Gabriele-Tergit-Promenade

Sie mündet auf den Potsdamer Platz, sie erinnert an eine starke Frau. Aber wer ist eigentlich Gabriele Tergit?

Sie mündet auf den Potsdamer Platz, sie erinnert an eine starke Frau.

Gabriele-Tergit-Promenade von Norden (Foto:bse)

Aber wer ist eigentlich Gabriele Tergit?

Am 4. März 1894 wird im Arbeiterviertel zwischen Jannowitzbrücke und Schlesischem Bahnhof ein Mädchen geboren.

Vier Jahre zuvor hatte der Vater Siegfried Hirschmann mit 26 Jahren in einem Hinterhof seine eigene Firma gegründet. Zwei Jahre nach der Geburt des Kindes waren daraus die großen Deutschen Kabelwerke in Boxhagen entstanden. Die „jüdische höhere Tochter“ besucht die von Alice Salomon 1908 gegründete erste „Sociale Frauenschule“ in Berlin-Schöneberg und studiert ab 1919 Geschichte, Soziologie und Philosophie in Berlin, Heidelberg, München und Frankfurt.

Noch während des Studiums legt die als Fabrikantentochter Elise Hirschmann Geborene sich das Pseudonym Gabriele Tergit zu.

Gabriele ist ein Spitzname aus ihrer Kindheit, Tergit ein Anagram des Wortes Gitter!

Ihre Karriere als Journalistin beginnt bereits im November 1915 mit ihrem ersten Artikel im Berliner Tageblatt zum Thema „Frauendienstjahr und Berufsbildung“; auch während des Studiums veröffentlicht sie Beiträge in der Vossischen Zeitung. Nach dem Studium beginnt sie mit Reportagen über Gerichtsprozesse für den Berliner Börsenkurier. Ihre Gerichtsreportagen werden schnell sozialkritisch, denn für Gabriele Tergit spiegeln die Prozesse die soziale Lage ihrer Zeit. So nimmt sie Anklagen wegen Abtreibung (§ 218) zum Anlass, auf die Armut, Not und Verzweiflung der betroffenen Frauen hinzuweisen. Auch über politische Prozesse berichtet sie, so über ein Verfahren gegen Fememörder der Schwarzen Reichswehr im Jahr 1927: „Unsichtbar steht ein großes Hakenkreuz vor dem Richtertisch“. Die Zeit schreibt fast 100 Jahre später (2014): „Gabriele Tergit war die erste Gerichtsreporterin. Weil sie Ungerechtigkeiten beschrieb, musste sie vor den Nazis fliehen.“ Spätestens seit ihrem Bericht über einen Prozess gegen Goebbels und Hitler und andere Artikel zur „völkischen Bewegung“ steht sie auf der Feindesliste der Nationalsozialisten. In den frühen Morgenstunden des 5. März 1933 überfallen SA-Männer Tergits Wohnung in Siegmundshof im heutigen Hansa-Viertel. Sie können aber nicht eindringen, da die Wohnungstür mit Eisenbeschlägen gesichert ist.

„Ich roch, dass so ein gewaltiger Hass, wenn freigegeben, zu Mord führen musste.“ In den Tagen bis zu ihrer Flucht (mit Sohn) in die Tschechoslowakei werden weitere Überfälle auf sie wohl durch die zu diesem Zeitpunkt noch sozialdemokratisch dominierte Schutzpolizei verhindert. Von nun an lebt sie im Exil. Zunächst folgt sie ihrem Ehemann Heinz Reifenberg nach Palästina, dann zieht die Familie 1938 nach London und hier wird sie von 1957 bis 1981 Sekretärin des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.

Gabriele Tergit veröffentlichte viele Bücher. Schriftstellerische Berühmtheit erlangte sie durch den 1931 bei Rowohlt erschienenen Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Ihr teils autobiografisches Werk, So war’s eben, das über einen Zeitraum von 1898 bis in die 1950er-Jahre den Untergang des jüdischen Bildungsbürgertums in Berlin bis hin zur Flucht ins Exil beschrieb, erschien erst 2021 lange nach ihrem Tod. „Ein Roman, den Nachkriegsdeutschland nicht wollte“ (Katharina Teutsch, Deutschlandfunk, 2021).

Im Exil schrieb sie auch fieberhaft an ihrem Roman „Eiffingers“, einem Familienroman über vier Generationen großbürgerlicher Familien, deren Schicksal sich zunächst nicht von dem wohlhabender gebildeter Bürger*innen in Deutschland unterscheidet, bis der sich ausbreitende Nationalsozialismus daraus ein jüdisches macht. „In Dutzenden von Hotelzimmern, in Prag, Jerusalem, Tel Aviv und schließlich ab 1938 in London entstand dabei die Chronik einer untergegangenen Welt, die Tergit über alles geliebt hat“ (Nicole Henneberg). Aber der Roman schildert auch die fast vollständige Auslöschung der Familien durch die nationalsozialistischen Greueltaten und endet mit einem Brief des 81-jährigen Paul, geschrieben kurz vor der Deportation, in der Hoffnung auf wenigstens „einen schnellen Tod“. In der Nachkriegszeit fand der großartig geschriebene Roman zunächst keinen Verleger. Erst 1951 wurde er in stark gekürzter Fassung veröffentlicht. Und tatsächlich verkaufte er sich schlecht. Die deutschen Leser*innen wollten nach dem Krieg nichts mehr von Juden, Krieg, Exil und Nazizeit lesen.

In ihrer neuen Heimat schrieb Gabriele Tergit in den Nachkriegsjahren auch noch für den Tagesspiegel (1954 – 2009 in der Potsdamer Straße ansässig) – wie gewohnt kritisch: „Als Deutschland zum zweiten Male das mächtigste Land Europas war, als es sich Österreich und das Sudetenland einverleibt hatte, wurde dieser Höhepunkt der Macht keineswegs zu einer pax germanica benutzt, sondern zum Rassenhass und zur Brandstiftung in Gotteshäusern.“ Aber „Als Exilierte fand Tergit nicht mehr recht in ihr angestammtes literarisches und publizistisches Milieu zurück“ (Juliane Sucke in Text+Kritik, 2020).

Auf Reisen kam sie gelegentlich nach Deutschland zurück, doch hier leben wollte sie nicht mehr. Deutschland war für sie als Heimat verloren.

Gabriele Tergit, geb. Elise Hirschmann, verehel. Reifenberg,
starb am 25. Juli 1982 in London.