle musste versichern, „daß er eine Apotheke bisher nicht besessen hat, oder sofern dies der Fall sein sollte, die Genehmigung des Herrn Ministers … zur abermaligen Bewerbung … vorzulegen“ (3). Damit sollte verhindert werden, dass Apotheken zur reinen Kapitalanlage wurden, wie es in der sogenannten „Gründerzeit“ (ab 1871) oftmals der Fall war (4). Am 5. Juni 1887 teilte der Polizeipräsident Freiherr von Richthofen mit, dass die Leitung der Lützow-Apotheke der Corps-Stabsapotheker Guido Steuer (1842-1896) aus Cassel (heute: Kassel) erhalten solle (Bild 7), der noch eine klassische Apotheker-Ausbildung hatte: 3,5 Jahre Lehrzeit in verschiedenen Apotheken, dann „Service-Zeit“, am Ende Provisor (erster Gehilfe), dazu noch einige Zeit als Student an einer Universität im Fach Pharmazie, um „Apotheker 1. Ordnung“ zu werden und sich in einer größeren Stadt niederlassen zu können (5); außerdem hatte er im deutsch-österreichischen Krieg 1866 im Feldlazarett gedient. Apotheker Steuer leitete die Apotheke bis zu seinem Tod 1896. Am 21. Februar 1898 kaufte der Apotheker Dr. Ernst Kuhlmann aus Geestemünde die Lützow-Apotheke von der Witwe Steuer. Er war zu diesem Zeitpunkt 36 Jahre alt, hatte, anders als Apotheker Steuer, eine akademische Ausbildung absolviert und am 12. Dezember 1886 die Approbation erhalten. Aber bereits 6 Jahre später, 1904, kaufte Dr. Albert Lewy, der zu diesem Zeitpunkt 37 Jahre alt war, die Apotheke und die Apotheken-Lizenz. Jetzt gab es im Adressbuch von Berlin bereits 142 Apotheken (3).

Bild 7: Briefkopf des Apothekers G.Steuer mit seinem Konterfei (aus: (3)).

Literatur

  1. Jacob Jacobson: Die Judenbürgerbücher der Stadt Berlin 1809-1851. Walter de Gruyter Verlag, Berlin 1962.
  2. 2 Amtsblatt der Königlichen Churmärkischen Regierung zu Potsdam. Beilage zum 40. Stück des Amtsblattes. Verzeichnis der in den Städten und auf dem platten Lande des churmärkischen Regierungsdepartements lebenden Juden … Potsdam 1814.
  3. Akten des Landesarchivs Berlin: A Pr. Br. Rep 030 Nr. 192 (Anlage neuer Apotheken) und A Rep. 32-08 Nr. 202 (Gesundheitsamt, Lützow-Apotheke).
  4. Akten des Archivs der Humboldt-Universität Berlin (Studentenliste der Philosophischen Fakultät, 77. Rektorat) und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen (UAE-C4, 3b Nr. 1991).
  5. Paul Enck: Die Apothekerfamilie Wendland. Eine mikrohistorische Studie aus dem Berliner Lützow-Viertel. In: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2023, S.11-26.

Elsa Oestreicher (1878 – 1962): Eine Buchbesprechung

Ein lesenswertes Buch ist dieser Tage erschienen (1), über eine dieser „starken Frauen“ aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die mehr Schicksalschläge erlebt haben als die meisten von uns, mehr als wir uns vielleicht sogar vorstellen können, und die dies nicht nur überlebt haben, sondern die wegen dieser Stärke auch die Kraft und den Mut hatten, weiterzuleben, weiterzumachen. Die Rede ist von der Berliner Jüdin Elsa Oestreicher (1878-1962), die die Einschränkungen, Restriktionen und Verfolgungen der Juden vor und nach 1933, die Deportation in das KZ Theresienstadt 1942 und die den Holocaust überlebte, die nach dem Krieg in die USA emigrierte und noch einmal von vorn anfing. Als sie starb, hinterließ sie ihre Veröffentlichungen, Tagebücher, Erinnerungen, Gedichte und Briefe dem Leo-Baeck-Institut in New York City. Dort sind sie öffentlich einsehbar (2); ausgewertet und zusammengefasst hat sie jetzt eine frühere Berlinerin, die in Wismar lebt, Nina Haeberlin, der zu danken ist für diese „Erinnerungsarbeit“ (Bild 1). 

Was Elsa Oesterreich mit dem Lützowviertel verband und verbindet: Sie führte von Oktober 1926 bis März 1932 die Kochschule der „Schule des Hausfrauenvereins Gross-Berlin“ (Bild 2), die in der Straße Am Karlsbad 12-13 ein Zuhause hatte, in der früheren Stadtvilla des Architekten Martin Gropius (1824-1880). Nach eigenen Angaben gab sie hier täglich drei Kurse und hielt Mittwoch nachmittags Vorträge zu Kochen und Backen vor Hausfrauen und Angestellten. Auch in anderen Vereinen, beispielsweise in der jüdischen Gemeinde, und in anderen Bezirken gab sie Kurse und hielt Vorträge. Und sie war regelmäßig Referentin im gerade erst entstanden Rundfunk, der Deutschen Welle, der nicht weit entfernt, im Vox-Haus am Potsdamer Platz, seine Sendestation hatte. 

Kochen hatte sie von ihrer Großmutter gelernt, sie nutzte es in den Zeiten der Lebensmittel-Knappheit im und nach dem ersten Weltkrieg nicht nur selbst, sondern vermittelte es auch anderen: sie fing an, Schulungen abzuhalten und Vorträge zu geben zu kriegsgemäßem sparsamem Umgang mit Lebensmitteln, wurde Beraterin der Lebensmittel-Versorgungsstelle Zehlendorf. Sie nahm an Kochausstellungen der Warenhäuser Tietz und Wertheim teil, sie wurde in eine Schlichtungskommission für Hausangestellte in Wilmersdorf berufen. Das alles wiederum eröffnete ihr den Weg in eine eigenständig Berufstätigkeit.

Als sie 1932 die Schule der Hausfrauen verlassen musste, gründete sie 1933 eine eigene Kochschule in ihrer Privatwohnung in der Augsburger Straße 39, in der sie unterrichtete. Als auch dies nicht mehr möglich war, arbeitete sie in einem jüdischen Alters- und Siechenheim in Lichterfelde in hauswirtschaftlicher Funktion in der Küche, und zuletzt im Jüdischen Altersheim in der Großen Hamburger Straße, das zu einem Durchgangslager für die Deportationen wurde. Selbst im KZ Theresienstadt übernahm sie die Organisation hauswirtschaftlicher Belange, unter extrem erschwerten Bedingungen. Dort entstanden auch ihre eindrücklichen, hier jetzt erstmals veröffentlichten Gedichte. Und kaum wieder in Freiheit und in den USA, arbeitete sie in der Manhatten Baking and Cooking School und gab wieder Kurse, bis 1952, als sie 74 Jahre alt wurde. Sie starb am 3. Oktober 1962 in New York.

1. Nina Haeberlin: Elsa Oestreicher. Spuren eines (Über-)Lebens. Berlin – Theresienstadt – New York. Callidus Verlag, Wismar 2025.

2. Leo-Baeck-Institut: https://archives.cjh.org//repositories/5/resources/18075