Eine E-Mail aus Schweden dieser Tage hat die Geschichte des jüdischen Altersheims in der Lützowstraße 48/49 (auf dieser Webseite am 8. Mai 2022 und 18. August 2023) auf ein neues Niveau gehoben, man kann den schwedischen Rechercheuren Johan Ulvenlöv, Matti Palm und Anders Larsson, die ihre Ergebnisse bereits 2017 in einem schwedischen Buch und 2019 in dessen englischer Übersetzung (Bild 1) (1) publiziert haben, nur gratulieren zu ihren Befunden – das ist mehr, als was ich mir persönlich zugetraut hätte.
Im Teil 2 der Geschichte des Jüdischen Altersheims hatte ich nämlich geschrieben, dass von den vielen, geschätzt mehr als 200 Bewohnern des Altersheim nur wenige Spuren übriggeblieben sind, und hatte stellvertretend zwei Namen genannt, den einer Altenpflegerin, Johanna Calvary, geboren am 3. Januar 1896 in München, und den einer Heimbewohnerin, Rosa Mayer, geboren am 25. September 1868 aus Wittlich, die von den Nationalsozialisten deportiert und umgebracht worden waren. Und dass das ehemalige Altersheim nach seiner Räumung 1942 von der SS-Hauptabteilung des RSHA besetzt und genutzt wurde. Nur zu einem Heimbewohnerpaar, Hugo Mannheim und seine Ehefrau Emma, hatte ich zwischenzeitlich Akten um Centrum Judaicum Berlin gefunden und erhalten (2), die ich demnächst auswerten und beschreiben wollte.
Die schwedischen Kollegen, die ursprünglich auf einer ganz anderen Fährte unterwegs waren, haben mich nun eines Besseren belehrt: Sie konnten alle 256 Einwohner des Altersheims im Jahr 1939 namentlich identifizieren und ihr Schicksal nachverfolgen, das in den meisten Fällen – wie bei Calvary und Mayer – in Deportation und Ermordung endete. Aus dieser Recherche ist ein höchst lesenswertes Buch entstanden, das ich vor wenigen Tagen von Johan Ulvenlöv, einem der Autoren erhielt. Ich stelle es Interessierten gern zur Verfügung.
Ulvenlöv und Kollegen waren – und sind – auf der Suche nach Spuren eines schwedischen Alt-Nazis, Gustaf Ekström (1907-1995), der sich 1941 als Freiwilliger der deutschen Waffen-SS anschloss und in Berlin stationiert war, und der nach dem Krieg, wieder in Schweden, braunes Gedankengut in die schwedische Neo-Nazi-Szene einbrachte und 1988 an der Gründung der nationalsozialistischen Partei „Schweden Demokraten“ beteiligt war. Er war sein Leben lang ein Holocaust-Leugner, auch wenn er nachweislich an dessen Exekution beteiligt war.
Bei der Recherche nach seinem Arbeitsplatz in Berlin stießen die Kollegen auf die Lützowstraße (Bild 2) (3), und als ihnen klar wurde, dass dort zuvor ein jüdisches Altersheim existierte, wollten sie dessen frühere Bewohner und deren Schicksal ausfindig machen. Die Quelle, die ihnen dabei half, war mir vor zwei Jahren noch nicht bekannt: Es gab im Mai 1939 eine allgemeine Volkszählung in Deutschland, bei der alle Einwohner – nicht nur Berlins – neben allgemeinen Angaben auch die arische bzw. nicht-arische Abstammung der vier Großeltern angeben mussten. Diese Zusatzinformationen – nebst Adresse zum Zeitpunkt der Erhebung – haben als „Ergänzungskarten der Volkszählung vom 17. Mai 1939“ den Krieg überlebt und stehen heute in einer Datenbank zur Verfügung (4). Darüber konnten Ulvenlöv und Kollegen insgesamt 256 Individuen (184 Frauen, 72 Männer) identifizieren, die im Mai 1939 in der Lützowstraße 48/49 wohnten, und mit Hilfe dieser Namen und Geburtsangaben war es ihnen möglich, für 237 von ihnen in den diversen Quellen zum Holocaust (5) deren Verbleib zu rekonstruieren. Es ist hier nicht der Platz, das traurige Schicksal dieser 237 Personen nachzuzeichnen, selbst die Namensliste allein wäre hier zu lang, aber in der Summe ist die reine Statistik erschreckend genug: von 237 identifizierten Personen konnten nur acht noch rechtzeitig emigrieren, und nur drei hatten die Deportation überlebt – sie waren zum Zeitpunkt der Deportation jung. Vor der Deportation starben 57 in Berlin, in fünf Fällen ist ein Suizid gesichert. Insgesamt 166 wurden ermordet, die meisten in Theresienstadt; viele wurden von dort weiter transportiert nach Auschwitz und Treblinka, alle andere wurden in Riga, Minsk, Warschau, Litzmanstadt (Lodz) und anderen Ghettos und Konzentrationslagern ermordet.
Eine weitere deutsche Quelle (6) (Bild 3) haben die Autoren ausfindig gemacht, die Hinweise auf das Altersheim enthalten: Ester Golan (geborene Dobkowsky) wurde 1939 mit 16 Jahren mit einem Kindertransport nach England geschickt und korrespondierte bis 1942 mit ihren Eltern daheim. Ihre Mutter schrieb ihr, dass sie im August 1939 Anstellung im Altersheim in der Lützowstraße 48/49 gefunden hatte und in als Köchin arbeitete; sie bestätigte indirekt die große Belegung des Altersheims („wir verteilen knapp dreihundert Portionen„). In der Küche arbeitete sie zusammen mit Renate Golinski, eine Klassenkameradin von Ester. Renate Golinski wiederum, geboren 1924, ist eine der wenigen Überlebenden der Deportation: zuerst 1943 nach Theresienstadt, dann 1944 nach Auschwitz, wo ihre Eltern ermordet wurden, schließlich nach Flossenbürg und zuletzt nach Mauthausen. Auch Esters Eltern wurden ermordet, wie auch der Leiter des Altersheim, Dr. Martin Salomonski: er wurde 1941 nach Theresienstadt deportiert und starb 1942 in Auschwitz.
Was aber besonders bemerkenswert an dem Buch ist, ist nicht die sorgfältige, gut dokumentierte Recherche, sondern der meines Erachtens gelungene Versuch, die Geschichte eines Nazi-Täters, die ja immer in Gefahr steht, von den falschen Leuten mit Applaus bedacht zu werden, mit der Geschichte seiner Opfer zu verbinden. Und das nicht nur im Buch insgesamt, dass zwischen biografischen Informationen zu dem SS-Mannes Ekström und denen seiner Opfer kapitelweise wechselt, sondern auch innerhalb eines Kapitels bleiben Täter und Opfer aus das Engste miteinander verbunden, gelingt es Ekström nicht, seiner Vergangenheit zu entkommen – man wünscht sich fast, er hätte das Erscheinen dieses Buches noch erlebt.
Literatur
1. Johann Ulvenlöv, Matti Palm, Anders Larsson: No Remorse. Gustaf Ekströn, the SS volunteer who founded the Sweden Democrats. Faktel förlag, Eskilstuna, Schweden 2019.
2. Archiv des Centrum Judaicum Berlin, Akte: 1 E, Nr. 536, #14823.
3. Akte Bundesarchiv Berlin Lichterfelde: Akte NS 33/376, Blatt 12.
4. Bundesarchiv Berlin Lichterfelde, Akte: R 1509 bis R 1518. Die Film-Akten sind digital aufbereitet auf der Webseite „Mapping the Lives“ (https://tracingthepast.org/mapping-the-lives/).
5. Die Datenbank von Yad Vashem, das Gedenkbuch der Holocaust-Opfer im Bundesarchiv Berlin, das Erinnerungsbuch von Theresienstadt und viele andere Quellen.
6. Ester Golan: Auf Wiedersehn in unserem Land. ECON Verlag, Düsseldorf 1995.
Der folgende Text ist eine überarbeitete – einerseits gekürzte, andererseits ergänzte – Fassung eines Textes, den Beth Griffiths erstellt und bei mittendran am 16. Januar 2022 veröffentlich hatte. Der erste Teil der gesamten Geschichte findet sich in mittendran vom 20. April 2024 und auf dieser Webseite am 20. April 2024.
Die Arisierung der Firma Theodor Heymann Herrenartikel
Den ersten Hinweis auf wirtschaftliche Schwierigkeiten seitens des Hut- und Herrenartikelgeschäfts finden sich in den Handelsregisterakten in einem Brief der Industrie- und Handelskammer am 7. März 1938 an das Amtsgericht: Das Unternehmen sei zwar noch vollkaufmännisch tätig, aber es betreibe lediglich Einzelhandel mit Herrenartikeln, die Hutfabrikation sei eingestellt worden (9). Es ist anzunehmen, dass die antisemitischen Maßnahmen, insbesondere der Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte und die Beschädigung der Schaufenster eine große Rolle in der Verkleinerung des Betriebes gespielt hatten. Nur wenige Monate später erreichte die antisemitische Gewalt mit den deutschlandweiten Novemberpogromen einen bis dahin nicht gekannten Höhepunkt, der das Ende des Hutgeschäfts bedeutete, das fast ein halbes Jahrhundert lang existiert hat.
„Die Schaufenster müssen unverzüglich ersetzt werden spätestens bis 28. November“ – so schrieb nach dem Novemberpogrom der Zwangsverwalter des Hauses Potsdamer Straße 61, Carl A. Schmidt, am 22. November 1938 (11); zu diesem Zeitpunkt waren die meisten jüdischen Geschäfte aufgrund gesetzlicher Vorgaben den Inhabern entzogen worden, und Immobilien wurden unter Zwangsverwaltung gestellt. Schmidt schrieb daher nicht an Heymann, sondern an Heinrich (Heinz) Barchen, der in der Zerstörung jüdischer Geschäfte und der Gewalt gegen die jüdischen Inhaber eine Chance für sich sah. Barchen hatte sein Geschäft, „Brauner Laden Yorck“, zehn Häuser weiter, Potsdamer Straße 71 (12) (Bild 6); es war unmittelbar nach der Machtübernahme 1933 eröffnet worden, dort verkaufte er Uniformen und „NS-Bedarf“. Wenige Tage nach dem Progrom im November 1938 kam Barchen in das zertrümmerte Geschäft, um zu sehen, ob er es übernehmen und dort sein Uniformgeschäft für nationalsozialistische Organisationen weiter betreiben konnte (11). Er entschied, die Geschäftsräume zu nehmen und am 3. Dezember wurde der Laden eröffnet, mit Waren, die für genau die Leute bestimmt waren, die zuvor die Fensterscheiben eingeschlagen hatten. Theodor Heymann sah fast nichts von der finanziellen Transaktion, die ihn seines Geschäfts beraubte. Im Schreiben des Hausverwalters Schmidt an Barchen wurde mitgeteilt: „Aus dem Kaufpreis soll die rückständige Miete bis einschließlich November ausgeglichen sowie der Ersatz der Schaufensterscheiben beglichen werden.“ Jedoch schrieb Heymanns Rechtsanwalt in der Wiedergutmachungsklage im Jahr 1950, dass das Schaufenster nicht von Barchen sondern von der Jüdischen Gemeinde Berlins bezahlt wurde. Barchen bezahlte 3.500 RM für einen Teil des Warenlagers und 1500 RM für die Einrichtung, aber Heymann „ging hinaus ohne einen Pfennig“, so Heymanns Rechtsanwalt (11). Theodor Heymann gab nach dem Krieg an, dass die nicht bezahlte Summe 18.000 RM betragen habe. Am 24. März 1939 wurde das Geschäft Theodor Heymanns im Handelsregister gelöscht (s. Bild 5 in Teil 1).
Was geschah mit der Familie Heymann?
Laut Adressbuch gehörten die Häuser Potsdamer Straße Nr. 61 und Nr. 62 dem Kaufmann Franke bis 1935, ab 1936 war Nr. 62 unter Zwangsverwaltung gestellt, d.h. dem jüdischen Eigentümer entzogen worden (im Adressbuch 1936 war die Nr. 61 noch dem Franke gehörig), und die Heymanns wohnten noch im Haus Nr. 61 (nach der Umnummerierung: 146) bis Ende 1938, dann hatte das Haus einen neuen Eigentümer.
Am 7. Juni 1930 hatte Betty Heymann geborene Winterfeld, Witwe des Hermann Heymann, erneut geheiratet, den Gastwirt Julius Rosenthal, geboren am 15. Juni 1893 in Berlin. Am 29. Februar 1932 kam ihre Tochter Irma zur Welt. Das „Restaurant Rosenthal“ befand sich laut den Adressbüchern 1929 bis 1933 in der Kommandantenstraße 77 (Bild 7), danach in der Potsdamer Str. 81, und ab 1935 hatte Rosenthal einen „Mittagstisch“ am Wittenbergplatz 5. Zum Zeitpunkt der Volkszählung Mai 1939 befand sich das Restaurant in der Kleiststraße 15.
Theodor Heymann wurde gezwungen, die Privatwohnung ab Dezember 1938 aufzugeben. In einem Schreiben vom 23. November 1938 heißt es: „Herr Heymann ist dagegen verpflichtet, spätestens am 3. Dezember 1938 seine Privatwohnung in den Räumen aufzugeben.“ (11). Danach verläuft sich zunächst seine Spur, ebenso wie die seiner Stiefmutter und deren zweiter Ehemann.
Exil in Shanghai, dann nach Amerika
Wenige Wochen später emigrierten sowohl Theodor Heymann wie auch Betty und Julius Rosenthal und ihre 7 Jahre alte Tochter Irma nach Shanghai. Die Unterlagen der Volkszählung im Mai 1939 benennen den 10. und 29. Juli 1939 als Ausreisedatum für die Rosenthals bzw. für Heymann. Die Emigration nach Shanghai war für viele Juden die letzte Möglichkeit, aus dem Deutschen Reich zu fliehen, da die mit dem Deutschen Reich verbündeten Japaner, die die Häfen Chinas kontrollierten, zu diesem Zeitpunkt keinerlei Visapflicht eingeführt hatten – Shanghai war zwar fern und fremd und hatte den schlechtesten Ruf unter den möglichen Fluchtorten, aber es genügte zur Einreise ein Pass und ein Bahn- bzw. Schiffsticket. Bis zum Kriegsbeginn September 1939 gab es drei prinzipielle Reisewege: Über Bremen oder Hamburg mit den deutschen Schiffen Potsdam bzw. Usaramo (oder über einige nordeuropäische Häfen), über Genua oder Triest mit den Schiffen Conte Rosso, Conte Verde bzw. Conte Biancomano, oder auf dem Landweg mit der Transsibirischen Eisenbahn, entweder nach Wladiwostok oder nach Mandschukuo, und weiter mit dem Schiff nach Japan bzw. nach Shanghai; diesen Landweg haben immerhin mehr als 2.000 Flüchtlinge genommen. Die Schiffspassagen waren teuer, 3.500 RM pro erwachsener Person, nicht zuletzt, weil Hin- und Rückfahrt gebucht werden mussten; die Landpassage war deutlich billiger – 490 RM -, aber nach dem Angriff des Deutschen Reichs auf Russland („Unternehmen Barbarossa“) nicht mehr möglich.
Auf welchem Wege und mit welchem Schiff die Heymann/Rosenthal-Familie nach Shanghai reiste, ist nicht mehr zu ermitteln, aber wie fanden sowohl den Kaufmann Theodor Heymann wie auch den Restaurateur (Gastwirt) Julius Rosenthal im Emigranten-Adressbuch Shanghais von 1939 (737/19 Broadway bzw. 818 Tongshan 57) (15), wenngleich genauere Informationen fehlen, womit sie ihren Lebensunterhalt unter diesen schwierigen Bedingungen verdienten. Aus einer anderen Quelle wenige Jahre später (1944), nämlich der Registrierungsliste aller Ausländer in Shanghai durch die japanischen Polizei (16) erfuhren wir, dass Julius Rosenthal offenbar Wohneigentum erworben hatte (Adresse: 626/29 Tongshan Lu; er wird in dem Dokument als „owner“ bezeichnet) und seine Frau als Köchin arbeitete – offensichtlich hatten sie wieder ein Restaurant aufgemacht, das wir bei einer Bildersuche zufällig entdeckten – das Bild kann wegen ungeklärter Rechtsverhältnisse zur Zeit nicht gezeigt werden. In dem japanischen Register wird auch erstmals die Tochter Irma erwähnt, die zu diesem Zeitpunkt 12 Jahre alt war. Theodor Heymann wird in diesem Dokument nicht genannt, aber eine andere Spur (17) weist ihn als Fotograf aus.
Über die schwierige soziale und wirtschaftliche Situation der jüdischen Flüchtlinge in China ist in den vergangenen 20 Jahren einiges publiziert worden (16,18). Nach dem Krieg wollten daher viele Flüchtlinge, die in Shanghai überlebt hatten, entweder zu einem geringen Teil zurück nach Deutschland, zu einem größeren nach Israel, Südamerika und Australien, und zu mehr als 50% in die USA auswandern. Die Familie Rosenthal fanden wir auf der Passagierliste des Truppentransportschiffs USS General M.C.Meigs von Shanghai nach San Francisco, Ankunft am 17. Juni 1947. Theodor Heymann, jetzt von Beruf Fotograf, stand auf der Passagierliste des Truppentransportschiffs USS General W. H. Gordon, Ankunft in San Francisco am 29. Juni 1947 (Bild 8). Von dort waren sie offenbar weitergereist in den Osten der Vereinigten Staaten, weil sowohl Theodor Heymann wie auch Julius und Betty Rosenthal aus Cincinnati bzw. New York in den Jahren in den Jahren nach 1950 Wiedergutmachungsanträge in Berlin gestellt hatten.
Theodor Heymann starb am 20. Januar 1971 in Paramus, Bergen, New Jersey, in der Metropolregion von New York City; er blieb unverheiratet und hatte keine Nachkommen. Betty Rosenthal geb. Winterfeld, Witwe des Hermann Heymann, Theodors Vater, starb am 16. März 1996, ebenfalls in Paramus, Bergen, New Jersey. Julius Rosenthal, ihr Mann war bereits am 2. Juni 1950 im Alter von nur 56 Jahren verstorben. Ihre Tochter Irma hatte 1954 in New York City Frank Reinhold Lewy geheiratet, der am 5. Dezember 1930 in Berlin-Dahlem geboren wurde und am 30. September 2014 in Yarmouthport, MA, USA verstarb. Sie hatten zwei Kinder, Sharon und Michael, die heute in den USA leben und beide verheiratet sind. Irma starb am 10. Oktober 2023.
Fragliche Wiedergutmachung nach dem Krieg
Nach der Übernahme des Geschäftes durch Heinrich Barchen stieg der Umsatz des Uniformgeschäfts in der Potsdamer Str. von 48.000 auf 62.000 RM. Trotzdem behauptete Barchens Rechtsanwalt nach dem Krieg, dass der Kaufmann aus der politischen Entwicklung im Nationalsozialismus keinerlei persönliche Vorteile gezogen hatte. Auffällig war Barchens Verteidigunglinie in der Wiedergutmachungssache, nämlich seine Nazi-Verbindungen nicht zu verschleiern, sondern zu betonen (11). Als Antwort auf die Anklage, dass Barchen nichts für die Reputation („good will“) des seit 46 Jahren bestehenden Geschäfts bezahlt hatte, erwiderte Barchens Beauftragter: „Die bisherige Geschäftsaufschrift Hüte und Mützen mit einem grünen Hut auf einem Transparent als Branchenzeichen wurde überstrichen. Stattdessen bekam das Geschäft das Äußere eines Braunen Ladens und die Aufschrift hieß fortan „NS Bedarf“. Lediglich auf dem Teilgebiet von Herrenwäsche und Herrenunterkleidung waren beide Geschäfte miteinander verwandt. Aber es liegt auf der Hand, dass der Charakter beider Geschäfte ein grundsätzlich anderer war. So waren z.B. bunte Oberhemden und bunte Krawatten in einem Braunen Laden nur ausgesprochene Nebenartikel. Insbesondere kann nicht davon die Rede sein, dass der „good will“ des Geschäfts des Antragstellers von dem Antragsgegner übernommen worden wäre“ (11).
Weiterhin schrieb er, dass ein Kundenkreis, der bis 1938 in einem jüdischen Geschäft gekauft hatte, das Geschäft des Antragsgegners nie besuchen würde. Auf diese Weise versuchte Barchen, seinen Anteil an der antisemitischen Diskriminierung und Gewalt, mit der Heymann konfrontiert war, und seine Verbindung zu der NSDAP zu verschleiern. Dass Barchen ein NSDAP-Parteimitglied war, behauptete Heymanns Rechtsanwalt in einem Brief vom 27. Juni 1950 (11), aber betonte auch die NSDAP selbst, die den „Pg Barchen“ in der 1934er Ausgabe des Gesamtadressenwerks der Partei auflistete (siehe Bild 6). Das Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde schließlich bestätigte die Parteimitgliedschaft: Heinz Barchen aus Berlin-Schöneberg (Hauptstraße 108), geboren am 13. September 1903, war bereits am 1. Mai 1931 Mitglied des NSDAP geworden (Mitglieds-Nr. 535859) (19) (Bild 10), also noch zwei Jahr vor der Machtergreifung des Nazis.
Der Streit im Wiedergutmachungsverfahren ging in erster Linie um die Frage, ob dies eine Geschäftsübernahme (Heymann) oder eine Geschäftsverlagerung (Barchen) war. Im September 1952 beschloss die Wiedergutmachungskammer des Landgerichts, dass Barchen an Heymann 3635 DM zu zahlen hatte, 3485 DM für die Übernahme des Warenlagers und 150 DM für die Ladeneinrichtung – sie entsprach damit weitgehend den Wertangaben Heymanns (3) bei einem DM:RM-Verhältnis von 1:10. Heymann und Barchen hatten zuvor diesem Vergleich zugestimmt. Barchens Geschäft wurde nach dem Krieg als normales Herrenartikelgeschäft weitergeführt und war noch im Berliner Adressbuch von 1954 zu finden, nur das „Heinz und Frieda Barchen“ jetzt keine NS-Klamotten und -Devotionalien verkauften, sondern Herren- und Damenkleidung.
Literatur (Nr. 1 bis 10 im Teil 1)
11. Landesarchiv Berlin (LAB), Akte: B Rep. 025-01, Nr. 176/49.
12. Gesamtadressenwerk der NSDAP-Geschäftsstellen. Die Deutsche Tat, Verlagsgesellschaft für das Deutsche Schrifttum, 1934. Digital erhältlich unter <https://digital.zlb.de/viewer/toc/34296129/1/>, zuletzt eingesehen am 5.Mai 2024.
13. Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Akte: 36A (II) 15178.
15. Emigranten-Adressbuch für Shanghai November 1939. Digital zugänglich bei CompGen unter <https://digibib.genealogy.net>, zuletzt eingesehen am 5. Mai 2024.
16. Georg Armbrüster, Michael Kohlstruck, Sonja Mühlberger (Hrg.): Exil Shanghai. Jüdisches Leben in der Emigration 1938–1947. Hentrich & Hentrich Verlag Berlin 2000. Die dem Buch beiliegende CD enthält u.a. die „List of Foreigners Residing in Dee Lay Jao District …“ vom 24. August 1924 mit den Namen von Heymann und Rosenthal.
17. Ein Foto im Besitz des Museums of Jewish History in New York zeigt das Personals des Shanghai Refugee Hospitals aus den 1940er Jahren: es weist Theodor Heymann als Fotografen aus.
18. Jüdisches Museum Berlin (Hrg.): Leben im Wartesaal. Exil in Shanghai 1938-1947. Druck durch Jüdischen Museum im Stadtmuseum, Berlin 1997.
19. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BAL): Akte BArch R 9361-IX KARTEI 1400187.
Die SPD-Abteilungen Tiergarten Süd und Tiergarten Mitte luden am Sonntag, 5. Mai anlässlich des Jahrestages der Befreiung zum Gedenken an die Gräuel, die Deutsche an Jüdinnen und Juden und Anderen verübt haben zu einem Gedenk-Spaziergang ein.
Treffpunkt des etwa zweistündigen Gedenk-Spaziergangs entlang der Kurfürstenstraße war vor der „Kleinen Nachtrevue“ an der Bushaltestelle „Schillstraße“. Der Weg führte die ca. 20 Teilnehmenden zu vier ausgewählten Mahn- und Erinnerungsorten, zu Stolpersteinen von ehemaligen Anwohnerinnen und Anwohnern in unserem Kiez.
Gedenk-Spaziergang am 5. Mai Dr. Maja Lasic
Zu Beginn begrüßte Dr. Maja Lasic (Mitglied des Abgeordnetenhauses) die Anwesenden. Sie erinnerte daran, dass laut „mapping the lives“ in den dreißiger Jahren fast 300 jüdische Mitbürger*innen in der Kurfürstenstraße lebten und, dass wir ebenso aber auch erinnern wollen, dass hier auch die Täter wohnten und arbeiteten.
Auf dem Mittelstreifen der Kurfürstenstraße 115/116 steht eine Stele, eine Kopie der Gradiva (Die Vorschreitende).
Bettina Schulze, Schriftführerin der Abteilung Tiergarten Süd, trug einen Text vor, der aus verschiedenen Quellen zusammentragen war und erinnerte damit daran, dass wir hier dem Ort gegenüber stehen an dem ‚das Haus des Jüdischen Brüdervereins für gegenseitige Unterstützung‘ einst gestanden hat. 1940 missbrauchte Adolf Eichmann das Haus des Brüdervereines als Deportationszentrale für Juden.
Bettina Schulze vor der Gradiva
Die vielfache Besetzung des Ortes durch die Figur der Gradiva als Novelle, als psychoanalytische Übertragungsfigur, die allen Psychoanalytikern weltweit bekannt ist, als Gegengestalt Eichmanns und seiner nationalsozialistischen Verbrechen wird damit zu einem Ort, der an die gemeinsame psychoanalytische Kultur erinnert – aber nicht ohne die zerstörerische NS-Vergangenheit auszublenden. Damit wird der Ort zu einem dialogischen Angebot, der zum Erinnern und Nachdenken einlädt.
Gedenk-Spaziergang am 5. Mai, Mahnort für Eichmanns „Judenreferat“
Weiter ging es zurück auf die gegenüberliegende Seite zur Bushaltestelle Schillstraße in der Kurfürstenstraße 116 (am ehemaligen Sylter Hof) zu dem Mahnort für Eichmanns „Judenreferat“, 1988 gestaltet von dem Künstler Ronnie Goltz.
Paul Völsch mit einer Teilnehmerin vom Gedenk-Spaziergang am Mahnort
Eichmann und seine Mitarbeiter*innen organisierten von der Kurfürstenstraße aus die Vertreibung und Deportation von Millionen europäischer Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Sie waren alles andere als Mitläufer – sie waren gemeine Mörder führte Paul Völsch (Stellvertretender Vorsitzender der Abteilung Tiergarten Süd) aus. Er verwies auch auf die Protokolle der Wannseekonferenz vom 20.1.1942.
Hier erstellte er (Eichmann) die Redevorlagen für den Vortrag des Hauptverantwortlichen des Holocausts, Reinhard Heydrich (Chef des Reichssicherheitshauptamtes), zur „Endlösung der Judenfrage“, für deren Protokoll er ebenfalls verantwortlich war. Hier wurden die Statistiken „zur Judenfrage in Europa“ erstellt, die zur Grundlage des Tötungsprogramms für Millionen Juden wurden. Eichmanns Wannsee-Protokoll vermerkt auf Seite 6: „Anstelle der Auswanderung ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten und im Zuge dieser Endlösung der europäischen Judenfrage kommen rund 11 Millionen Juden in Betracht“.
Die zwei Stolpersteine für Georg Blumenfeld ein in Berlin geborener jüdischer Privatbankier, der mit seiner Frau Lucia Margarete von der Schlüterstraße in Charlottenburg 1926 in die Villa in die Kurfürstenstraße 58 einzog liegen vor der Villa (Café Einstein), der nächsten Station des Gedenk-Spaziergangs. Hannah Elten, Stellvertreterin der Europaabgeordneten(-Kandidatin) Gabi Bischoff, sprach über die Bankiersfamilie.
Hannah Elten vor dem Haus Kurfürstenstraße 58
Was die Familie Blumenfeld nach 1933 erlebte, erzählt die Geschichte Tausender: die nicht enden wollenden, dezentralen umfassenden antijüdischen Ausschreitungen und die sukzessive pseudolegale Ausgrenzung und Stigmatisierung des jüdischen Bevölkerungsteiles durch die Reichsregierung sowie durch das Umfeld. Für die Bankiersfamilie kam es bereits in den ersten beiden Jahren nach der Machtergreifung zu einschneidenden Rückgängen im Geschäft. Die Benennung einer jüdischen Bankadresse war für Privatkunden und Firmen nicht mehr opportun.
Georg Blumenfeld hatte wie viele andere Berliner Juden den Ersten Weltkrieg in patriotischer Begeisterung erlebt und mit Kriegsanleihen deutsche Heeresaufträge finanziert. 1938 erfolgte die Liquidation der Bank G. Blumenfeld & Co. Georg Blumenfeld entschied sich am 21. Juni 1939, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, für den Freitod mittels Einnahme von Gift.
Die Stolpersteine für Luise Wolf(f) und ihre jüngere Schwester Julie Wolfthorn, sind heute vor dem Parkplatz von Getränke Hofmann in der Kurfürstenstraße 50 zu finden. Ihr Wohnhaus, in dem sie fast 40 Jahre gemeinsam wohnten, stand einst an dieser Stelle.
Manuela Buyny bei den Stolpersteinen für Luise Wolf und Julie Wolfthorn
Luise Wolf trat viele Jahre lang besonders mit Übersetzungen literarischer, wissenschaftlicher und kulturhistorischer Werke aus mehreren Sprachen hervor: aus den skandinavischen Sprachen, dem Französischen und Englischen.
Julie Wolfthorn: Nachdem sie wegen ihrer jüdischen Herkunft aus Berufsverbänden ausgeschlossen worden oder selber ausgetreten war, konnte und durfte sie nur noch innerhalb des Jüdischen Kulturbundes arbeiten und ausstellen. Auch hier hatte sie noch große Erfolge und gewann künstlerische Wettbewerbe.
Gemeinsam mit ihrer Schwester Luise Wolf wurde sie am 28. Oktober 1942 aus Berlin nach Theresienstadt deportiert. Dort starb ihre Schwester Luise Wolf kurz nach ihrer Ankunft. Julie Wolfthorn arbeitete bis zu ihrem Lebensende weiter, auch noch in Theresienstadt. Sie überlebte noch mehr als zwei Jahre, sie starb im Dezember 1944.
Der Vortrag den Manuela Buyny, stellverstretende Vorsitzende der Abteilung Tiergarten Süd, gehalten hat.
Der nächste Stolperstein war ein Erinnerungsort für Dr. Arthur Simon, der ab 1923 als außerordentlicher Professor an der Humboldt-Universität tätig war und dem auf Grundlage des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums 1933 die Lehrbefugnis entzogen und die Stellung an der Charité gekündigt wurde, der in der Kurfürstenstraße 50 nicht nur wohnte, sondern der dort auch eine kleine Praxis unterhielt, in der er danach allerdings nur noch jüdische Mitbürger*innen behandeln durfte, davon erzählte Adda Schmidt-Ehry, Beisitzerin der Abteilung Tiergarten Süd.
Im September 1942 wurde Arthur Simons verhaftet, am 26. September mit einem Deportationszug in das besetzte Estland deportiert und bei Raasiku ermordet. (Copilot/Wikipedia)
Auch von der Lebensgeschichte Erich Hirschwehs sprach Adda Schmidt-Ehry. Erich Hirschweh war Kaufmann und heiratete die Katholikin Margarethe Edel, sie hatten ein Kind, Peter. Als Mitglieder der reformierten Jüdischen Gemeinde in Berlin musste die Familie 1937 ihre Wohnung im Hansa-Viertel aufgeben. Sie fand bei Julie Wolfthorn Zuflucht. Um den Sohn zu schützen, sahen die Eltern 1940 nur die Möglichkeit einer formalen Scheidung – so führte Peter Edel fortan nicht mehr den Nachnamen Hirschweh, sondern den Geburtsnamen der Mutter. Peter Edel überlebte den Holocaust in mehreren Konzentrationslagern – er gehörte zu den Gefangenen, die in der Operation Bernhard zur Fälschung von englischen Pfundnoten gezwungen waren – und wurde später ein bekannter Schriftsteller, Grafiker, Drehbuchautor und Fotograf.
Adda Schmidt-Ehry am Stolperstein für Erich Hirschweh
Erich Hirschweh teilte das Schicksal vieler Jüdischer Mitbürger und Mitbürgerinnen. Der Kaufmann Erich Hirschweh wurde am 14.8.1942 mit dem 44. Alterstransport nach Theresienstadt und im Oktober 1944 von dort nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. (Aus Bürgerverein Luisenstadt e. V., Stolpersteine Berlin und Peter Edel Archiv)
Ecke Potsdamerstraße 122/Kurfürstenstraße (vor dem Kaufhaus Woolworth) prodozierte und vertrieb die Fabrik Kopp und Joseph als Marktführer für Drogerieprodukte Parfüme, Cremes, Verbandstoffe, Bade- und Schönheitsprodukte – darunter den erfolgreichen Nagelpolier-Stein „Stein der Weisen“.
1911 wurde im Haupthaus an der Ecke Potsdamer/Kurfürstenstraße die vierte Ausstellung der „Neuen Secession“ eröffnet, die von zentraler Bedeutung für die Entwicklung des Expressionismus war.
Als Adolf Hitler 1933 zum reichsweiten „Judenboykott“ aufrief, wurden Listen der Geschäfte mit jüdischen Betreibern verbreitet. SA-Männer marschierten als „Boykottposten“ auf. Plakate mit judenfeindlichen Sprüchen wurden an die Schaufenster geklebt und Parolen geschmiert. Eigentürmer und Mitarbeiter wurden beschimpft und mit offener Gewalt bedroht. Im Herbst 1938 hatte sie nur noch 13 Angestellte, davon fünf Juden. In der „Reichspogromnacht“ im November 1938 wurden die Geschäftsräume geplündert, verwüstet und endgültig zerstört. Kurt Josef wurde verhaftet und ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Nach seiner Entlassung musste Kurt Josef sein Unternehmen „weit unter Preis“ verkaufen. Er emigrierte nach Großbritannien. Seine Frau und zwei Kinder wurden nach Auschwitz deportiert und ermordet. Die Informationen wurden von Sarah Hegazy, Kreisvorsitzende der Jusos Berlin Mitte, vorgetragen.
Sarah Hegazy an der Ecke Potsdamer Straße/Kurfürstenstraße
Die letzte Station des Gedenk-Spaziergangs war das „Dreiländereck Schönberg/Tiergarten/Friedrichshain-Kreuzberg“. Zwischen Nelli-Sachs-Park und dem Eingang zum Gleisdreieck-Park befand sich von 1890 bis 1976 in der Dennewitzstraße 35 die Firma KORI GmbH eine Berliner Ofenbaufirma. Dieser Ort ist noch kein Mahnort.
Kori stellte mobile Verbrennungsöfen für das Euthanasie-Programm T4 und Leichenverbrennungsöfen für die Konzentrationslager her.
Nach dem Tod des Firmengründers nahm der Gesellschafter und Geschäftsführer Hugo Heßler Kontakt zur SS auf. Er selbst war seit 1933 NSDAP-Mitglied. Der Kontakt zur SS kam möglicherweise durch einen Neffen des Gründers, Georg Kori, zustande, der seit 1933 Mitglied und seit 1937 Scharführer der SS war.
Von der Firmen-Zentrale in der Dennewitzstraße wurde die Belieferung der SS für die Konzentrationslager mit den für den Massenmord benötigten Verbrennungsöfen gegen „gute Reichsmark“ betrieben. Die erste Bestellung ging im Dezember 1939 ein. Ein Ofen kostete 3200 Reichsmark.
Zunächst stellte Kori mobile Verbrennungsöfen für das Euthanasie-Programm T4 her. Später wurden diese fest installiert oder Kori errichtete vor Ort in den Lagern gleich ortsfeste Verbrennungsöfen – in 18 Konzentrations- und Vernichtungslagern.
Dr. Bergis Schmidt-Ehry zwischen Nelly-Sachs-Park und Gleisdreieck-Park
Nach 1945 arbeitete die Firma ungeachtet der Beteiligung am Holocaust unbehelligt weiter. Unter anderem im Geschäftsfeld „Verbrennungsöfen für Abfälle aller Art, Müllschluckanlagen, Feuerungsanlagen“. Diese ungeheuren Verbrechen schilderte Dr. Bergis Schmidt-Ehry, Organisator der Gedenkveranstaltung.
Dr. Schmidt-Ehry führte weiter aus, dass „in der Gedenktafelkommission des Bezirks Tempelhof-Schöneberg am 19.04.2023. waren sich alle Beteiligten einig, dass nicht nur Information vor Ort wichtig ist, sondern auch ein mahnendes Zeichen benötigt wird. Der Ort soll als „Täterort“ markiert werden. Ein Gestaltungswettbewerb wird stattfinden. Da dies aber noch Jahre dauern wird, soll eine Interimslösung mit einer Informationstafel umgesetzt werden. In den nächsten Jahren soll am Eingang Kurfürstenstraße in den Westpark des Gleisdreiecks über die Firma KORI informiert werden, die von der Dennewitzstraße 35 aus Leichenverbrennungsanlagen für den industriellen Massenmord in zahlreichen Konzentrationslagern und Tötungsanstalten geplant und geliefert hat.“
Text: E. Kitzelmann/B. Schmidt-Ehry Fotos eki
Die Erinnerung an die Opfer der Nazi-Verbrechen wachhalten, damit es kein Vergessen gibt.
Aufmerksame Leser werden sich erinnern, dass wir einen Artikel zur „Hermann Heymann Hutfabrik“ in mittendran schon einmal hatten, danach auch im Blog „Jüdisches Leben und Widerstand im Tiergarten“: Im Dezember 2022 und im Januar 2023 hatte Bethan Griffiths im Rahmen einer Serie von drei Artikeln zu „Jüdisches Gewerbe rund um die Potsdamer Straße“ über die Arisierung der Firmen Hermann Heymann Hutfabrik, A. Blumenreich GmbH und die Ultrazell GmbH und die entsprechenden Wiedergutmachungsverfahren nach dem 2. Weltkrieg berichtet. Diese Leser werden aber auch festgestellt haben, dass in diesen Berichten die Familien selbst und deren Herkunftsgeschichten eher kurz geschildert worden waren – das war der Autorin in der Kürze der Zeit nicht möglich gewesen. Dies soll in den nächsten Wochen für die jüdischen Familien hinter diesen drei Firmen nachgeholt werden. Heute also für die Hutfabrik Hermann Heymann und deren Inhaber Theodor Heymann (Bild 1).
Rogasen, Kreis Obornik, Provinz Posen
Die Herkunft der Familie Heymann bleibt trotz intensiven Suchens weitgehend im Dunkel, aus vielerlei Gründen: Heymann (manchmal Heimann geschrieben) ist ein nicht seltener Name, auch unter Juden, und der sehr gebräuchliche Vorname Hermann macht die Suche nicht leichter. Aus der Sterbeurkunde des Herrmann Heymann wissen wir, dass er in Rogasen (nach 1815 der preußischen Provinz Posen; heute: Rogoszno, Polen) geboren wurde (s. unten), und dass auch seine Frau aus diesem kleinen Ort 30 km nördlich der Stadt Posen stammte. Aber das hilft nicht viel weiter, weil komplette Einwohnerlisten fehlen, nicht zuletzt durch schwere Stadtbrände im Jahr 1794 (1), bei denen Dokumente vernichtet worden sind. Selbst ausgewiesene jüdische Genealogen wie Jacob Jacobson (2) und David Luft (3) haben sich mit diesen Schwierigkeiten abgemüht. Wir beginnen also die Familiengeschichte der Heymanns mit der Geburt von Herrmann am 8. Oktober 1858 – zu diesem Zeitpunkt und noch für viele Jahre später wird sein Vorname mit doppeltem „r“ geschrieben, eine von ihm selbst später veranlasste Korrektur auf die gebräuchliche (und korrekte) Schreibweise mit einem „r“ werden wir von hier ab übernehmen.
Wenn ein wenige Jahre später (1863) ebenfalls in Rogasen geborenen Gustav Heymann (verstorben 1905) der Bruder von Hermann Heymann gewesen wäre, wüssten wir auch noch die Namen seiner Eltern: Kaufmann Josef Heymann (verstorben vor 1884) und seine Frau Karoline, geborenen Krause (1834-1917), aber das ist nicht gesichert, sondern Spekulation, hervorgerufen durch die drei doch sehr traditionellen deutschen Vornamen. Aber Hermann Heymann könnte auch der Bruder von Abraham Heymann gewesen sein, der am 22. Dezember 1861 in Rogasen geboren wurde und der um 1905 in Berlin starb – dann wäre die gemeinsamen Eltern David Heymann und seine Frau Rosalie, geborene Silberstein gewesen. Leider haben wir keinerlei Informationen, dies zu entscheiden. In Berlin zu suchen, macht demgegenüber wenig Sinn: 1890 gab es in Berlin allein 40 Kaufleute mit den Nachnamen Heymann – ohne die Variante Heimann -, Vornamen wurden meist abgekürzt, und die Schreibweise des Nachnamens war nicht verbindlich, da auch Hermann Heymann gelegentlich Hermann Heimann geschrieben wurde.
Hermann Heymann muss spätestens zu der Zeit, als er volljährig wurde, also um 1882 Rogasen in Richtung Berlin verlassen haben – vielleicht war seine Familie auch schon vorher aus der preußischen Provinz Posen nach Brandenburg gezogen, einem allgemeinen Trend folgend.
Die Situation der Juden in Posen
Denn obwohl um 1840 nahezu 40% der Rogasener Gesamtbevölkerung jüdischen Ursprungs war, d.h. es etwa 1500 jüdische (erwachsene) Einwohner gab, hatten nur 55 Personen in den Jahren 1834 und 1835, als Preußen den Juden die rechtliche Gleichstellung versprach, auch ein Naturalisierungspatent erhalten (4), und darunter war kein Mitglied einer Familie Heymann – die anderen blieben bestenfalls geduldete Juden. Das gleiche galt auch für andere Gemeinden im Regierungsbezirk Posen: Nur 7 bis 10% der jüdischen Einwohner wurden naturalisiert (5).
Hinzu kam, dass Juden von der mehrheitlich polnischen, katholischen Bevölkerung nicht nur gemieden wurden, sondern – wie die preußischen Besatzer selbst – zum Teufel gewünscht wurden. Davon zeugen Zeitungsberichte wie der folgende im Landboten von 1848: „In dem Landstädtchen Rogasen in der Provinz Posen ist es am 7. April zu einem Aufstand gekommen. Die Polen durchzogen mit Sensen, Heugabeln und Feuerhaken bewaffnet die Stadt und drohten, die Deutschen und Juden niederzumetzeln, sie legten sogar Feuer an. Den vereinten Kräften der Bürgerschaft gelang es jedoch, die Meuterer zu Paaren zu treiben“ (6) (Bild 2). Und auch wenn die Vertreibung (noch) verhindert werden konnte, so war auch die rechtliche Gleichstellung der Juden ein hohles Versprechen der Preußen, dass in Kriegs- und Kriegszeiten (1848, 1864, 1866, 1870, 1914) gern wiederholt, aber danach auch schnell wieder vergessen wurde: „Die Juden in der Provinz Posen … wissen, daß die ihnen von den Polen vorgeworfene Undankbarkeit eine Legende ist, sie wissen aber auch, daß die Begeisterung ihrer deutschen Behörden für die Gleichberechtigung der Religionen nur in den Zeiten der Not zu Tage trat, und daß sie alle Rechte, die sie in Wirklichkeit errungen haben, ihrer eigenen zähen Arbeit verdanken“ (7). So kam es, dass die große Auswanderung aus dem Großherzogtum Posen bereits mit der versprochenen Gleichstellung um 1840 begann und nach der Reichsgründung 1871 seinen Höhepunkt fand. Lebten 1858 noch 1500 Juden in Rogasen, waren es 1887 noch 1318, 1895 noch 834, 1905 nur noch 666 und 1913 noch 516 Personen, d.h. 9% der Bevölkerung. Diese massenhafte Auswanderung betraf nicht nur Rogasen, sondern nahezu alle Gemeinden in Posen (7), denn davon versprachen sich die Juden bessere Chancen für Beruf und Leben, sei es in Berlin, in Brandenburg oder im europäischen und überseeischen Ausland.
Familiengründung
Wir wissen daher nicht, wann und wo Hermann Heymann seine Frau Reisal (Rosalie), geborene Rummelsburg getroffen und geheiratet hat, möglicherweise noch in Rogasen – sie war ebenfalls dort geboren worden, um 1861, und war daher volljährig nach 1885. In den Namenslisten der Juden in Posen taucht der Name Rummelsburg überhaupt nicht auf, daher ist es möglich, dass dieser Nachname erst mit dem Umzug nach Brandenburg angenommen wurde – alternativ kann die Familie allerdings auch aus der Stadt oder dem Landkreis Rummelsburg in Pommern (heute: Miastko, Polen) stammen, einer Kleinstadt 250 km östlich von Stettin von etwa 4000 Einwohner (um 1850), von denen 3% jüdischen Glaubens waren.
Zu dieser Zeit (ab 1890) gab es in Berlin nur eine Familie Rummelsburg, ein Kaufmann Siegfried Rummelsburg in der Alexanderstraße 37a, Mitinhaber der Firma Gottheim & Co., die er später allein weiterführte. Nach 1893 findet sich außerdem ein Moses Rummelsburg im Osten von Berlin (Blankenfelderstraße 6), der Miteigner des Herrengarderobegeschäftes Salomon Kurzweg & Co. (Inhaber: Leopold Kurzweg, Königstraße 30). Er war möglicherweise ein Sohn des Siegfried Rummelsburg; Rosalie Rummelsburg könnte seine Schwester gewesen sein.
Hermann Heymann und seine Frau Rosalie wohnten 1890 bis 1893 zunächst in der Schlegelstraße 27 in der Oranienburger Vorstadt, bevor sie (ab 1893) an die Potsdamer Straße 61 zogen. Sie bekamen zwischen 1891 und 1898 fünf Kinder:
– Alfred, geboren am 11. Dezember 1891. Er starb im ersten Weltkrieg am 5. Oktober 1915 (im Grenadier-Regiment No. 12) (8) (Bild 3).
– David, geboren am 24. Januar 1893, verstarb wenige Tage später (2. Februar 93).
– Frieda Flora, geboren am 29. November 1893. Sie heiratete 1921 Isidor Isaak Barkowsky, der, wie sie und ihre beiden Kinder, Margot Lilly (* 2. März 1922) und Alfred (* 14. März 1924), 1942 deportiert und in Auschwitz am 27. Februar 1943 ermordet wurde.
– Helene, geboren 18. Februar 1896. Sie heiratete 1922 Julius Barkowsky, den Schwager ihrer Schwester Frieda, und hatte mit ihm einen Sohn Adolf (* 20. Dezember 1923). Helene, ihr Sohn Adolf und ihr Ehemann Julius wurden 1941 deportiert und starben im Konzentrationslager Kauen in Kaunas (Litauen) am 25.11.1941.
– Theodor David schließlich wurde am 30. April 1898 geboren. Er übernahm nach dem Tod des Vaters 1928 das Hutgeschäft in der Potsdamer Straße 61.
Firmengründung
Das Haus Nummer 61 in der Potsdamer Straße (heute: Nr. 146, zwischen Bülow- und Winterfeldstraße) war 1890 neu gebaut worden (es gab schon vorher ein Mietshaus, nur kleiner) und gehörte ab 1892 einem königlichen Kammerherrn und Zeremonienmeister Werner Hesse Edler von Hessenthal (1845-1914), der in der Villa Genthinerstraße 13D (heute: 30D, im sogenannten Begaswinkel) wohnte. Nach 1894 war der Fabrikant (Hutfabrikant) Heimann (später Heymann) hier nachweisbar, auch wenn er seine Firma erst am 8. Januar 1908 in das Handelsregister hat eintragen lassen (9): HR A 31717: Der Gewerbebetrieb ist eine „Schirm- und Huthandlung“ mit einem jährlichen Einkommen und Umsatz oberhalb eines Kleingewerbes. Anlässlich der Registrierung musste Heymann einen Fragebogen (Bild 4) ausfüllen, der weitere Informationen über sein Gewerbe hergibt: Jährlicher Umsatz ca. 47.000 RM, Betriebskapital ca. 15.000 RM, Betriebsertrag 3.000 RM, Mietbedarf 4.700 RM für 2 Läden (1 großer, 1 kleiner), 2 Verkaufsräume, Kreditbelastung 9.000 bis 10.000 RM, ca. 20 Lieferanten. Auf der Basis dieser Daten wurde der Betrieb der Steuerklasse III zugeordnet und musste 72 RM an Steuern im Jahr zu zahlen. Auch wenn Heymann das Formular zur Eintragung seiner Firma mit „Herrmann Heymann“ unterzeichnete, wurde die Firma als „Hermann Heymann Hutfabrik“ auch für die amtlichen Eintragungen in den Zeitungen registriert.
Rosalie Heymann geborene Rummelsburg starb am 18. März 1926 in ihrem Heim in der Potsdamer Straße 61 – sie wurde 65 Jahre alt. Ihre beiden Töchter waren zu diesem Zeitpunkt verheiratet und lebten in zuletzt Berlin-Wedding (Reinickendorfer Straße 77), Sohn Theodor wohnte bei seinen Eltern. Ein Jahr nach dem Tod seiner Ehefrau, am 21. März 1927 heiratete Herrmann Heymann erneut: Betty Winterfeld, geboren am 1. Januar 1896 in Lauenburg (Pommern).
Am 1. Oktober 1926 wurde Sohn Theodor Heymann Mitinhaber und persönlich haftender Gesellschafter der Firma Hermann Heymann Hutfabrik (10) (Bild 5). Am 3. November 1927, ein Jahr vor seinem Tod, schloss Hermann Heymann einen Erbvertrag (9), in dem er die Übernahme der Firma „Hermann Heymann Hutfabrik“ an seine Erben im Falle seines Todes regelte: Den gesamten Haushalt erbe seine Ehefrau, das Geschäft solle seinem Sohn Theodor und seiner Ehefrau je zur Hälfte zufallen, seine Ehefrau und seine drei Kinder sollen den übrigen Nachlass zu je einem Viertel erhalten. Falls seine Ehefrau sich wieder verheirate, solle sein Sohn sie auszahlen, ebenso, falls sie entscheide, aus dem Geschäft auszusteigen. Falls seine Töchter die Regelung anfechten, sollen sie unter Anrechnung der erhaltenen Aussteuer auf den gesetzlichen Pflichtteil gesetzt werden. Der Wert des Nachlasses wurde auf 10.000 Mark geschätzt.
Hermann Heymann starb am 29. April 1928 in seiner Wohnung in der Potsdamer Straße 61. Das Testament (Erbvertrag) wurde am 15. Mai 1928 im Beisein aller Erben sowie der Ehemänner der beiden Töchter eröffnet (9). Danach übertrugen die Ehefrau und die beiden Töchter des Heymann ihren Erbteil an Theodor, der sich seinerseits verpflichtet, seiner Stiefmutter 10.000 Mark und seinen beiden Schwestern je 4000 Mark auszuzahlen mit Stundung und Verzinsung bis 1931.
Im Testamentseröffnungsprotokoll 1928 werden zwei Geschäftsräume (Läden) erwähnt, die Hermann Heymann auch in seinem Anmeldeformular von 1908 notiert hatte. Im Jahr 1928 handelte es sich um die Potsdamer Straße 61 einerseits, um die Frankfurter Allee 70 andererseits: hier hatte Theodor Heymann 1927 ein eigenes Geschäftslokal mit Herrenartikeln eröffnet, das noch 1928 bestand, danach jedoch nicht mehr. Ob auch sein Vater Hermann Heymann in den Jahren vor seinem Tod ein zweites Geschäftslokal unter seinem Namen an anderer Stelle in Berlin betrieb, erschließt sich aus den Unterlagen nicht.
Mit dem Tod des Vaters schied dieser aus der Firma aus und wurde gelöscht, und Theodor Heymann wurde als alleiniger Inhaber eingetragen; der Name der Firma „Hermann Heymann Hutfabrik“ blieb jedoch zunächst bestehen. Erst im April 1938 wurde die Firma umbenannt in „Theodor Heymann Herrenartikel“ (10) (s. Bild 5); zu diesem Zeitpunkt war die Nummerierung der Potsdamer Straße geändert worden, die Nr. 61 war jetzt die Nr. 146.
Im zweiten Teil der Geschichte werden wir uns mit dem Verbleib der Firma unter der nationalsozialistischen Herrschaft beschäftigen, der Flucht Heymanns nach Shanghai 1939, der Auswanderung in die USA 1947, und dem Wiedergutmachungsprozeß nach dem Krieg.
2. Jacob Jacobson. Zur Geschichte der Juden in Rogasen. Unveröffentlichtes Manuskript von 1935, einsehbar im Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Signatur: II. HA GD, Abt. 10, VI Nr. 2680.
3. Edvard David Luft. The naturalized Jews of the Grand Duchy of Posen in 1834 and 1835. Scholars Press, Atlanta, Georgia 1987.
4. Edvard David Luft. The Jews of Posen Province in the Nineteenth Century. A Selective Source Book, Research Guide, and Supplement to The Naturalized Jews of the Grand Duchy of Posen in 1834 and 1835. Washington 2015, einsehbar im Archiv des Leo-Baeck-Instituts, New York.
5. Sophia Kemlein. Die Posener Juden 1815 – 1848. Entwicklungsprozesse einer polnischen Judenheit unter preußischer Herrschaft. Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 1997.
6. Der Landbote. Ein Blatt zur Belehrung und Unterhaltung. Nr. 33 von Donnerstag, den 23. April 1846, Seite 1.
7. Bernhard Breslauer. Die Abwanderung der Juden aus der Provinz Posen. Denkschrift im Auftrag des Verbandes der Deutschen Juden. Druck Berthold Levy, Berlin 1909.
8. Berliner Tagblatt und Handelszeitung vom 28. Oktober 1915, Seite 14.
9. Akte im Landesarchiv Berlin (LAB): Handelsregister A. Herrmann Heymann Hutfabrik, Akte Nr. A Rep. 342-02 Nr. 35400 (Amtsgericht Charlottenburg HRA 94940)
10. Deutscher Reichsanzeiger, 31. März 1927, Seite 34 und 19. April 1938, Seite 1.
27 Erinnerungen an in der NS-Zeit verfolgte Berliner:innen
Ausstellungen, Erzählungen, Vorträge, Gedenkspaziergänge, Rundgänge, Lesungen, eine Performance, akustische Stolpersteine sowie zwei Zeitzeug:innengespräche: Am Samstag, den 4. und Sonntag, den 5.5.2024 gedenken engagierte Bewohnerinnen Berlins im Rahmen der Initiative „Denk Mal Am Ort“ durch 27 Veranstaltungen an den einstigen Wohn- und Wirkungsstätten Berlinerinnen, die während der NS-Zeit verfolgt wurden oder Widerstand leisteten. 14 Nachkommen reisen aus Amerika, Großbritannien, Argentinien, Spanien, den Niederlanden, Frankreich und Israel an. Der Eintritt ist frei.
Sylvia Paskin kommt aus London nach Berlin, um am Samstag um 17 Uhr in Berlin-Charlottenburg vor deren letzten Wohnung in der Wielandstraße 30 an ihre Großmutter Lily Knips zu erinnern. Liliy Knips Geschichte hört sich an wie aus einem Krimi: Aus Angst vor den Nationalsozialisten sendete sie ihren Sohn Lothar, Sylvia Paskins Vater, 1933 nach London. Ihr selbst gelang keine Ausreise. Dann traf sie Josef Jakobs, einen weit jüngeren „arischen“ Mann, der gefälschte Pässe verkaufte und verliebte sich. Mit einem seiner Pässe flüchtete Lily nach London. Josef Jakobs wurde erwischt und kam ins KZ. Unter der Auflage für die Nazis zu spionieren, landete er per Fallschirmsprung in England, in der Tasche Lilys Adresse. Um 17 Uhr erzählt die 96-jährige Ruth Winkelmann in der Turnhalle ihrer einstigen Schule in der Auguststraße im Restaurant House of Small Wonder von ihrem Überleben. Michaela Maria Müller liest Passagen aus Winkelmanns Buch „Plötzlich hieß ich Sara“. Die 96-jährige erzählt und beantwortet Fragen.
Am Sonntag erzählt Frauengeschichtsforscherin Sabine Krusen um 11 Uhr die Geschichte des Gartenhaus in der Brunnenstraße 41. Minna Schwarz ließ das Gartenhaus 1913 als Mütter- und Säuglingsheim errichten. Damals befanden sich hier bereits verschiedene Wohlfahrtseinrichtungen des jüdischen Frauenvereins der Berliner Logen U.O.B.B. Mit Beginn der NS-Herrschaft mussten sie schließen. Bis auf ein Altenheim, das schließlich als Deportationssammellager missbraucht wurde.
Krusen hat die Geschichte des Ortes und der Menschen, die hier arbeiteten oder wohnten über 30 Jahre erforscht. In der Käthe-Niederkirchner-Straße 35 erinnert eine stumme Klingeltafel an 83 jüdische Menschen, die hier lebten. Einer von ihnen war Georg Jacobsohn – als Schauspieler unter dem Künstlernamen Georg John bekannt. Der heutige Hausbewohner Simon Lütgemeyer einnert um 12 Uhr durch Filmbeispiele und Recherchen an den Charakterdarsteller, der den deutschen Film zwischen 1916 und 1933 durch Nebenrollen prägte, ehe er vom Kulturbetrieb ausgeschlossen und ins Ghetto Litzmannstadt (Łódź) deportiert wurde.
Um 14 Uhr erinnert das „Netzwerk Ottilie Pohl“ in Moabit bei einem historischen Spaziergang mit Lesung und Gespräch an die kommunistische und jüdische Widerstandskämpferin Ottilie Pohl.
Ebenso um 14 Uhr wird in Berlin-Schöneberg in der Kirche zum Heilsbronn die radikale und vielfältige Stimme der Dichterin Gertrud Kolmar durch eine Performance der Schauspielerin Lisa Schell erfahrbar. Kolmar gilt als eine der bedeutendsten jüdischen Dichterinnen. Doch der Großteil ihres Werks wurde posthum publiziert. Die Cousine Walter Benjamins musste Zwangsarbeit leisten und wurde 1943 nach Auschwitz deportiert. Davor war es ihr gerade noch gelungen, ihre Manuskripte in die Schweiz zu schicken.
Liebe Nachbarinnen und Nachbarn, viele von Ihnen werden Prof. Dr. Paul Enck schon kennen. Er beschäftigt sich mit der Geschichte unseres Kiezes und gibt sein Wissen in Vorträgen weiter.
Am Mittwoch, 24.1.2024 wird Paul Enck über eine heute vergessene Straße erzählen. Die Straße „Blumeshof“ verband die Lützowstraße mit dem Schöneberger Ufer und war eine Parallelstraße zur Kluckstraße. Dort, wo heute die Stadtteilbibliothek, der Nachbarschaftstreff, das Kiezzentrum Villa Lützow, die Jugendherberge, das Gebäude des Familienministeriums stehen, wurde vor 100 Jahren großbürgerlich gewohnt.
Das Gebäude Blumeshof Nr. 15 wurde von den Nationalsozialisten zu einem „Judenhaus“ erklärt, in dem jüdische Nachbarn zwangsweise zusammengepfercht wurden. Die Straße wurde im 2. Weltkrieg zerstört und auf Beschluss des Senates zurück gebaut. Paul Enck präsentiert anhand alter Fotos und Pläne Wissenswertes zur Geschichte der Straße und seinen BewohnerInnen.
Mi 24.1.2024, um 19 Uhr im Projektraum des Nachbarschaftstreffs Lützowstr. 27, „Vergessene Orte: Blumeshof“
Mit der Zusammenfassung der Wiedergutmachungsverfahren der Fürstenberg-Söhne nach dem 2. Weltkrieg wollen wir die Geschichte der Familie beenden. Dabei stellt sich – nicht nur für die Nachkommen von Sally Fürstenberg – die Frage, ob mit den prozessualen Ergebnissen eigentlich eine Wiedergutmachung erlittenen Unrechts erreicht wurde, oder ob die finanzielle Kompensation nur dieses Unrecht verschleierte; dann wäre, wie wir oben (Teil 8) diskutiert haben, der Begriff der Restitution (der Wiederherstellung des finanziellen Status quo ante), der angemessenere Begriff. Zu unserer Überraschung hatte diese Diskussion bereits in den 1950er Jahre eingesetzt und war ihm allzeit immanent. Dazu im Folgenden ein längerer Textausschnitt von 1990 (58).
„Der unselige Begriff ´Wiedergutmachung`
In den Gründerjahren der Bundesrepublik haben gerade solche Politiker den Wiedergutmachungsbegriff hochgeschätzt, die klarer als andere erkannten, dass die Deutschen sehr viel zu ersetzen, zu bezahlen und zu sühnen hatten. Adolf Arndt oder Carlo Schmid, Franz Böhm oder Theodor Heuss sahen in diesem Sprachgebrauch ein Zeichen der Anerkennung von Schuld und Verbrechen und einen moralischen Appell, um die Selbstbezogenheit und Teilnahmslosigkeit des überwiegenden Teils der deutschen Bevölkerung zu überwinden. Dabei schwang die Idee einer deutschen Selbstreinigung mit, die Bundespräsident Heuss auf die Formel brachte: Es gelte nicht zuletzt, „sich selber wieder gut zu machen“.
Ein Streiter für die Sache der Verfolgten, der Unionsabgeordnete Franz Böhm, erläuterte 1954 die zeitgenössische Semantik so: ´Wen die Grausamkeiten der Hitlerzeit damals, als sie verübt wurden, entsetzten, wer mit den Opfern fühlte, wer, wenn er konnte, zu helfen suchte, dem ist heute die Wiedergutmachung Herzenssache. Wer aber damals mit Hitler sympathisierte, wer jeden, den die Gestapo abholte, für einen Feind, Übeltäter oder Schädling hielt oder wer sich auch nur beim Anblick all der Herzlosigkeit und Brutalität mit dem Satz tröstete: wo gehobelt wird, da fallen Späne, für den ist heute die Wiedergutmachung ein Ärgernis.`
In unserer Gegenwart verhält es sich gerade umgekehrt: Je stärker der Zivilisationsbruch von Auschwitz in das Zentrum deutscher Erinnerungskultur getreten ist, um so mehr ist der Wiedergutmachungsbegriff zum Ärgernis geworden. Vielen gilt er als ´unerträglich verharmlosend`. Die Abwehr ist verständlich, auch deshalb, weil es immer problematisch ist, einem Diskursbegriff der Zeitgenossen die historiografische Deutungshoheit zu überlassen. Doch sollte man sich vor dem anachronistischen Fehlschluss hüten, den frühen Protagonisten der Wiedergutmachung sei es nur um eine Art Schadensabwicklung gegangen.
Wenn heute an diesem Begriff festgehalten wird, dann primär aus pragmatischen Gründen. Wie keine andere Sammelbezeichnung rückt er einen Gesamtkomplex in den Blick, der sich in fünf Felder unterteilen lässt. Es handelt sich, erstens, um die Rückerstattung von Vermögenswerten, die den NS-Verfolgten entzogen worden sind, und, zweitens, die Entschädigung für Eingriffe in die Lebenschancen wie den Verlust an Freiheit, Gesundheit, beruflichem Fortkommen. Zu den einschlägigen Gesetzen traten, drittens, Sonderregelungen auf verschiedenen Rechtsgebieten, insbesondere in der Sozialversicherung. Die juristische Rehabilitierung, viertens, stand vor der Aufgabe, Unrechtsurteile zu beseitigen – vor allem in der Strafjustiz, aber auch Unrechtsakte wie die Ausbürgerung oder die Aberkennung akademischer Grade sind zu bedenken. Diese vier Bereiche betrafen das innerdeutsche Recht. Aber die Verfolger haben Staatsgrenzen niedergerissen, Terror nach außen getragen und Millionen von Ausländern in das Deutsche Reich deportiert. Das Thema hat somit auch, fünftens, weite internationale Dimensionen, die den Hintergrund für eine Reihe von zwischenstaatlichen Abkommen bilden“ (58).
War die Wiedergutmachung der Fürstenbergs nur Schadensabwicklung oder mehr?
Versucht man, die verschiedenen Wiedergutmachungsprozesse der Familie Fürstenberg bezüglich ihrer Ergebnisse zusammenzufassen, so ergibt sich folgendes Bild:
1. Aus den beiden hier ausführlicher diskutierten Verfahren (Teil 8 und Teil 9) ergeben sich finanzielle Zahlungen an die Familie in der Größenordnung von 1.2 Millionen DM.
2. Von den übrigen Immobilien der Familie zum Zeitpunkt ihrer Vertreibung (1938) wurde die Lützowstraße 60 offenbar vor einer Enteignung im Frühjahr 1938 an das Finanzministerium (Abteilung Militär) verkauft. Nimmt man einen Bodenwert von 20-40€/qm an (59), kann man vermuten, dass das Grundstück nebst Wohnhaus zu diesem Zeitpunkt und mindestens zu diesem Preis verkauft wurde und dieses Geld den Fürstenbergs auch zur Verfügung stand – sonst hätten sie zu Recht dafür Wiedergutmachung verlangen können.
3. Die Immobilien Leipzigerstraße 72/73 und Niederwallstraße 13/14 lagen nach dem Krieg in Ost-Berlin, die DDR hat sich an der Wiedergutmachung nicht beteiligt – sie sahen sich nicht als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches. Für diese Immobilien wurde daher wohl kein Rückerstattungsanspruch erhoben.
4. Für die Immobilie Wassertorstraße 3 wurde am 6. Januar 1954 ein Rückerstattungsantrag von 1950 zurückgezogen (60), da das Grundstück zurückgegeben wurde. Laut Bauakten (61) war das Haus 1934 für 19.000 RM aus einer Versteigerung erstanden und hatte einen Verkehrswert von etwa 24.000 bis 26.000 RM. Es war nach dem Krieg noch nahezu vollständig bewohnbar, nur eine Werkstatt im Hof war vollständig zerstört.
5. Das gleiche galt für das Grundstück Lietzenburgerstraße 13, über das es keine Wiedergutmachungsakte gibt. Laut Räumungsakte von 1949 (62) war das Grundstück 1600qm groß und zu 26% beschädigt (nur Quergebäude, das Vorderhaus war bewohnt).
Wie hoch war der Grundwert, und wie verhielt sich dies zu den Werten um 1955?
Die Kaufkraft einer Reichsmark vor dem Krieg (1938) entspricht einer Kaufkraft von 4,7€ heute (63), aber das sagt uns wenig über den Wert der RM vor nunmehr 90 Jahren, 20 Jahre nach der Restitution, 1956, außer vielleicht einem etwa 10:1 Verhältnis von RM:DM. Dem entspricht aber sehr genau eine andere Kalkulation: Der VbK bewertete den Kaufpreis für Grund und Gebäude Lützowplatz 9 (370.000 RM) im Jahr 1956 mit 37.000 DM (37).
Das vom Landgericht veranlasste Gutachten des Dipl.-Ing. Enderlein vom 23. Juli 1953 im Wiedergutmachungsprozess Fürstenberg gegen den VbK (59, Bl. 58-72) bezifferte den Bodenwert der etwa 1800qm, die der VbK 1938 erworben hatte, mit 58.000 RM, und das Gebäude mit 228.000 RM, zusammen also etwas mehr als die bezahlten 370.000 RM. Gegenüber dem Gebäudewert, der sich im Jahr 1953 durch die Zeit, aber auch durch das Ausmaß der Zerstörung 1943 gegenüber 1938 verringert hatte, war der Bodenwert praktisch gleichgeblieben und wurde im Gutachten mit 50.000 DM angenommen (59, Bl. 71).
Nehmen wir also der Einfachheit halber an, dass die beiden Grundstücke zu 4. und 5. im Jahr 1956 zusammen einen Grundwert von etwa 50.000 DM hatten, dann beläuft sich die Gesamtsumme der finanziellen Restitution für die Familie Fürstenberg auf etwa 1.25 Millionen DM im Jahr 1960, und dies entspricht etwa dem zehnfachen Wert (12,5 Mio. RM) im Jahr 1938.
Die Fürstenbergs (Sally, Paul und Sophie Fürstenberg) hatten im Rahmen ihrer Vermögenserklärungen 1938 (s. Teil 7) in der Größenordnung von ca. 7 Millionen RM angegeben, die im Ausland angelegten Vermögenswerte nicht mitgerechnet. Da auch das Vermögen von Fritz Fürstenberg und seiner Firma Reveillon in Amsterdam 1942 durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt wurde, und die Firma Reveillon in London durch deutsche V2-Bomben zerstört wurde (wofür es vor Ort keine Kompensation gegeben haben dürfte), lässt sich das Vermögen der Familie 1938 auf mindestens 10 Mio. RM schätzen und entspricht somit von der Kaufkraft ungefähr der Restitutionssumme von 1.25 Mio DM im Jahr 1960.
Es muss an dieser Stelle aber daran erinnert werden, dass Vermögenden, insbesondere mit Immobilienbesitz, im Rahmen des Lastenausgleichs (1952) (64) ebenfalls erhebliche finanzielle Abstriche ihres Vermögens hinnehmen mussten, wenngleich gestreckt auf viele Jahre, wozu auch der Entzug von Vermögen und Immobilien im Machtbereich der DDR gehörte, den auch sehr viele haben hinnehmen müssen. Und „last but not least“: Hätten die Fürstenbergs nicht die finanziellen Möglichkeiten gehabt, wären sie, so makaber das klingt, vermutlich wie viele weniger vermögende Juden Opfer des NS-Terrors geworden und ermordet worden.
War die Lösung der Wiedergutmachungsprozesse also gerecht?
Da wir darauf keine befriedigende Antwort finden können, sollen am Schluss die Söhne von Sally Fürstenberg selbst zu Wort kommen. In einem Zeitungsartikel im „Tagesspiegel“ vom 17. März 1954 (65) (Bild 1) berichtet der Reporter (G.L.) über ein soeben stattgefundenes Treffen mit zwei der Gebrüder Fürstenberg – bei denen es sich möglicherweise um Fritz aus den Niederlanden und Ulrich aus Ägypten handelt, von denen wir aus anderen Quellen wissen, dass sie gelegentlich in Berlin bzw. auf der Frankfurter Messe waren. Sie hatten offenbar auf der Durchreise in Berlin Station gemacht, vermutlich auch, um im Prozess auszusagen. Zum Zeitpunkt dieses Besuches aber waren die Prozesse noch keineswegs beendet, sondern noch mehr als sechs Jahre von den oben beschriebenen Ergebnissen entfernt.
Das Treffen fand in einer Villa im Grunewald statt, und die beiden „plauderten … bei einer Tasse Tee von ihren Erlebnissen, in den letzten zwanzig Jahren: Verfolgung, Emigration, Aufbau von Geschäften in Kairo, Alexandrien, Rhodesien und Amsterdam, erneute Flucht, Internierung in der Schweiz mit Lagerleben, Gefängnismauern, gewaltsamer Trennung der Familie und schließlich wieder geschäftliche Erfolge in Europa und in Afrika. Lächelnd, mit verbindlichen Handbewegungen, geht man von diesen angedeuteten Reminiszenzen, als wolle man die Gesprächspartner damit nicht belasten, zur Gegenwart über“ und deutet an, dass sie zukünftig vielleicht auch am Kurfürstendamm in Berlin wieder ein „Haus der Geschenke“ eröffnen möchten, „wenn die gegenwärtigen Restitutionsverhandlungen günstig verlaufen„. Auch wenn sie das am Ende vielleicht gewesen sind, Jahre später waren vermutlich die Bedingungen für einen Neubeginn ungünstig, die Preise für Immobilien am Ku-Damm zu hoch, und alle Beteiligten um Jahre älter und um Erfahrungen reicher.