Zwar wohnten im Bezirk Tiergarten nördlich des Landwehrkanals vor 1933 etliche reiche jüdische Familien (1), aber ein jüdisches Viertel (Bild 1) wurde es dadurch nicht, dazu gab es viel zu viele arme (und auch reiche und nicht-so-reiche) Juden in anderen Teilen der Stadt in den vergangenen 350 Jahren.
Das erste „jüdische Viertel“ war noch innerhalb der Festungsmauern der Garnison Berlin-Cölln – die Festung wurde um 1650 gebaut – im kleinen und großen „Jüdenhof“ und der Jüdenstraße, die heute zwischen Rotem Rathauses und Alexanderplatz verläuft (Bild 2). Von der nördlichen Garnisonsmauer gab es Ausgänge in Richtung der Stadt Spandau.
Nicht weit davon entfernt stand auch die erste, 1714 errichtete Synagoge der jüdischen Gemeinde, die sogenannte „Alte Synagoge“ (Bild 3, oben), in der Heidereuther Straße: auf dem heutigen Rosenplatz wird an sie erinnert (2). Sie durfte nur die Höhe eines Wohnhauses haben und nicht so hoch sein wie die Kirchen der Stadt, daher wurde sie tiefer gelegt. Immerhin: Zu ihrer Einweihung am jüdischen Neujahrsfest 1714 war die Königin Sophie Dorothea (1687-1757), Gattin von Friedrich I., des Soldatenkönig, und Mutter Friedrichs des Großen gekommen. Fast 100 Jahre nach dem Festungsbau, um 1735, wurde die Stadtmauer weiter außerhalb verlegt, im Norden der Stadt etwa da, wo heute die Linienstraße/Torstraße/Pallisadenstraße verläuft.
Da nur wenige „Schutzjuden“, in der Regel die reicheren Familien, in der Stadt wohnen durften, siedelten sich die meisten jüdischen Familien vor der Stadtmauer im sogenannten „Scheunenviertel“ an (Scheunen wurde bereits 1670 aus der Stadt verbannt) – sie durften lange Zeit die Stadt nur durch ein Tor betreten. Am 10. September 1671 erhielten die ersten beiden Familien einen Schutzbrief. Dieses Datum gilt seitdem als Gründungsdatum der Berliner Jüdischen Gemeinde. Um 1700 gab es bereits 117 jüdische Familien in und um Berlin.
Das Scheunenviertel wurde daher nach dem Abriss der Garnisonsmauern (nur der Festungsgraben blieb bis etwa 1880) und dem Bau der neuen Akzise-Mauer zum eigentlichen jüdischen Viertel in Berlin: hier wohnten Mitte des 19. Jahrhunderts etwa 18.000 Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Und hier entstand an der Oranienburger Straße, die eigentlich nicht zum Scheunenviertel gehörte, in den Jahren 1859 bis 1865 die „Neue Synagoge“ (Bild 3, unten links), die ausreichend Platz für 3000 Gemeindemitglieder bot und für lange Zeit die größte Synagoge in den deutschsprachigen Ländern war und eine der fünf größten Synagogen der Welt. Baumeister waren Eduard Knoblauch (1801-1865), der Baumeister des Bürgertums, und Friedrich August Stühler (1800-1865), Baumeister vieler Kirche, so auch der Matthäus-Kirche und der Zwölf-Apostel-Kirche im Lützow-Viertel.
Mit dem Anwachsen der Stadt wuchs auch der jüdische Bevölkerungsanteil, er betrug im Jahr 1860 etwa 5,6% und im Jahr 1933 etwa 3,7% (28.000 von 500.000 bzw. 160.000 von 4,3 Millionen Einwohnern), so dass neben der neuen Synagoge eine Reihe von (Privat-)Synagogen entstanden, darunter 1875 die Synagoge an der Ecke Potsdamer Straße 24/Schöneberger Ufer 26, errichtet durch den Tiergarten-Synagogenverein e.V. (Bild 3, unten Mitte). Dieser hatte das bereits vorhandene Wohnhaus aufgekauft und für seine 100 Gemeindemitglieder umgebaut. Und nur 23 Jahre später (11. September 1898) wurde in der Lützowstraße 16 eine weitere Synagoge eingeweiht (Bild 3, unten rechts), die fast 2000 Personen Platz bot, ausreichend also für die etwa 500 jüdischen Familien von Tiergarten-Süd bzw. der Schöneberger Vorstadt – aber eben kein „jüdisches Viertel“.
Literatur:
1. Katrin Wehry. Quer durchs Tiergartenviertel. Das historische Quartier und seine Bewohner. Berlin, Nicolai Verlag 2015
2. Nicola Galliner. Wegweiser durch das jüdische Berlin. Berlin, Nicolai Verlag 1987