Die Buchempfehlung kam vor wenigen Tagen von einer Kollegin, Irmtraud Koop, die – wie ich – jüdischen Ärzt*innen nachspürt, die 1933 aus der Gemeinschaft der Magen-Darm-Spezialist*innen ausgeschlossen worden waren (1). Das Buch hat einen Bezug zum Blumeshof, deswegen kam die Empfehlung, daher wollte ich es gleich lesen, und darum hier diese kurze Besprechung (2).
Das Buch erzählt die Überlebensgeschichte einer jüdischen Familie aus dem Blumeshof 12, dem Haus, in dem auch die Großmutter mütterlicherseits von Walter Benjamin wohnte – Blumeshof 12 ist dadurch Teil der Weltliteratur geworden (3). Die meisten deutsch-jüdischen Familiengeschichten aus den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts enden entweder tragisch (Suizid, Deportation, Ermordung), oder sie berichten über eine rechtzeitige Flucht, oder Beides. Hier wird ein „dritter Weg“ berichtet, auch wenn es auch in dieser Familie Deportation und Auswanderung gegeben hat: die Anpassung an die widrigsten gesellschaftlichen Verhältnisse in den Jahren nach der Machtergreifung der Nazis.
Der Erzähler der Geschichte, Simon May, Nachkomme dieser Familie, wuchs in England in dem festen Glauben auf, einer katholischen deutschen Familie zu entstammen, und lernte erst mit den Jahren seine jüdische Familiengeschichte, der er dann nachspürt und die hier erzählt wird. Dies ist eine Geschichte des Anpassens, um zu überleben in einer Welt, in der Judenheit ausgegrenzt wurde, und in der Deutschtum (oder, um es mit dem Autor zu sagen, Ariertum – aryanism) als höherwertig erachtet wurde. Während sein Großvater, ein patriotischer Deutscher, der im Blumeshof 12 wohnte und bis zu seinem Berufsverbot 1933 als Rechtsanwalt am Berliner Kammergericht tätig war, sein Judentum mit seinem frühen Tod im Dezember 1933 – im Alter von 58 Jahren – mit ins Grab nahm, überlebten seine Witwe und zwei ihrer drei Töchter den Nationalsozialismus in Deutschland. Sie vermochten dies durch Wechsel der Religion (sie wurden strenggläubige Katholiken), durch Heirat mit Nicht-Juden, Beziehungen zu NSDAP-Mitgliedern, durch Lügen und Urkundenfälschung, und durch Nutzen aller sonst noch zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der (Selbst-)Täuschung, bis hin zur totalen Verleugnung und Auslöschung der eigenen jüdischen Identität. Auch die dritte Tochter, die Mutter des Autors, die nach England emigrierte, „vergaß“ dort ihre jüdische Herkunft und zog ihre beiden Söhne in dem festen Glauben auf, Deutschland nur wegen ihrer Musikausbildung verlassen zu haben.
Ich möchte dieser empfehlenswerten, spannenden Geschichte hier weder vorgreifen noch möchte ich sie nacherzählen, sie ist allerdings in Englisch geschrieben und daher möglicherweise nicht für alle zugänglich – ich stelle mein Exemplar gern zur Verfügung.
Literatur
1. https://www.dgvs.de/dgvs/geschichte/gegen-das-vergessen/).
2. Simon May. How to be a refugee. Picador Publ., London 2021.
3. Walter Benjamin. Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1987