Hier, im südlichen Tiergarten-Kiez, erinnert ein zerkratzter Stolperstein an sie, ein anderer, weiter entfernt, vor einem Haus in Vitte auf der Insel Hiddensee: Die Malerin Julie Wolfthorn, 1864 gebürtig in der westpreußischen Kopernikus-Stadt Thorn an der Weichsel, jüdischer Abkunft und schon früh der Malkunst leidenschaftlich verfallen, lebte 30 Jahre lang, von 1912 bis zu ihrer Deportation 1942 in das KZ Theresienstadt, in dem heute nicht mehr existenten Wohnhaus in der Kurfürstenstraße 50.
Im Jahre 1864 geboren und im Kaiserreich sozialisiert, hatte Wolfthorn mit massiven gesellschaftlichen Vorurteilen zu tun: Eine Frau, die sich als Künstlerin etablieren wollte, wurde – wie andere ihrer Zunft – noch bis weit in die Weimarer Republik hinein, etwa auf der Insel Hiddensee in der dortigen Künstlerinnenkolonie von Einheimischen und Provinzredakteuren als „Malweib“ diffamiert. Andererseits war Wolfhorn selbst eher konservativ, was durch ihre Haltung gegenüber der Malerin Paula Modersohn-Becker schon Anfang des 20. Jahrhunderts im Künstlerdorf Worpswede zum Ausdruck kam. Modersohn-Becker wurde von Wolfthorn despektierlich als „Hosendame“ bezeichnet.
Wer sich aber – wie Wolthorn – der Rolle als nicht erwerbstätige Ehefrau verweigerte, galt im spießigen Milieu wilhelminischer Behaglichkeit als seltsam, wenn nicht gar infantil und wurde entsprechend diffamiert. Wenn eine Malerin darüber hinaus auch noch Zutritt zu den einschlägigen Kulturinstitutionen und Berufsverbänden suchte, traf sie auf den Standesdünkel rein männlicher Akademierepräsentanz, vor deren gestrengen Augen wohl nicht immer das Können entschied, sondern das Geschlecht.
Und schließlich war da der im Kaiserreich durchaus schon virulente Antisemitismus alldeutscher Prägung, der zur verdrucksten Ablehnung der Künstlerin als Jüdin führte, während ihre künstlerische Leistung als Porträtmalerin schon lange Anerkennung genoss: So ließ etwa die von ihr im Jahre 1929 dargestellte Marta Baedecker, spätere Leiterin des gleichnamigen Verlages, Wolfthorns Signatur durch Umwenden der Leinwand an dieser Stelle verschwinden. Unter den Nazis dann wurde die bekannte und erfolgreiche Malerin, die schon um die Jahrhundertwende mit ihren Titelblatt-Illustrationen etwa für die „Zeitschrift „Jugend“ Bekanntheit erlangt hatte, mit Berufsverbot belegt. Gemeinsam mit ihrer Schwester, der Schriftstellerin Luise Wolf, einer Schriftstellerin, musste sie sich im Oktober 1942 in einer sogenannten Sammelstelle einfinden und wurde in das KZ Theresienstadt deportiert, wo die Malerin nach zwei Jahren verstarb.
Im fünften und letzten Teil der Geschichte des Familie Blumenreich geht es um das zweitälteste Kind, die älteste Tochter von Paul Philipp Blumenreich und seiner ersten Ehefrau, Adele Fränkel, die am 2. März 1877 in Wien geborene Elsa Blumenreich (1877-1956). Aus ihren Lebensdaten ist bereits ersichtlich, dass sie den Nationalsozialismus, unter denen ihre Geschwister Arnold, Leo und Walter und deren Nachkommen gelitten hatten und umgekommen waren, überlebt hatte und elf Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs in der Schweiz verstarb, am 7. Juni 1952. Leider haben wir nur sehr wenige Informationen über ihr Leben.
Elsa Blumenreich (1877-1956)
Die letzte Berliner Wohnadresse der Elsa Blumenreich entnehmen wir ihrer Vermögenserklärung vom 14. April 1943 gegenüber den nationalsozialistischen Finanzbehörden; Zweck der Angabe über ihre Vermögensverhältnisse war die geplante Deportation aus rassistischen Gründen (1). Im April 1943 wohnte sie in der Gormannstraße 3 im Scheunenviertel, und zwar seit dem 14. August 1941; dabei handelte es sich um ein Altersheim der Jüdischen Gemeinde. Sie war ledig, einen Beruf gab sie nicht an. Sie gab stattdessen eine völlig leere Finanzerklärung ab, hatte danach keinerlei Einkommen, Mobiliar, oder sonstige Sachwerte. Das Finanzamt konstatierte am 2. Juli 1943 „Fehlanzeige“ und „erfolglose Schätzung“ im Hinblick auf zu konfiszierende Werte. Die Akte trägt den lapidaren Vermerk: „37. Osttransport vom 19. April 1943„. In der Arolsen-Datenbank (2) findet sich auch ihre Karteikarte mit dem gleichen Vermerk (Bild 1), aber in der mehr als 700 Namen umfassenden Deportationsliste dieses speziellen Transportes nach Auschwitz ist sie nicht enthalten. Eine weitergehende Recherche im Archiv ergab, dass sie stattdessen am gleichen Tag (19. April 1943) mit dem 86. Alterstransport nach Theresienstadt deportiert wurde, zusammen mit weiteren 100 Personen (Bild 2).
In den Unterlagen der Volksbefragung von 1939 finden sich weitere Informationen (3): Sie wohnte am 15. Mai 1939 in Charlottenburg in der Mommsenstraße 50 (auch wenn das Adressbuch sie in diesem Jahr gar nicht kennt), war Kinderkrankenschwester, und hatte ihre Ausbildung (Staatsexamen) am Säuglingskrankenhaus in Weissensee gemacht. Mapping the Lives nennt auch ihr Sterbedatum (7. Juni 1956), aber das kann natürlich nicht auf der Karteikarte der 1939-Erhebung notiert worden sein, dafür muss es eine andere Quelle geben. Ab 1935 wurden Juden in den Adressbüchern bereits nicht mehr gelistet.
Wenn wir uns stattdessen rückwärts durch die Adressbücher arbeiten, finden wir sie in den Jahren 1921 bis 1934 in der Schillerstraße 60 in Charlottenburg, ihr dort angegebene Beruf: Schwester. In den Jahren 1919 und 1920 ist sie nicht im Adressbuch, vermutlich hat sie in dieser Zeit ihre Schwesternausbildung in Weissensee gemacht und wohnte im Krankenhaus, denn von 1914 bis 1918 hatte sie an die gleiche Adresse, jedoch als Privatiere (1915 war sie Sekretärin). In den Jahren zuvor (1912 und 1913) führte sie eine Fremden- und Familienpension in der Kantstraße 146. Für 1913 ist ein Umzug von der Kantstraße 146 in die Schillerstraße 60 notiert, und 1911 war die Pension in der Wielandstraße 41. In den Jahren vor 1911 war sie nicht im Adressbuch gelistet (Bild 3).
Wir wissen außerdem, dass sie 1900, als sie 23 Jahre alt war, mit ihrem Vater und ihrem Bruder Leo, ihrem Halbbruder Siegfried und ihrer Halbschwester Illa/Ella in New York war (Bild 4), und sie war vermutlich mit ihnen zurück nach Wien gegangen. Möglicherweise ist sie mit ihrem älteren Bruder Arnold 1909 nach Berlin gekommen. In den Adressbüchern von Wien ist sie aber nicht gelistet, auch nicht im Jahr 1902, als ihr Vater dort wohnte – immerhin war sie schon volljährig. Da sie zu diesem Zeitpunkt offenbar keine Berufsausbildung hatte (die man nicht benötigt, wenn man eine Pension führt), kann sie natürlich in der Zeit nach der Rückkehr aus den USA in der elterlichen Wohnung gewohnt haben. Nach dem Tod des Vaters (1908) in Berlin zog die Witwe im Jahr 1910 zurück nach Wien, und Elsa musste einen eigenen Hausstand gründen .
Eigentlich wäre die Geschichte der Elsa Blumenreich hier schon zu Ende, mehr Informationen lagen für lange Zeit nicht vor. Stutzig gemacht hatte aber die Ausreise in die Schweiz im Februar 1945, drei Monate vor Kriegsende. Geht man diesen Informationen nach, stößt man auf eine Geschichte, die für uns neu war und die hier berichtet werden soll. Es ist eine Schweizer Geschichte privat organisierter Flüchtlingshilfe, mit der viele Tausende von jüdischen Verfolgten und in Konzentrationslager Deportierten das Leben gerettet wurde (4).
Deportation aus Theresienstadt in die Schweiz im Februar 1945
Am 7. Februar 1945 kurz nach Mitternacht erreichte ein Personenzug aus Theresienstadt (heute: Terezin, Tschechien, 60 km nordwestlich von Prag) mit 1198 jüdischen Häftlinge die Schweizer Grenze in Kreuzlingen bei Konstanz; es waren 39 Kinder jünger als 10 Jahre im Zug, 78 Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 20 Jahren, 163 Erwachsene zwischen 20 und 40 Jahren, 285 zwischen 40 und 60 Jahren, und 635 älter als 60 Jahre, davon 20, die älter als 80 Jahre waren. Von diesen stammten 663 aus Deutschland, 434 aus Holland und 103 aus der Tschechoslowakei. Sie waren 2 Tage zuvor, am 5. Februar 1945 um 16.00h, in dem von den Nazis als „Muster-Ghetto“ bezeichneten Konzentrationslager Theresienstadt in den Zug gesetzt, aus propagandistischen Gründen reichlich mit Nahrung versehen (Bild 5), und über Augsburg nach Konstanz gebracht worden. Unter ihnen war die 67-jährige Elsa Blumenreich.
In Theresienstadt lebten zu diesem Zeitpunkt noch knapp 20.000 der insgesamt 140.000 Juden, die hierher deportiert worden waren; 33.000 Menschen waren im Ghetto selbst verstorben, 88.000 waren zumeist in die Vernichtungslagern im Osten (Auschwitz, Treblinka, Majdanek, Sobibor, Belzec) gebracht und dort umgebracht worden. Als den Häftlingen die Möglichkeit einer Ausreise in die Schweiz angeboten wurde, lehnten viele dies begreiflicherweise ab aus Furcht, in ein anderes Konzentrationslager verbracht und dort ermordet zu werden. Sie wussten mit großer Sicherheit nicht, dass das KZ-Auschwitz Tage zuvor (27. Januar 1945) von der Roten Armee befreit worden war; dass der Krieg zu Ende ging, mögen sie geahnt oder gehofft haben, aber die SS hatte beim militärischen Rückzug tausende KZ-Insassen mitgenommen oder umgebracht.
Wie es zu dieser großen Befreiungsaktion jüdischer Häftlinge aus Theresienstadt und ihren Transport in die Schweiz gekommen ist, ist eine eigene Geschichte wert, die allerdings schon geschrieben ist (5). Wenige Monate zuvor, im Dezember 1944, hatte es eine ähnliche Aktion mit mehr als 1300 ungarischen Juden aus Budapest gegeben, die, statt nach Auschwitz deportiert zu werden, über das Ausländer-KZ Bergen-Belsen (in der Nähe von Hannover) in die Schweiz verbracht worden waren. Auch dies war eine schweizerische, privat organisierte Rettungsaktion engagierter Juden in der Schweiz, die zumeist ohne Unterstützung durch die Schweizer Behörden stattfand. Auch im Fall der Theresienstadt-Aktion wurde die Schweizer Regierung erst wenige Stunden vor dem Eintreffen der Häftlinge informiert – sicherlich nicht zu Unrecht: sie wäre geneigt gewesen, die Einwanderung zu verhindern.
Initiatoren dieser und einiger anderer Befreiungsaktionen war – unter anderem – die schweizerische jüdische Familie Sternbuch, das Ehepaar Recha und Isaak Sternbuch und die Brüder von Isaak, Elias und Nuchim. Diese bedienten sich – im Falle der Theresienstadt-Aktion – der Unterstützung eines konservativ-reaktionären ehemaligen Schweizer Bundespräsidenten, Jean-Marie Musy (1876-1952), der persönliche Kontakte zu Heinrich Himmler (1900-1945) hatte, NSDAP-Politiker und Hauptverantwortlicher für den Holocaust (6). Himmler hatte bei der Bergen-Belsen-Aktion bereits damit gebrüstet, eigenverantwortlich Juden ausreisen lassen zu können, wenn dies gegen entsprechende Bezahlung erfolge.
Summen von mehreren Millionen Schweizer Franken (SF), die dafür gefordert würden, können nur ein Motiv dieser „Großmütigkeit“ gewesen sein; möglicherweise, so der Autor der Recherchen (4), ging es Himmler vor allem darum, finanzielle (persönliche?) Reserven für die absehbare Kriegsniederlage zu schaffen, eine in der internationalen Presse für Deutschland günstigere Stimmung zu erzeugen, und möglicherweise auch mit amerikanische Politikern in Kontakt zu kommen, um über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Jedenfalls verabredete Musy mit Himmler den Tausch von 1200 jüdischen KZ-Insassen gegen 5 Millionen SF, die die Familie Sternberg und ihre Unterstützer in den USA gesammelt hatten (4). Es soll ferner verabredet worden sein, zukünftig monatlich 1200 Juden aus Theresienstadt zu entlassen, gegen weitere Zahlungen – wozu es jedoch nicht gekommen ist, ebenso wenig wie zu Waffenstillstandsverhandlungen, die die Amerikaner ablehnten. Auch die Zahlung für den ersten Transport erreichte nie ihren Empfänger: das Geld kam erst in der Schweiz an, als der Krieg zu Ende war, und wurde den Spendern in den USA zurücküberwiesen. Und nachdem die Musy-Himmler-Verabredung Hitler hinterbracht worden war, hatte dieser alle weiteren Aktionen dieser Art untersagt – drei Monate später war das Nazi-Regime erledigt.
Die 1200 Häftlinge blieben nur wenige Tage in St. Gallen in einem Schulhaus (Hadwigschulhaus) untergebracht, dann wurden sie auf verschiedene Internierungslager im Land verteilt, und die schweizerische Regierung unternahm viele Bemühungen, diese Menschen nach Kriegsende möglichst schnell wieder in ihre Heimatländer zurückzuführen. Wohin Elsa Blumenreich gebracht wurde, ist uns gegenwärtig nicht bekannt, aber es liegen diesbezüglich mehrere Akten im Archiv für Zeitgeschichte (AfZ) der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, die noch ausgewertet werden sollen. So viel zumindest hat das AfZ bestätigte: Sie blieb in der Schweiz, wo sie am 7. Juni 1952 im Alter von 75 Jahren verstarb.
Die Fälle häufen sich, in denen auf älteren historische Artikel über das Lützow-Viertel aus dem In- und Ausland Anfragen, Rückfragen, Kommentare oder Korrekturen kommen, erst aus Schweden (JUELE vom 11. Mai 2024), dann aus Wien (mittendran vom 24. August 2024), jetzt aus North-Carolina (wobei die erste Mail aus Rom kam). Der Hintergrund: eine jüdische Familie, Martin Popper und seine Frau Paula, geborene Salomon, Kaufleute, wohnten von 1914 bis 1932 am Lützowplatz 2 (Bild). Sie zogen dann nach Charlottenburg, und wurden im Zuge der antisemitischen Angriffe der Nazis auf die jüdische Bevölkerung zuletzt (September 1941) in das „Judenhaus“ im Blumeshof 15 gepfercht (1), von wo aus sie mit dem 58. Alterstransport im September 1942 nach Theresienstadt deportiert wurden (2). Sie starben, nachdem man ihr Vermögen geplündert hatte, kurz nach ihrer Ankunft im Ghetto. Ihr einziges Kind, eine Tochter, geboren 1913 und verstorben 2013, überlebte zunächst in Italien, wo sie einen italienischen Internisten geheiratet hatte, und floh erneut vor den Faschisten nach Afrika. Sie initiierte nach dem Krieg ein Wiedergutmachungsverfahren, dessen Akten im Landesarchiv Berlin einsehbar sind. Deren Sohn wiederum, Daniele Armaleo, seit nunmehr 40 Jahren in den USA und jetzt emeritierter Professor an der Duke University in Durham (North Caroline), wandte sich mit einer Mail und Fragen zum Blumeshof an mich – dem Manne kann geholfen werden, wie es in Schillers „Die Räuber“ heißt, und er hilft uns, weiteren ehemaligen jüdischen Nachbarn im Lützow-Viertel einen Gedenkstein zu errichten.
Die Buchempfehlung kam vor wenigen Tagen von einer Kollegin, Irmtraud Koop, die – wie ich – jüdischen Ärzt*innen nachspürt, die 1933 aus der Gemeinschaft der Magen-Darm-Spezialist*innen ausgeschlossen worden waren (1). Das Buch hat einen Bezug zum Blumeshof, deswegen kam die Empfehlung, daher wollte ich es gleich lesen, und darum hier diese kurze Besprechung (2).
Das Buch erzählt die Überlebensgeschichte einer jüdischen Familie aus dem Blumeshof 12, dem Haus, in dem auch die Großmutter mütterlicherseits von Walter Benjamin wohnte – Blumeshof 12 ist dadurch Teil der Weltliteratur geworden (3). Die meisten deutsch-jüdischen Familiengeschichten aus den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts enden entweder tragisch (Suizid, Deportation, Ermordung), oder sie berichten über eine rechtzeitige Flucht, oder Beides. Hier wird ein „dritter Weg“ berichtet, auch wenn es auch in dieser Familie Deportation und Auswanderung gegeben hat: die Anpassung an die widrigsten gesellschaftlichen Verhältnisse in den Jahren nach der Machtergreifung der Nazis.
Der Erzähler der Geschichte, Simon May, Nachkomme dieser Familie, wuchs in England in dem festen Glauben auf, einer katholischen deutschen Familie zu entstammen, und lernte erst mit den Jahren seine jüdische Familiengeschichte, der er dann nachspürt und die hier erzählt wird. Dies ist eine Geschichte des Anpassens, um zu überleben in einer Welt, in der Judenheit ausgegrenzt wurde, und in der Deutschtum (oder, um es mit dem Autor zu sagen, Ariertum – aryanism) als höherwertig erachtet wurde. Während sein Großvater, ein patriotischer Deutscher, der im Blumeshof 12 wohnte und bis zu seinem Berufsverbot 1933 als Rechtsanwalt am Berliner Kammergericht tätig war, sein Judentum mit seinem frühen Tod im Dezember 1933 – im Alter von 58 Jahren – mit ins Grab nahm, überlebten seine Witwe und zwei ihrer drei Töchter den Nationalsozialismus in Deutschland. Sie vermochten dies durch Wechsel der Religion (sie wurden strenggläubige Katholiken), durch Heirat mit Nicht-Juden, Beziehungen zu NSDAP-Mitgliedern, durch Lügen und Urkundenfälschung, und durch Nutzen aller sonst noch zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der (Selbst-)Täuschung, bis hin zur totalen Verleugnung und Auslöschung der eigenen jüdischen Identität. Auch die dritte Tochter, die Mutter des Autors, die nach England emigrierte, „vergaß“ dort ihre jüdische Herkunft und zog ihre beiden Söhne in dem festen Glauben auf, Deutschland nur wegen ihrer Musikausbildung verlassen zu haben.
Ich möchte dieser empfehlenswerten, spannenden Geschichte hier weder vorgreifen noch möchte ich sie nacherzählen, sie ist allerdings in Englisch geschrieben und daher möglicherweise nicht für alle zugänglich – ich stelle mein Exemplar gern zur Verfügung.
Im vierten Teil der Familiengeschichte der Blumenreichs geht es um den 1880 geborenen Walter Blumenreich, der sich ab 1919 aus uns bislang nicht bekannten Gründen Walter Blonck nannte. Es gibt nur wenige Informationen zu ihm.
Walter Blumenreich (1880-1942)
Walter Blumenreich wurde 15. Mai 1880 in Berlin geboren; sein Vorname variierte in der Schreibweise (Walter, Walther), so dass wir uns entschieden haben, ihn einheitlich Walter zu nennen, wie es in seiner Geburtsurkunde geschrieben steht. Wie seine Geschwister hatte er mehrere „Mütter“, die sich nacheinander um ihn kümmerten – genau genommen vier -, aber er scheint den steten Wechsel der Bezugspersonen (1884 Tod der leiblichen Mutter, 1886 erneute Heirat des Vaters, 1890 Scheidung, 1891 erneute Heirat, 1899 Suizid der Stiefmutter, 1902 erneute Heirat, 1906 Tod des Vaters) im Alter zwischen 4 und 26 Jahren dramatischer erlebt haben als der jüngere Leo (mittendran vom 11. August 2024) und der ältere Arnhold (mittendran vom 20. Juli 2024), wie wir sehen werden.
Auffällig ist, dass er wie seine beiden Brüder dem Vorbild des Vaters folgte und zunächst eine Ausbildung als Buchhändler machte – nur das wo und wann können wir nicht rekonstruieren, aber das ist bei den meisten Ausbildungsgängen so, es sei denn, sie finden an Universitäten statt. Wir finden Walter Blumenreich erstmals im Berliner Adressbuch im Jahr 1905: Der 25-jährige Walter Blumenreich war Geschäftsführer und Gesellschafter der „Berliner Verlag GmbH“, Lützowplatz 3; im Jahr darauf: Schöneberger Ufer 32, und von 1908 bis 1910: Verlagsbuchhandlung Walter Blumenreich, Kurfürstenstr. 3. Von 1911 bis 1918 schließlich wohnte er in der Genthiner Str. 13, in der heute Begas-Winkel genannten Privatstraße. Die Villa K hat heute die Nr. 31K und ist die ehemalige Villa des Künstler-Ehepaars Begas-Parmentier (mittendran vom 6. April 2022). Buchhandlung und Verlag residierten in der Linkstraße 29. Dann verschwand Walter Blumenreich aus dem Adressbuch, war aber noch bis 1927 im Handelsregister als Buchhalter der Firma Brack & Keller in der Linkstraße registriert.
Der Kunstbuchverlag Carl Brack & Keller GmbH mit einem Stammkapital vom 70.000 Mark (1905 erhöht auf 90.000 Mark) war am 24. Februar 1904 von den Kaufleuten Willy Wollank und Albert Heinrich Goldschmidt übernommen und im Handelsregister eingetragen worden (HRB 2458). Nach mehreren Änderungen der Geschäftsleitung und Prokura trat am 6. Dezember 1916 der Verlagsbuchhändler Walter Blumenreich der Firma bei und wurde zum Vorstand gewählt. Im Handelsregister wurde mit Datum vom 27. August 1919 eine Änderung des Nachnamens von Blumenreich in Blonck notiert (1).
Die Namensänderung
Laut seiner Geburtsurkunde wurde ihm am 29. Juli 1919 gestattet, den Familiennamen Blonck zu führen; er war zu diesem Zeitpunkt 39 Jahre alt. Einen Grund nennt die Urkunde nicht (Bild 1), sondern verweist auf eine Polizeiverfügung vom 15. Juli 1919 mit der Geschäftsnummer 178 B. T I 3.19. Also haben wir uns auf die Suche gemacht nach diesem Erlass in der Hoffnung, dort einen Grund für diese Namensänderung zu finden. Im Landesarchiv Berlin sind Akten zugänglich, die sich sowohl mit individuellen Fällen von Anträgen auf Namensänderungen in Berlin (2) wie auch mit den rechtlichen Voraussetzungen und Regelungen bei Namensänderungen generell befassen (3).
Eine Akte, in der der individuelle Fall der Namensänderung „Blumenreich zu Blonck“ dokumentiert wurde, haben wir nicht gefunden. Aber von den vielen Akten, in denen diese Anträge zwischen 1812 und 1945 gesammelt wurden, fehlen sehr viele, nicht nur die von Walter Blumenreich – möglicherweise sind diese Akten an anderen Orten ausgewertet worden, z.B. als es nach 1933 den Nazis darum ging, Juden zu identifizieren, die sich durch Taufe und Namensänderung assimiliert und weniger angreifbar gemacht hatten.
Namensänderungen waren aus folgenden Gründen möglich: Wenn Namen für deutsche Zungen unaussprechlich waren, z.B. polnische und russische Namen, oder wenn sie lächerlich waren (z.B. Dummer, Fick); jüdische Namen konnten auf Antrag geändert werden. Die meisten Namensänderungen wurden aus rechtlichen Gründen (bei Adoptionen, Scheidungen etc.) bewilligt.
Beantragten Juden die Änderung des Familiennamens, kam es offenbar des Öfteren zu uneinheitlichen Regelungen, so dass sich der Innenminister 1900 veranlasst sah, in allen diesen Fällen darauf zu bestehen, dass diesen Anträgen „nicht ohne meine vorher einzuholende Ermächtigung Folge gegeben werde“ (3). Letztendlich haben wir den Grund für Walter Blumenreichs Änderung seines Nachnamens nicht gefunden, sondern können nur vermuten, dass dies aufgrund der antisemitischen Stimmung im Deutschen Reich erfolgte, die sich seit der sogenannten „Gründerkrise“ 1873 vor allem als „akademischer Antisemitismus“ nicht nur im Deutschen Reich breit machte (4). Aber der weitere Verlauf der Lebensgeschichte von Walter Blumenreich/Blonck lässt auch die Vermutung zu, dass die Namensänderung mit psychischen Problemen zu tun hatte.
Die schwere Nervenerkrankung
Von 1919 -1922 wohnte Walter Blonck noch in der Genthiner Str. 13, ab 1923 findet er sich nicht mehr im Berliner Adressbuch unter eigener Adresse. Die entscheidenden Hinweise auf seinen Verbleib ergaben sich stattdessen aus der Handelsregister-Akte des Kunstbuchverlages Carl Brack & Keller GmbH, wo er noch bis 1927 als alleiniger Verantwortlicher geführt wurde (1).
Die von ihm jährlich zu führende und an das Handelsregister einzureichende Liste der Gesellschafter wurde für das Jahr 1921 nicht ausgeführt, sondern mit Begleitschreiben vom 14. Februar 1922 an das Amtsgericht Berlin-Mitte zurückgesandt, wonach sich der Geschäftsführer Walter Blonck seit 5 Monaten, d.h. seit Oktober 1921 „infolge einer überaus schweren Nervenerkrankung in einem Sanatorium befindet“ und eine Wiederherstellung der Gesundheit noch nicht abzusehen sei. Eine Mahnung des Gerichtes vom April 1922 beantwortete stattdessen sein Bruder Leo Blumenreich, Geschäftspartner des Kunsthandels Paul Cassirer (s. diese Webseite vom 19. August 2024) unter Verweis auf den inzwischen 6-monatigen Aufenthalt seines Bruders im Sanatorium Waldhaus in Nikolassee. Auch für 1922 schickte Leo das Formular zurück an das Amtsgericht, und für 1923 fragte das Amtsgericht vorsorglich bei Leo Blumenreich nach dem Gesundheitszustand, der sich im Oktober 1923 noch nicht gebessert hatte.
Bürokratische Mühlen sind nicht nur schwer in die Gänge zu setzen, und sie sind auch schwer zu stoppen, wenn sie einmal in Bewegung kommen: So kam es im März 1924 zu einer Ordnungsstrafe (20 Mark) und der Androhung weiterer Kosten, falls der Meldepflicht nicht nachgekommen werde; diesmal (Mai 1924) antwortete Bruder Arnold, da Leo Blumenreich im Monat zuvor einen schweren Autounfall überlebt hatte, infolgedessen seine Frau verstorben war. In einem Schreiben an das Amtsgericht vom 17. November 1924 schlug Arnold vor, die Firma zu liquidieren, da „leider keine Hoffnung auf Genesung vorhanden ist“. Es dauerte dann noch zwei weitere Jahre, bis die Industrie- und Handelskammer zu Berlin am 30. Oktober 1926 dem Amtsgericht mitteilte, dass die Firma Carl Brack & Keller „im Jahre 1921 [den Geschäftsbetrieb eingestellt] hat. Vermögen besitzt die Firma nicht. Wir bitten, die Löschung der Firma im Handelsregister von amtswegen herbeizuführen„. Dies erfolgte mit Datum vom 31. Januar 1927.
Das Sanatorium Waldhaus, heute eine Privatklinik für internistisch-psychosomatische und psychiatrische Behandlung in Zehlendorf-Nikolassee (Potsdamer Chaussee 69), war 1903 von dem Arzt und späteren Sanitätsrat Dr. med. Emil Nawratzki (1867–1938) zusammen mit seinem Kollegen Dr. Max Arndt (1871-1956) als „Heilanstalt für Gemütskranke“ gegründet und eröffnet worden (Bild 2). Sie ist im Berliner Adressbuch von 1904 bis 1936 als „private Heilanstalt“ aufgeführt. Die Bettenzahl im Jahr 1906 betrug 136, 67 für Männer und 69 für Frauen (5). Die jüdischen Eigentümer verkauften die Klinik 1936 zwangsweise an die Innere Mission der Evangelischen Landeskirche Berlin, vertreten durch Pastor Dr. Theodor Wenzel, die dort eine evangelische Kur- und Pflegeanstalt für Nervenkranke auf gemeinnütziger Grundlage einrichtete; im 2. Weltkrieg wurde die Klinik Lazarett.
Es ist anzunehmen, dass auch die jüdischen Patient*innen in der Klinik nach der Machtergreifung der Nazis 1933 nicht unbehelligt blieben, aber spätestens mit Kriegsbeginn wurde Walter Blonck vermutlich in das Pflegeheim nach Wittstock (Dosse) verlegt, einer der Provinzialanstalten für Irre und Geisteskranke aus Berlin (Bild 3) (6). Wie man der Tabelle entnehmen kann, waren im Jahr 1925 etwa 5000 Pfleglinge, Alte und Kranke (Sieche) in Anstalten in Berlin untergebracht, und etwa die gleiche Anzahl in Anstalten außerhalb Berlins, davon etwa 300 in Wittstock. Hier verliert sich wieder die Spur von Walter Blonck, Krankenakten werden regelhaft nur 30 Jahre aufbewahrt.
Es fand sich dann doch noch ein weiterer Hinweis auf seinen Verbleib im Gedenkbuch des Bundesarchivs zu den Opfern des Nationalsozialismus (7). Danach wurde der Patient „Walter Blonk“ im Rahmen der sogenannten T4-Sonderaktion von Wittstock nach Berlin-Buch in die dortigen Heilanstalten verlegt. In Buch wurden die psychiatrischen Patienten aus den umliegenden Anstalten gesammelt und dann nach Brandenburg (Havel) deportiert, wo sie direkt nach Ankunft ermordet (vergast) wurden; für Walter Blonck ist der 17. Juli 1940 als Tag der Deportation und Ermordung festgestellt (Bild 4).
T4 steht für die Adresse Tiergartenstraße 4 (siehe mittendran am 3. Februar 2023), die Villa, in der leitende NSDAP-Mitglieder und eine Reihe Mediziner ab 1939 die Ermordung (euphemistisch „Euthanasie“ = „schöner Tod“ genannt) aller psychisch und körperlich behinderten Patienten in Deutschland beschlossen hatten. Die T4-Sonderaktion im Jahr 1940 führte alle jüdischen Patienten in Deutschland in einige wenige Institutionen zusammen – für Berlin und Brandenburg in Berlin-Buch – von wo aus die Deportationen erfolgten. In der „Landespflegeanstalt Brandenburg a. d. Havel“, einem umgebauten Zuchthaus, wurde ausprobiert, was in der Folge in vielen psychiatrischen Kliniken im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten exekutiert wurde: in Brandenburg wurden 9.000 Patienten, insgesamt wurden mehr als 70.000 kranke Menschen ermordet (8).
Literatur
1. Akte Brack & Keller im Landesarchiv Berlin (LAB): A Rep. 342-02 Nr. 126.
2. Akte Namensänderungen speziell im LAB: A Pr. Br. Rep. 30, Nr. 20585 ff.
3. Akte Namensänderungen allgemein im LAB: A Pr. Br. Rep. 30 Tit. 203 Nr. 20720.
5. Hans Laehr, Hrg. Die Anstalten für Psychisch-Kranke: In Deutschland, Deutsch-Österreich, der Schweiz und den Baltischen Ländern. 6. Auflage, Georg Reimer Verlag, Berlin 1907.
8. Henry Friedlander. Jüdische Anstaltspatienten im NS-Deutschland. In: Götz Aly, Hrg. AKTION T4 1939-1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4. Edition Hentrich, Berlin 1989, Seite 34-44.
Im nächsten Teil der Geschichte des Versandhandels Arnold Blumenreich gehen wir dem Schicksal der Geschwister von Arnold nach, die – wie er – aus der ersten Ehe seines Vaters Paul Philipp Blumenreich (JUELE vom 20. Juni 2024) mit Adele Fraenkel aus Breslau stammten: Arnold war der Älteste (JUELE vom 17. Juli 2024), geboren 1875 in Berlin, gefolgt von Elsa, die 1877 in Wien zur Welt kam. Walther wurde 1880 geboren und Leonhard kam 1884 in Berlin zur Welt. Fangen wir mit dem Jüngsten, mit Leo, an.
Leo Blumenreich (1884-1932)
Leo wurde am 18. September 1884 geboren. Seine leibliche Mutter war ein halbes Jahr nach seiner Geburt an Tuberkulose verstorben; die zweite Ehefrau seines Vaters, die Lehrerin Gertrud Lewissohn (1856-1903), wird ab November 1886 die Rolle seiner Mutter übernommen haben. Diese Ehe stand aber unter keinem guten Stern: Zwei in der Nachfolge geborene Kinder starben innerhalb kurzer Zeit (1887, 1888), und nach nur vier Jahre wurde die Ehe im Oktober 1890 geschieden: Leo war jetzt sieben Jahre alt.
Leo lernte vermutlich schon vor der Scheidung seiner Eltern seine dritte „Mutter“ kennen, die Schriftstellerin Franziska Kapff-Essenther (1845-1899). Sie heiratete seinen Vater im Jahr 1891, kam aber bereits 1888 nach Berlin, und noch im gleichen Jahr sowie 1889 und 1891 wuchs die Familie um drei weitere Kinder; jetzt waren es sieben kleine Kinder, die mit den Eltern von 1892 bis 1894 nach Stuttgart zogen – Leo war 10 Jahre alt, als sie 1894 wieder nach Berlin kamen.
In der folgenden Zeit jonglierte und strauchelte sein Vater mit den von ihm initiierten Theaterprojekten, dem Theater Alt-Berlin auf der Gewerbeausstellung 1896 und dem Westend-Theater an der Kantstraße, auch und vor allem finanziell. Als sein Vater wegen Betrugs verurteilt wurde und sich der Gefängnisstrafe durch Flucht in die USA entzog (1897), hatte Leo vermutlich noch nicht seine Schulausbildung beendet und eine Buchhändlerlehre begonnen. Wikipedia (1) behauptet, dass er am 18. März 1898 am Königlichen Luisengymnasium in Moabit das Abitur gemacht habe, aber die Jahresberichte des Gymnasiums (2) listen ihn nicht, weder in diesem Jahr noch in den Jahren zuvor – und im Jahr 1899 war er zum Prüfungstermin zu Ostern gar nicht mehr im Lande (s. unten). Es ist ferner unklar, ob er vor 1899 bereits eine Buchhändlerlehre begonnen hatte und wenn doch, ob dies bereits bei Paul Cassirer war, in dessen Buch- und Kunstverlag er später Teilhaber werden sollte. Ausweislich einiger Zeitungsberichte hatte er Kontakt zu seiner Stiefmutter in Berlin, aber sicherlich nicht unmittelbar vor ihrem Suizid, wie behauptet. Denn Leo Blumenreich reiste am 5. Februar 1899 allein mit dem Schiff Patria von Hamburg nach New York (Bild 1) und war dort, als sich seine Stiefmutter am 28. Oktober 1899 in Berlin aus einem Hotelfenster stürzte und starb – Leo war jetzt 15 Jahre alt, auf der Passagierliste war er als Schüler notiert. In den Volkszählungsunterlagen von New York 1900 sind Paul Blumenreich und vier seiner Kinder gelistet, darunter Leo.
Ob Leo mit seinem Vater 1901 von New York nach Wien zurückgekommen ist, ist unklar, aber wahrscheinlich; in diesem Fall hätte er 1901 in Wien seine vierte „Mutter“ kennengelernt, er war jetzt 17 Jahre alt. Laut Wikipedia hat er in Wien eine vierjährige Ausbildung zum Antiquariatsbuchhändler gemacht (1), aber auch hier fehlt der Beleg: Im Adressbuch von Wien in den Jahren bis 1907 gibt es Leo Blumenreich nicht – er war jetzt 20 Jahre alt. Die nächsten gesicherten Informationen über ihn finden wir an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, wo Leo vom SS 1908 bis einschließlich SS 1909 als Kunststudent eingeschrieben war. Grundlage dafür war eine Regelung im Hochschulrecht (§ 3 des Gesetzes vom 1. Oktober 1879), die es Staatsbürgern ohne Abitur erlaubte, bis zu vier Semester zu studieren, ohne jedoch einen Abschluss erlangen zu können (Bild 2). Den Nachweis „einer für die Anhörung von Universitäts-Vorlesungen genügender Bildung“ hatte er offenbar „auf dem hiesigen Luisen-Gymnasium“ erbracht (3). Auch ein universitäres Abschlussexamen ist nicht nachgewiesen in der Unterlagen des Universitätsarchivs (4). Stattdessen findet sich ein Brief in der Akte, dass er „aufgrund eines eiligen Umzugs nach England“ im Oktober 1909 sein Testat-Buch verloren habe und um ein Duplikat bitte – er hatte drei Semester Philosophie studiert.
In London hatte er offenbar gemeinsam mit einem Schweizer, Martin Hofer (1889–?) von 1911 bis 1914 ein Antiquariat auf der Duke’s Street 47, St. James’s, das sich auf niederländische und italienische Primitive, sowie Zeichnungen und Kunsthandwerk spezialisierte (1). Er heiratete im Oktober 1913 in Willesden (Middlesex, England) Emmy Berman geborene Simon (1871-1923), deren Mann kurz zuvor (1912) verstorben war. Diese Ehe war 1905 geschlossen worden und ihr entstammten zwei Söhne, Hans und Sigfried, die noch minderjährig waren.
Im Jahr 1915 kommentiert er in einen Artikel in der Berliner Tageszeitung und Handelsblatt über „Erlebnisse eines Kunsthändlers in London … von einem soeben aus England heimgekehrten deutschen Kunstverleger“ (5) über die während des Krieges (Erster Weltkrieg 1914-1918) vorhandenen Ressentiments und Anfeindungen, die Deutsche in England erfuhren: Aus seiner – sicherlich privilegierten – Sicht waren sie weitaus geringer als man in der deutschen und englischen Öffentlichkeit glaubte: „Mir und meinen Angehörigen sowie auch meinen vielen deutschen Freunden und Bekannten ist …nur freundlichste und weit über bloße Höflichkeit hinausgehende Anteilnahme entgegengebracht worden„. Diese optimistische Einschätzung mag sich nach dem Beginn der Zeppelin-Angriff auf England im Frühjahr 1915, insbeondere nach den Bombenabwürfen über London seit Mai d.j. wohl geändert haben.
Rechtzeitig kam Leo Blumenreich mit Frau und Kindern im Frühjahr 1915 nach Berlin, wo er zum 1. Januar 1917 als persönlich haftender Teilhaber bei Paul Cassirer (1871-1926) eintrat, der seine Kunstsalon und -verlag seit 1898 in der Victoriastraße 35 im Tiergarten-Viertel hatte. 1911 eröffnete Paul Cassirer zusätzlich einen Kunstbuchverlag, der auch die Kunstzeitschrift Pan ab 1911 neu herausgab. Der Buchverlag war ab 1917 in der Potsdamer Straße 113, in dem vom Architekten Ernst Klingenberg (1830-1918) um 1871 gebauten Villenareal (wie auch der sog. Begas-Winkel an der Genthiner Straße), das heute Mercatorhof heißt. Cassirer residierte in der Villa 8 und war damit Nachbar von Anton von Werner (1843-1915) in der Villa 6. Sein Cousin Bruno Cassirer (1872-1941), bis 1901 noch Mitinhaber von Paul Cassirers Kunsthandel, hatte seit 1902 einen eigenen Kunstverlag in der Derfflinger Str. 16.
Bereits im Jahr 1917 eröffnete Leo Blumenreich auch seine Kunsthandlung am Schöneberger Ufer 37. Etliche seiner Kunstaktivitäten (Kauf, Verkauf, Vermittlung, Schenkung) sind in einschlägigen Archiven und Museen gut dokumentiert (6) (Bild 3). Seine beiden Stiefsöhne wurden ebenfalls Kunsthändler: Dr. Siegfried Bermann heiratete 1921 in Berlin eine Serena Heissig aus Wien, die katholisch war, sein Bruder Hans Bermann heiratete 1922 ebenfalls in Berlin eine Amalia Susanna Berman aus Belgien – ihre Schicksale haben wir nicht weiterverfolgt.
Was wie eine friedliche, nach all den Entbehrungen der Kindheit geglückte Zeit des beruflichen und familiären Erfolges aussah, endete abrupt: Emmy Berman-Blumenreich starb einige Tage nach einem schweren Autounfall im April 1923 in der Nähe von Hoppegarten, eine der Schwiegertöchter war im Auto und wurde ebenfalls schwer verletzt (Bild 4) (7). Der Chauffeur war einem über die Straße laufenden Mädchen ausgewichen – beide kamen ums Leben. Leo, der wie die anderen aus dem Auto geschleuderte wurde, wurde nur leicht verletzt.
Er heiratete im folgenden Jahr, am 22. April 1924, Johanna Cassirer geborene Sotschek (1887-1974); „Hannah“ Cassirer war zuvor mit dem Industriellen Alfred Cassirer (1875-1932) verheiratet gewesen und war geschieden worden. Im Jahr 1927 bezog die Familie ein Haus in Dahlem (Wildpfad 17E) (Bild 5). Das Kind aus der ersten Ehe von Hannah, Eva Cassirer, die 1920 geboren wurde und 2009 in Mallorca verstarb, hatte stets eine hohe Meinung von ihrem Stiefvater Leo Blumenreich. Auch wenn es ihm offenbar nicht vergönnt war, eigene Kinder zu haben, hat seine eigene, sehr schwierige Kindheit ihn offenbar veranlasst, anderen vaterlosen Kindern ein gutes Zuhause zu geben. Leo Blumenreich starb am 12. Mai 1932 im Martin-Luther-Krankenhaus Berlin, er wurden nur
3. R. Schiffmann (Hrsg). Deutsche Schulgesetze. L. Oehmigkes Verlag, Berlin 1886, Seite 212.
4. Akte im Archiv der Humboldt-Universität: Abgangszeugnisse vom 23ten Oktober 1909 bis 28ten Oktober 1909. Universitäts-Registratur Littr. A No. 6 Vol. 1720.
5. Berliner Tagblatt und Handelszeitung, Abendausgabe, Freitag, den 16. April 1915, Seite 4.
Im ersten Teil der Geschichte hatten wir die Herkunft Arnold Blumenreichs – und seiner Geschwister – vorgestellt, insbesondere den berühmt-berüchtigten Vater Paul Philipp Perez Blumenreich und seine vier Ehen mit insgesamt 14 Kindern (JUELE vom 22. Juni 2024). Wir haben uns gefragt, was bei so einer chaotischen Kindheit aus den vier Kindern der ersten Ehe geworden sein mag. Hier und heute also die Geschichte des ältesten Sohnes und seiner Familie, nachdem zwei Geschwisterkinder, die vor ihm geboren worden waren, noch im Kleinkindalter verstarben. Laut Geburtsurkunde hieß er Arnold, aber er schrieb sich später im Leben gelegentlich, wenngleich nicht immer Arnhold (Bild 1) – wir werden ihn einheitlich Arnold nennen.
Von Wien nach Berlin
Arnold Blumenreich, geboren am 6. November 1875 in Berlin, heiratete am 3. Dezember 1905 in Wien Ilse Mautner, Tochter des Hauptschullehrers Julius Jakob Mautner, geboren am 23. August 1877. Im diesem Jahr 1877 waren die Eltern von Arnold, der Schriftsteller Paul Blumenreich und seine (erste) Frau Adele, geborene Fränkel, die zu diesem Zeitpunkt hochschwanger war, mit Arnold nach Wien umgezogen, wo Blumenreich Redakteur einer Zeitung wurde und vor allem Theaterstücke verfasste; drei Jahre später (Arnold war 5 Jahre alt) zog die Familie wieder zurück nach Berlin. Als er neun Jahre alt war (1885), starb seine Mutter an Tuberkulose. Ein Jahr später (1886) heiratete sein Vater erneut. Diese Ehe hatte nur vier Jahre Bestand, sie wurden 1890 geschieden, Arnold war jetzt 15 Jahre alt. Zuvor bereits hatte sein Vater, vermutlich in Wien, die Schriftstellerin Franziska Kapff-Essenther (1845-1899) kennengelernt, sie wurde 1891 seine dritte Frau.
Es ist völlig unklar, wo Arnold seine Schulzeit verbracht hat (vermutlich größtenteils in Berlin), wo er seine Buchhändler-Lehre gemacht hat, und wann und wo er die Ilse Mautner kennengelernt hat, wahrscheinlich in Wien. Jedenfalls haben sie dort 1905 in der jüdischen Gemeinde geheiratet. Im Jahr 1906 kam ein Sohn, Victor, zur Welt, und im Jahr 1911 eine Tochter, Gerda. 1919 zogen Victor und Gerda mit den Eltern nach Berlin. Victor Tod wurde im Rahmen des Wiedergutmachungsverfahrens 1960 dokumentiert : er starb Neufchatel (Schweiz) „gegen Ende des 1. Weltkriegs … sein Tod wird mit dem Zeitpunkt 31. Dezember 1923 festgestellt“ (1).
Im Jahr 1908 eröffnete Arnold Blumenreich in Wien, in der Webgasse 12, das Wiener Kunsthaus Ges.m.b.H., das bis 1923 in Wien nachweisbar ist, jedoch mit Unterbrechungen. Darüber hinaus war Arnold Blumenreich Gesellschafter eines Kunst- und Musikalienhandels in Wien, und meldete 1916 in Wien „Blumenreich´s Versandhaus Ges.m.b.H.“ an; eine gleichnamige Fima eröffnete er in Budapest. Dieser Teil seiner Biografie ist in der exzellenten Master-Arbeit von Victoria Louise Steinwachs (2) gut recherchiert und dokumentiert. Auch die vielfältigen Aktivitäten des Versandhauses (Kauf, Verkauf, Vermittlung von Kunst etc.) sind bei Steinwachs gut dokumentiert und werden hier nicht behandelt (Bild 2).
Den Beitrag von Bethan Griffiths „Jüdische Gewerbebetriebe rund um die Potsdamer Straße: Versandhandel Arnhold Blumenreich“ über den Aufstieg und die anschließende Auflösung des Geschäftes nach der Machtergreifung der Nazis 1933 wollen wir hier nicht wiederholen, sondern verweisen auf die Veröffentlichung hier vom 17. Februar 2023. Diese Geschichte endet mit dem folgenden Absatz:
Für das Ehepaar wurde es in Berlin immer bedrohlicher. Im Mai 1939 wurde Arnhold aus unbekannten Gründen verhaftet und im Polizeigefängnis Mitte inhaftiert. Er und Ilse wurden schließlich am 28.10.1942 aus ihrer Wohnung in der Solinger Str. 6 nach Theresienstadt deportiert. Die furchtbaren Bedingungen des Konzentrationslagers überlebte Ilse nur ein halbes Jahr. Arnhold starb ein Jahr nach seiner Deportation.
Die weitere Geschichte wirft einige Fragen auf, denen wir nachgegangen sind: Warum und wie wohnte die Familie in der Solinger Straße 6? Was geschah mit den Kunstgegenständen? Was wurde aus Gerda Blumenreich, der Tochter? Gab es nach dem Krieg ein Wiedergutmachungsverfahren, und wie ging es aus?
Judenhäuser in der Solinger Straße
In der Levetzowstraße 7/8 in Berlin-Moabit befand sich seit 1914 eine der größten Synagogen Berlins. Die Nationalsozialisten richteten dort 1941 ein Sammellager für Juden ein, die sie anschließend in den Osten deportierten (3) – und drumherum gab es eine Vielzahl von sogenannten „Judenhäusern“, in denen die von außerhalb Berlins oder aus anderen Stadtteilen zusammengezogenen Juden bis zur – geplanten – Deportation ab dem Jahr 1939 einquartiert wurden. Die Solinger Straße 6 war so ein Judenhaus in der Nähe der Synagoge, neben einigen anderen in der gleichen und den umliegenden Straßen (Bild 3). Natürlich wohnten besonders viele Juden in der Umgebung der Synagoge, und viele dieser Häuser hatten ursprünglich jüdische Besitzer – sie standen nach der Machtergreifung des Nazis unter Zwangsverwaltung, auch das Haus Solingerstraße 6. Es gehörte einem J. Kaufmann aus Riga und wurde ab 1939 von einer Charlotte Meurer im Auftrag der Treuhandstelle Ost verwaltet. Arnold Blumenreich arbeitete zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als Buch- und Kunsthändler, sondern als „Wohnungsberater“ der Jüdischen Krankenversicherung (JKV) für 190 Reichsmark (RM) monatlich. Die Miete für die 4-Zimmer-Wohnung war 130,30 RM im Monat. In der gleichen Wohnung war weiterhin eine jüdische Familie (Ernst und Elfriede Süßmann und ihre Tochter Franziska) untergebracht (4). Der Vormieter der Wohnung, Heymann Grossmann, war im Oktober „ausgewandert“.
Die Webseite „Zwangsräume“, die Judenhäuser in Berlin dokumentiert (5), nennt wenigstens 16 Umzüge an diese Adresse nach 1939. Eine dieser Umzüge war der der Familie Arnold Blumenreich, die nach 1939 nicht mehr unter ihrer alten Adresse (1938: Schöneberger Ufer/Großadmiral von Koester-Ufer 55; 1939: Kluckstraße 13) im Berliner Adressbuch gelistet war. Sie zog zum 28. November 1940 in die Solinger Straße 6, 2. Stock, nachdem sie zuvor offenbar kurzzeitig schon in der Solinger Straße 3 gewohnt hatte, ein weiteres Judenhaus mit mindestens 13 Einzügen seit 1939. Durch diese Zwangsumzüge war, wie die Nazi-Presse lauthals verkünden konnte, das Tiergartenviertel „judenfrei“ und bereit zum großen Umbau für „Germania“, den Monster-Stadtplan von Albert Speer (6).
Wir erfahren all dies aus den Akten, die das Finanzministerium angelegt hatte (4), um Eigentum und Vermögen der Juden zu erfassen und zu konfiszieren. Auf der Grundlage eines entsprechenden anti-jüdischen Gesetzes musste alle Juden in Deutschland eine gesonderte Vermögenserklärung gegenüber dem Finanzamt abgeben – die Erklärung der Familie Blumenreich (Arnold, Ilse und Gerda) listet alle Einrichtungsgegenstände der Wohnung auf, die sie in der Solinger Straße bewohnten (s. unten) – Kunstgegenstände waren nicht darunter.
Da jüdische Galeristen bereits vor 1939 ihre Geschäfte aufgeben mussten, aus den Kunst- und Kunsthändler-Verbänden ausgeschlossen wurden und die von ihnen gehandelte Kunst oftmals als „entartet“ gebrandmarkt worden war, wurde die Kunst versteigert; die „entartete“ ging ins Ausland, um Devisen einzufahren für den geplanten Krieg, und wenn sie dem nationalsozialistischen „Zeitgeist“ entsprach, an einheimische Sammler. Wenn sich nicht zuvor Göring oder Hitler die Werke selbst unter den Nagel rissen für ihre Privatsammlungen (7).
Arnold und Ilse hatten einen Ehevertrag zur Gütertrennung vom 24. März 1906, also noch in Wien vereinbart und im Notariatsregister Breslau am 12. August 1911 hinterlegt. Die Vermögenserklärungen von Arnold und Ilse Blumenreich (vom 16. Oktober 1942) sind darüber hinaus deswegen spärlich, weil sie den gesamten Hausrat 1939 ihrer Tochter Gerda als Aussteuer übertragen hatten und bis auf weniges Persönliches, vor allem Kleider, nichts mehr besaßen. Sollten sie noch Geld gehabt haben, so haben sie dies sicherlich für die Reise und Unterbringung in Theresienstadt ausgeben müssen – die Nazis ließen sich auch dies von den Deportierten bezahlen, da ihnen ja ein „Altersruhesitz“ versprochen wurde – welch ein Zynismus. Als Gerda ihre Vermögenserklärung abgab (am 24. November 1942), waren ihre Eltern bereits „abgereist“: Sie wurden mit dem 68. Alterstransport am 28. Oktober 1842 nach Theresienstadt deportiert (8) – ob sie danach noch mal Kontakt mit ihnen hatte, ist zweifelhaft, beide starben innerhalb eines Jahres. Aber die geheime Staatspolizei (Gestapo) konnte dem Oberfinanzpräsidenten die erfolgreiche Beschlagnahmung des Vermögens weiterer 100 Juden nebst deren Abschiebung nach Theresienstadt in einem geschäftsmässigen Schreiben melden (Bild 4).
Gerda Blumenreich
Gerda Blumenreich, am 16. März 1911 in Wien geboren, war 22 Jahre alt, als die Nazis an die Macht kamen. Sie war unverheiratet, hat noch bei ihren Eltern gewohnt, und war laut Informationen aus den Akten des BLHA (9), von Beruf Fürsorgerin und ständige Helferin in der Synagoge in der Levetzowstraße. In ihrer Vermögenserklärung gibt sie weitere Informationen: Sie arbeitete zuletzt bei der Jüdischen Kulturvereinigung zu Berlin e.V. für 200 RM netto im Monat, bewohnte die 4-Zimmer-Wohnung nach der „Abwanderung“ ihrer Elternnach Theresienstadt allein, zahlte dafür 135 RM Miete, hatte aber einen weiteren Untermieter aufgenommen – möglicherweise war die Familie Süßmann ebenfalls bereits deportiert worden.
Das Wohnungsinventar wurde Finanzamt auf eine Gesamtwert von 1239 RM geschätzt, wobei bei vielen Positionen vermerkt wurde: defekt, alt, beschädigt, zerbrochen etc. Dies wurde später im Wiedergutmachungsverfahren als „übliche Praxis“ der Auktionshäuser bezeichnet, um den Preis zu drücken und so auf jeden Fall die Gegenstände zu verkaufen – das Finanzamt war schließlich nicht an Möbeln interessiert, sondern an Geldwerten. Die Versteigerung von etwa 60 Positionen am 23. März 1943 listet auch die vielen Käufer des Blumenreichschen Hausrates. Der auf der Auktion erzielte Gesamtverkaufspreis von 3097,00 RM reduzierte sich um 309,70 RM als Gebühr für die Versteigerung, und 203,10 RM für den Transport des Hausrats, so dass am 6. April 1943 nur 2584,20 RM an die Finanzkasse des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg überwiesen wurden. Auch das Eigentum der Familie Süßmann kam zur Versteigerung und erbrachte (netto) 387,10 RM. Als das Geld beim Finanzamt einging, war Gerda Blumenreich schon mit dem 23. Osttransport am 29. November 1942 als Nr. 1007 von 1021 anderen nach Auschwitz deportiert und dort vermutlich unmittelbar nach Ankunft umgebracht worden (10) (Bild 5).
Aber es gab weitere Interessenten an dem wenigen Geld: Die Hausverwaltung veranlasste unmittelbar nach Auszug von Gerda Blumenreich umfängliche Renovierungen der Wohnung, deren Gesamtrechnung sich auf 1093,46 RM belief. Diese Kosten machten sie gegenüber dem Finanzamt am 29. September 1943 geltend, und dann begann das, was man wohl eine Schacherei nennt. Das Finanzamt monierte, dass eine Gesamtrenovierung nach zwei Jahren Wohnens nicht angemessen sei, da bei Wohnungsbezug keinerlei Mängel notiert worden seien, sondern die Wohnung laut Mietvertrag renoviert übernommen worden sei. In der Vermögenserklärung hatte Arnold Blumenreich demgegenüber erhebliche Mängen in den hinteren Räumen beanstandet. Ausnahmsweise bot das Finanzamt die Übernahme von einem Drittel der Kosten an, und erhöhte schließlich auf 50%, nachdem die Hausverwaltung nachgelegt und über erhebliche Mietschäden durch ungenehmigte Untervermietung geltend gemacht hatte. Und so überwies das Finanzamt am 30. November 1944 vom Verkaufserlös des Mobiliars einen nicht unerheblichen Teil (510,76 RM) wieder zurück in den Geldkreislauf – 6 Monate vor Kriegsende. Die darüber hinaus gehenden vielfachen persönlichen wie dienstlichen Bereicherungen Einzelner wie auch unterschiedlicher Ämter und Behörden am Vermögen der Juden ist gut dokumentiert und diskutiert, z.B. bei Dinkelaker (3).
Das Wiedergutmachungsverfahren
Ein Antrag auf Wiedergutmachung (1) wurde am 19. März 1959 vom Bruder von Ilse Blumenreich geborene Mautner gestellt, Dr. Leo Viktor Mautner, der rechtzeitig vor dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich nach Columbien ausgewandert war – er war, als er den Antrag stellte, 85 Jahre alt und machte in seinem Antrag wegen seines hohen Alters auf eine gewissen Dringlichkeit aufmerksam. Das hinderte den Justizapparat in Deutschland jedoch nicht, zunächst die bürokratischen Mühlen mahlen zu lassen: Er musste nicht nur nachweisen, dass er der rechtmäßige Erbe seiner Schwester ist (was wegen der fehlenden Informationen über den Verbleib von Gerda schwierig war), er musste auch den Inhalt der Wohnung nachweisen, „da Hausratsgegenstände in der letzten Wohnung Berlin NW 87, Solinger Str. 6 nicht vorgefunden worden (sind)„. Er musste, als die Versteigerungsliste auftauchte, widerlegen, dass die Wohnungseinrichtung alt, defekt, zerbrochen etc. war – eine eidesstattliche Versicherung war dazu unzureichend, es musste vom Gericht ein Gutachten eingeholt werden, dass dies bestätigte und dass den wahren Wert des Mobiliars zum Zeitpunkt der Konfiszierung schätzte – es kam auf einen Wiederbeschaffungswert von 16.727 DM. Erst als das Gericht durchblicken ließ, dass es der Argumentation des Antrag folgen würde, bewegte sich das Finanzamt und bot am 13. Februar 1963 als Kompromiss die Zahlung von 10.000 DM – das RM:DM-Verhältnis lag in all diesen Verfahren bei etwa 10:1. Und erst nochmaliges Insistieren der Antragsteller und des Gerichtes führten schließlich am 1. März 1965 zum Vergleich: Zahlung von 13.364 DM – aber da war der Antragsteller bereits verstorben, und sein Sohn führte das Verfahren zu Ende.
Literatur
1. Wiedergutmachungs-Akten (WGA) im Landesarchiv Berlin: B Rep. 025-02 Nr. 22127/59.
2. Victoria Louise Steinwachs: Arnold Blumenreich. Ein Beitrag zur Erforschung jüdischen Kunsthandels in Berlin im Dritten Reich. Masterarbeit Kunstgeschichte, FU Berlin, ohne Jahr (2016).
3. Philipp Dinkelaker: Das Sammellager in der Berliner Synagoge Levetzowstraße 1941/42. Metropol Verlag Berlin 2017.
6. Hans J. Reichhardt, Wolfgang Schäche: Von Berlin nach Germania – Über die Zerstörung der Reichshauptstadt durch Albert Speers Neugestaltungsplanungen. Berlin, Transit Buchverlag 1986.
7. Günther Haase: Die Kunstsammlung des Reichsmarschalls Hermann Göring. Kunstsammlung Göring. Eine Dokumentation. Quintessenz-Verlag Berlin 2000
Am Montag, 24. Juni, wurden in mehreren Berliner Bezirken insgesamt zehn Stolpersteine für Mitglieder der Familie Kubatzky verlegt. In Tiergarten-Süd hatten in der Lützowstraße 87, dort wo heute der Schulhof der Allegro-Grundschule ist, Hermann Julius Kubatzky, seine Frau Rosa Kubatzky, geb. Arndt und ihr Sohn Herbert Kubatzky gewohnt. Sie konnten in den 1930er Jahren nach Palästina fliehen und so ihr Leben retten. Alle drei haben den Holocaust überlebt.
Debbie Kirby, Urenkelin von Hermann und Rosa Kubatzky, sprach auf Englisch einige bewegende Worte am Ort des ehemaligen Wohnhauses ihrer Urgroßeltern. Sie und weitere Verwandte waren aus Israel und den USA angereist. Sie dankten für die Teilnahme von rund 15 Nachbarn aus Tiergarten an dieser Veranstaltung.
Die Recherchen zum Schicksal dieser jüdischen Familie hat Oliver Staack ins Rollen gebracht: auf einem Flohmarkt kaufte er durch Zufall Postkarten, die Wanda Kubatzky ihrem Verlobten geschrieben hatte. Als Oliver Staack feststellte, dass die Familie Kubatzky aus dem pommerschen Kreis Deutsch Krone nach Berlin gezogen war, weckte das sein Interesse, weil auch seine eigene Großmutter von dort stammte. In der Corona-Zeit hatte er Muße für die tiefergehende Recherche und bekam über eine Genealogie-Seite im Netz Kontakt zu Debbie Kirby. Die Initiative „Stolpersteine Mitte“ brachte die Verlegung der Stolpersteine auf den Weg.
Bei strahlendem Sonnenschein gingen die Gäste der Stolperstein-Verlegung gemeinsam in die Pohlstraße 64, dem früheren Wohnhaus von Hedwig Kubatzky, 1875 in Zippnow/Pommern geboren. Hedwig Kubatzky hatte im Hause Pohlstraße 64 ein Atelier, in dem sie ihren Beruf als Schneiderin und Modistin ausübte. Neben dem Stolperstein für Hedwig Kubatzky wurde ein weiterer für ihre Schwester Johana Kubatzky verlegt, deren Wohnadresse in Berlin nicht ermittelt werden konnte. Beide Schwestern wurden 1941 nach Riga deportiert und dort ermordet.
Eine besondere Atmosphäre lag über beiden Gedenkveranstaltungen: Frank Lunte, Musiklehrer an der Allegro-Schule, spielte auf dem Altsaxophon mehrere Musikstücke jüdischer Komponisten aus den 1930er Jahren.
Auch für diese Geschichte gibt es eine Vorlage von Beth Griffiths (mittendran am 18. Dezember 2022, diese Webseite vom 17. Februar 2023), und auch diese Geschichte – in zwei Teilen – erzählt zunächst die familiäre Herkunft des Arnold Blumenreich, bevor im Teil 2 sein Schicksal und das seines Versandhandels nach der Machtergreifung der Nazis thematisiert wird. Der Bezug zum Lützow-Viertel ist dabei zunächst eher zufällig, wenn die Familie Blumenreich immer wieder mal für kurze Zeit hier wohnte: in der Potsdamer Straße 66 von 1891-1893, in der Dennewitzstraße 19 in den Jahren 1903 und 1904. Erst seine Söhne Arnold, Leopold und Walter hatte ihre Wohnsitze dauerhaft im Lützow-Viertel.
Der Vater, Paul Philipp Blumenreich
Paul Philipp Perez Blumenreich war der Sohn des Optikers (Optirist, Optikus) Lesser Blumenreich in Berlin, über dessen Herkunft das Judenbürgerbuch der Stadt Berlin (1) keine Auskunft gibt: er muss also um oder nach 1848 nach Berlin gekommen sein, als Juden keinen Bürgerbrief mehr beantragen mussten – auch wenn das volle Bürgerrecht damit noch lange nicht erreicht war. Das Adressbuch von Berlin kennt Lesser Blumenreich im Jahr 1849 zum ersten Mal (Oranienburger Straße 12). Er blieb – mit Unterbrechung einzelner Jahre, in denen er umzog – bis 1876 als Optiker im Adressbuch, war aber laut einem Heiratsdokument seines Sohnes auch 1891 noch am Leben – sein Sterbedatum ist nicht bekannt. Er war verheiratet mit Doris Thiras, die 1873 verstarb, und am 17. November 1849 kam ihr (einziges?) Kind zur Welt. Und das hatte anderes im Sinn, als in die handwerklichen Fußstapfen des Vaters zu treten.
Bekannt geworden ist Paul Blumenreich als Schriftsteller. Schreiben konnte er offenbar, für die Tagespresse für die Vossische Zeitung – nach eigenen Angaben nur kurzfristig -, für Das kleine Journal (2), für die Gartenlaube; er gab die Zeitschrift Montag heraus und führt ein Literarisches Bureau. Erstmals im Adressbuch erschien er als Redakteur Paul Blumenreich 1874 (Alte Jacobstraße 136), wenn er nicht identisch war mit dem Buchhändler und Antiquar Paul Blumenreich (Dresdnerstr. 66) in den Jahren 1872 und 1873 – das wäre bei dieser Familienherkunft ein sehr früher Beginn einer intellektuellen Karriere, vor Erreichen der Volljährigkeit mit 24 Jahren.
Paul Philipp Perez Blumenreichs berufliches und familiäres Leben reichte für mehr als eine Person, und genau so hat er es auch organisiert: Das fängt schon damit an, daß er sich im Schriftsteller- und Theaterleben Paul Blumenreich nannte, private Urkunden und Dokumente aber meist mit PhilippBlumenreich unterschrieb. In der Geburtsurkunde seines Sohnes Walter von 1880 geriet diese Konzept offenbar kurzfristig in Unordnung, als er bei seiner Unterschrift seinen Vorname Paul durchstrich und durch Philipp ersetzte. Er heiratete 1891 unter dem Namen Philipp Blumenreich. Und als der Schriftsteller Paul Blumenreich aus den USA zurückkam (s. unten), lebte er – zumindest für kurze Zeit – unbeschadet des Haftbefehls in Berlin unter dem Namen Philipp Blumenreich in Wien. Auch seine Sterbeurkunde im Standesamtsregister weist ihn als Philipp Blumenreich aus (Bild 1).
Paul Blumenreich war Schriftsteller, auch wenn er 1869 als Schauspieler am Leipziger Stadttheater angefangen hatte. Er schrieb Theaterstücke am laufenden Band, die in Berlin, Wien und anderswo aufgeführt wurden, zumeist Komödien und Glossen, nicht selten in – manchmal nicht-autorisierter – Übernahme oder Übersetzung aus dem Englischen oder Französischen (3). Und außerdem publizierte er unter verschiedenen Pseudonymen: Hellmuth Wilke, Jörg Ohlsen und Georg Berwick.
Blumenreich war auch Mitbegründer des 1895 im Berliner Stadtteil Charlottenburg gegründeten Theater des Westens (Bild 2), ebenso wie „Erfinder“ und Direktordes Theaters Alt-Berlin auf der Berliner Gewerbeschau von 1896, das unter dem Protektorat des Vereins für die Geschichte Berlins von 1869 stand und mit einem finanziellen Desaster endete. Details dazu waren in der Tagespresse in Berlin, Wien und anderswo Thema kontinuierlicher Diskussion, an die er sich laufend beteiligte. Die gegen ihn gerichteten Vorwürfe des Betrugs kommentierte er mit einer 68-seitigen „Festschrift“ von 1897 (4), mit umfangreichem, interessantem, wenngleich nicht in allen Fällen gesichertem Detailwissen, das in der Stadt einen Skandal auslöste.
Die von ihm erwartete, nicht unbedingt befürchteten Beleidigungsklagen blieben aus, der Vorwurf des Betrugs aber blieb. Im Laufe der Jahre sammelte er Gerichtsurteile: Im Oktober 1883 verlor er eine Beleidigungsklage als Chef des Kleinen Journals (60 Mark Strafe), im Januar 1884 wurde eine Klage wegen unerlaubten Nachdrucks eingestellt, im Juni 1885 war er bei einer Klage wegen falscher Anschuldigung in einem Artikel unauffindbar. Nach dem Scheitern des Theaters Alt-Berlin wurde er im Oktober 1896 steckbrieflich gesucht wegen Betruges, war für einige Zeit verschwunden, stellt sich dann, um im darauffolgenden Jahr (1897) erneut mit einem Steckbrief gesucht zu werden, da er nach dem Urteil und einer abgelehnter Revision verschwand; dazu unten mehr.
Philipp Blumenreich heiratete am 15. März 1873 Adele Fränkel aus Breslau (1850 – 16. Mai 1885 Berlin). Das Ehepaar hatte neun Kinder, von denen allerdings fünf noch im Kindesalter starben: Benjamin (1873-1877), Oskar (1874-1875), Arnold (1875-1943), Elsa (1877-1956), Hans (1878-1878), Walter (1880-1940), Dorothea (1881-1882), Erich (1883-1885), und Leonhard (1884-1932). Im Jahr 1877 zog die Familie nach Wien, wo Blumenreich Redakteur einer Zeitung war, Feuilletons schrieb, aber vor allem Theaterstücke verfasste (siehe oben). Gelegentlich wurde er hier mit einem Doktor-Titel geziert, aber das mag dem österreichischen Hang zu klangvollen Titeln geschuldet sein. Drei Jahre später zog die Familie wieder nach Berlin, und Paul Blumenreich arbeitete als Schriftsteller und Redakteur der Zeitschrift „Kleines Journal“. In den folgenden Jahren (1881 bis 1888) wechselte die Familie nahezu jährlich die Wohnadresse, bevor sie nach sieben Umzügen in acht Jahren für drei Jahre in der Potsdamer Straße 66 verblieben – vermutlich war dies der wachsenden Kinderzahl geschuldet. Ein halbes Jahr nach der Geburt des Jüngsten, Leonhard, starb Adele Blumenreich geborene Fränkel im Alter von nur 35 Jahren, vermutlich an Tuberkulose.
Der Witwer mit vier minderjährigen Kindern (drei Söhnen und eine Tochter) im Alter von 6 Monaten, 5 Jahren, 8 Jahren und 15 Jahren heiratete ein zweites Mal am 21. November 1885: die Lehrerin Gutchen Gertrud Lewissohn (1856-1903). Zwei in der Nachfolge geborene Kinder starben innerhalb kurzer Zeit: ein Mädchen noch am Tag der Geburt (19. Juni 1887), ein Junge (Ludwig) nach 5 Wochen (15. Juli 1888). Zum Zeitpunkt des Todes des zweiten Kindes war der Aufenthalt des Vaters nicht zu ermitteln, wie die Geburtsurkunde bezeugt. Diese Ehe wurde am 11. Oktober 1890 geschieden. Gertrud Blumenreich geborene Lewissohn starb am 20. März 1903 in der „staatlichen Irrenanstalt Dalldorf“ in Berlin – ob ihre Krankheit mit dem unglücklichen Verlauf ihrer Ehe zusammenhing oder Grund für das Scheitern der Ehe war, entzieht sich unserer Kenntnis.
Der Vater, mit immer noch vier minderjährigen Kindern zwischen 5 und 20 Jahren heiratete erneut am 30. Juni 1891: Franziska Essenther, geboren am 2. April 1845, fing in Wien mit der Schriftstellerei an, erarbeitete sich einen tadellosen Ruf als frühe und engagierte Frauenrechtlerin, und erhielt für ihre schriftstellerische Tätigkeit 1886 einen Preis. Sie muss in Wien Paul Philipp Blumenreich kennengelernt haben, ging sie doch 1888 nach Berlin und bekam noch im gleichen Jahr ein Kind, Illa, geboren am 14. August 1888, für das Blumenreich die Vaterschaft bestätigte (Bild 3). Zwei weitere Kinder (Hertha, geboren am 5. September, Julius, geboren am 21. Januar 1891) wurden in Berlin geboren, bevor sie 1891 heirateten. Zwischen 1892 und 1894 lebte die Familie wohl in Stuttgart.
In den folgenden 5 Jahren hatte Paul Blumenreich das Theater Alt-Berlin im Rahmen der Berliner Gewerbeausstellung (Bild 4) zunächst aufgebaut und dann in den Konkurs geschickt, hatte deswegen die geplante Direktion des Westend-Theaters an der Kantstraße verloren und war 1897 wegen Veruntreuung und Betrug angeklagt und verurteilt worden. Er floh, nachdem die Revision verworfen worden war, im gleichen Jahr in die USA; unklar ist, ob ihn dabei einige seiner Kinder begleiteten, wie manche Zeitungen zu berichten wussten. In der US-Volkszählung vom Januar 1900 jedenfalls waren zu diesem Zeitpunkt vier Kinder bei ihm: die 23-jährige Elsa und der 16-jährige Leo aus der ersten Ehe, und Illa/Ella mit 12 Jahren und Siegfried mit 9 Jahren aus der dritten Ehe (Bild 5).
Paul Blumenreich bekam eine Anstellung beim Deutschen Theater in New York, schickte Geld nach Berlin, und unbestätigten Meldungen in der Presse zufolge schickte seine Frau ihm 1899 (zwei) Kinder nach New York City, reiste aber selbst nicht aus Angst vor der Seereise; sie hatte in dieser Zeit einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. Als er seine Anstellung in New York verlor, schrieb er nach Berlin, dass er Geld brauche. Sie erhöhte ihren schriftstellerischen Output und schickte Geld in die USA, als er aber schrieb, er habe „Rückenmarkschwindsucht“, war dieser Schicksalsschlag offenbar zu viel für sie: sie nahm sich im November 1899 das Leben (5).
Blumenreich kam im Juli 1900 aus den USA nach Wien, wurde als Redakteur eines illustrierten Wiener Wochenblattes angestellt, und heiratete im August 1902 in Wien ein viertes Mal: Ernestine (Erna) Gruber (1870-1941). Gemeldet war er unter dem Namen Philipp Perez Blumenreich, Schriftsteller, wohnhaft Lerchenfelderstr. 44. Als er Unterlagen in Berlin beantragte, wurde die Berliner Polizei auf seinen Aufenthalt in Österreich aufmerksam. Auf Antrag wurde er von der österreichischen Polizei verhaftet und ausgeliefert. Er kam für neun Monate ins Gefängnis und im Januar 1902 wieder auf freien Fuß. Auch im Gefängnis Plötzensee schrieb er weiterhin Romane und Theaterstücke.
Aus dieser vierten Ehe stammen zwei Kinder: Hans, geboren 1902 und Rudolph, geboren 1903. Über die Witwe des Schriftstellers wissen wir wenig: Sie war bis 1910 noch in Berlin gemeldet und wohnte in der Altonaer Str. 13 im Gartenhaus. Ausweislich einer weiteren Quelle (6) ging es ihr nach dem Tod ihres Mannes finanziell nicht besonders gut, so dass sie einen Antrag auf Unterstützung bei der Schiller-Stiftung in Weimar stellte, die gemäß ihrer Satzung nicht nur Literaturpreise an Schriftsteller vergab, sondern auch finanzielle Unterstützung an notleidende Schriftsteller und ihre Angehörigen – ob ihr diese gewährt wurde ist bislang nicht bekannt. 1910 war sie offenbar nach Wien zurückgekehrt und lebte von 1916 bis 1941 an der gleichen Adresse (Rechte Wienzeile 117), dann verschwand sie aus dem Adressbuch.
Das ließ Böses ahnen: Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 setzte sich dort die Judenverfolgung und -vertreibung durch die Nationalsozialisten in noch brutalerer Weise fort, und es stand zu befürchten, dass Ernestine (Erna) Gruber nach Theresienstadt oder in ein anderes KZ deportiert worden war. Eine Check der Arolsen-Datenbank der Holocaust-Opfer (7) ergab keinen Hinweis darauf, und in der Zeitungsdatenbank ANNO des österreichischen Nationalarchivs fand sich schließlich eine Notiz vom 16. April 1942 im Völkischen Beobachter, der Zeitung der NSDAP, wonach sie am 6. September 1941 verstorben sei. Diese amtliche Notiz fragte nach dem Verbleib ihres Sohnes Rudolf Blumenreich, der als Erbe gesucht wurde. Beide, Hans und Rudolf waren rechtzeitig nach Amerika ausgewandert.
Paul Philipp Perez Blumenreich starb 3. Juli 1908 in Berlin – unter dem Namen Philipp Perez Blumenreich. Er hinterließ seine Frau und sechs Kinder aus zwei seiner vier Ehen, von denen die vier aus der ersten Ehe versuchten, in Berlin Fuß zu fassen. Ob ihnen dies mit so einer chaotischen Kindheitsgeschichte geglückt ist, werden wir im nächsten Teil beschreiben – die Chancen dafür standen allerdings schlecht.
Literatur
1. Jacob Jacobson: Die Judenbürger-Bücher der Stadt Berlin. Walter de Gruyter & Co. Verlag, Berlin 1962.
1. Franz Brümmer: Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Band 1, 6. Auflage. Reclam Verlag, Leipzig 1913, Seite 266.
2. Das kleine Journal“ – Berliner Wochenschrift für Theater, Film und Musik“ (1878 bis 1935).
4. Paul Blumenreich: Das Theater des Westens. Festschrift und Epilog. Selbstverlag (Berlin) 1896 (digital in der Zentralen Landesbibliothek, ZLB Berlin).
5. Neues Wiener Tagblatt vom 30. Oktober 1899, Seite 3. Alle biografischen Informationen, mit all ihren Tatsachen, Spekulationen und Widersprüchlichkeiten, sind den Berliner Tageszeitungen Berliner Börsenblattund Berliner Tagblatt und Handelszeitung im Deutschen Zeitschriftenarchiv und den Österreichischen, insbesondere Wiener Tageszeitungen im Archiv der Österreichischen Nationalbibliothek ANNO entnommen.
am Montag, 24. Juni 2024 werden in den Bezirken Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Mitte zehn Stolpersteine für sechs Geschwister und Angehörige der Familie Kubatzky verlegt. Die Geschwister wurden in Pommern geboren, kamen aber letztlich alle nach Berlin.
Wir gedenken mit der Verlegung von Stolpersteinen der Geschwister Wanda Kubatzky (verheiratete Dumke), überlebte den Holocaust in Deutschland (Mischehe) Anna Kubatzky (verheiratete Budzislawski), nach Auschwitz deportiert und ermordet Max Kubatzky, nach Auschwitz deportiert und ermordet Hermann Julius Kubatzky (Flucht mit Familie nach Palästina) Hedwig Kubatzky, nach Auschwitz deportiert und ermordet Johana Kubatzky, nach Auschwitz deportiert und ermordet
In Tiergarten Süd werden Stolpersteine für folgende Personen verlegt:
Um 14 Uhr werden in der Lützowstraße 87 drei Steine für Hermann Julius Kubatzky, Rosa Kubatzky, geb. Arndt und deren Sohn Herbert Kubatzky verlegt. Die Flucht nach Palästina in den 30er Jahren rettete ihnen das Leben. Sie haben den Holocaust überlebt.
Zu Hermann, Julius Kubatzky ist Folgendes bekannt: Er wurde am 12. Dezember 1878 in Ratzebuhr, dem ehemaligen Deutsch Krone, geboren. Seine letzte bekannte Meldeadresse in Deutschland ist: Berlin, Lützowstrasse 87. Gemeinsam mit seiner Frau und seinem Sohn ist er am 17. Dezember 1937 nach Haifa / Israel ausgewandert. Eventuell war er noch in den USA bevor er spätestens 1957 wieder nach Deutschland kam (seine Frau verstarb 1944). Letzte bekannte Adresse ist die Iranische Strasse 6 in Berlin (Jüdisches Altersheim). Hermann Julius Kubatzky war 2x verheiratet: mit Rosa Arndt (geboren 1872 gestorben 1944) und davor mit Elly Rosenthal.
Um 15 Uhr werden in der Pohlstraße 64 zwei Steine für Hedwig Kubatzky und ihre Schwester Johana Kubatzky verlegt. Hedwig Kubatzky wurde am 27. November 1941 nach Riga deportiert und dort ermordet. Johana Kubatzky lebte 1939 noch in Pommern. Sie wurde am 15. August 1942 vom Sammellager in der Berliner Gipsstraße nach Riga deportiert und dort ermordet.
Über Hedwig Kubatzky ist das Folgende bekannt: Geboren wurde sie am 13. Januar 1875 in Zippnow, dem ehemaligen Deutsch Krone. Sie arbeitete als Schneiderin / Modistin. Ihre letzte bekannte, frei gewählte Adresse: bis 1940 wohnte sie in der Ludendorffstrasse 64 (heute Pohlstrasse). Sie musste ihre Wohnung aufgeben und ihre letzte bekannte Adresse in Berlin befindet sich in einem sogenannten „Judenhaus“ in der Turmstrasse 9. Deportation am 27. November 1941 nach Riga, wo sie am 30. November 1941 ankam. Alle Menschen, die den Transport selber überlebten, wurden im Wald von Rumbula erschossen.
Über Johana Hanna (Hannchen) Kubatzky wissen wir Folgendes: Geboren wurde sie am 16. August 1873 in Zippnow, im ehemaligen Deutsch Krone.
Ihre letzte bekannte, frei gewählte Adresse findet sich im Mai 1939 (Deutsche Minderheiten-Volkszählung) in Ratzebuhr, im ehemaligen Deutsch Krone. Sie muss zwischen 1939 und 1942 zu ihrer Schwester nach Berlin gezogen sein.
Die letzte bekannte Adresse in Berlin ist Gipsstrasse 12 a (Sammellager).
Am 15. August 1942 wurde sie mit dem 18. Osttransport nach Riga deportiert – Ankunft am 18. August in Riga. Alle Menschen, die den Transport selber überlebten, aber als nicht arbeitsfähig eingestuft wurden, wurden unmittelbar nach der Ankunft in den Wald von Bikernieki getrieben und dort erschossen. Johana wurde auf der Liste als nicht arbeitsfähig vermerkt.