Eine E-Mail aus Schweden dieser Tage hat die Geschichte des jüdischen Altersheims in der Lützowstraße 48/49 (auf dieser Webseite am 8. Mai 2022 und 18. August 2023) auf ein neues Niveau gehoben, man kann den schwedischen Rechercheuren Johan Ulvenlöv, Matti Palm und Anders Larsson, die ihre Ergebnisse bereits 2017 in einem schwedischen Buch und 2019 in dessen englischer Übersetzung (Bild 1) (1) publiziert haben, nur gratulieren zu ihren Befunden – das ist mehr, als was ich mir persönlich zugetraut hätte.
Im Teil 2 der Geschichte des Jüdischen Altersheims hatte ich nämlich geschrieben, dass von den vielen, geschätzt mehr als 200 Bewohnern des Altersheim nur wenige Spuren übriggeblieben sind, und hatte stellvertretend zwei Namen genannt, den einer Altenpflegerin, Johanna Calvary, geboren am 3. Januar 1896 in München, und den einer Heimbewohnerin, Rosa Mayer, geboren am 25. September 1868 aus Wittlich, die von den Nationalsozialisten deportiert und umgebracht worden waren. Und dass das ehemalige Altersheim nach seiner Räumung 1942 von der SS-Hauptabteilung des RSHA besetzt und genutzt wurde. Nur zu einem Heimbewohnerpaar, Hugo Mannheim und seine Ehefrau Emma, hatte ich zwischenzeitlich Akten um Centrum Judaicum Berlin gefunden und erhalten (2), die ich demnächst auswerten und beschreiben wollte.
Die schwedischen Kollegen, die ursprünglich auf einer ganz anderen Fährte unterwegs waren, haben mich nun eines Besseren belehrt: Sie konnten alle 256 Einwohner des Altersheims im Jahr 1939 namentlich identifizieren und ihr Schicksal nachverfolgen, das in den meisten Fällen – wie bei Calvary und Mayer – in Deportation und Ermordung endete. Aus dieser Recherche ist ein höchst lesenswertes Buch entstanden, das ich vor wenigen Tagen von Johan Ulvenlöv, einem der Autoren erhielt. Ich stelle es Interessierten gern zur Verfügung.
Ulvenlöv und Kollegen waren – und sind – auf der Suche nach Spuren eines schwedischen Alt-Nazis, Gustaf Ekström (1907-1995), der sich 1941 als Freiwilliger der deutschen Waffen-SS anschloss und in Berlin stationiert war, und der nach dem Krieg, wieder in Schweden, braunes Gedankengut in die schwedische Neo-Nazi-Szene einbrachte und 1988 an der Gründung der nationalsozialistischen Partei „Schweden Demokraten“ beteiligt war. Er war sein Leben lang ein Holocaust-Leugner, auch wenn er nachweislich an dessen Exekution beteiligt war.
Bei der Recherche nach seinem Arbeitsplatz in Berlin stießen die Kollegen auf die Lützowstraße (Bild 2) (3), und als ihnen klar wurde, dass dort zuvor ein jüdisches Altersheim existierte, wollten sie dessen frühere Bewohner und deren Schicksal ausfindig machen. Die Quelle, die ihnen dabei half, war mir vor zwei Jahren noch nicht bekannt: Es gab im Mai 1939 eine allgemeine Volkszählung in Deutschland, bei der alle Einwohner – nicht nur Berlins – neben allgemeinen Angaben auch die arische bzw. nicht-arische Abstammung der vier Großeltern angeben mussten. Diese Zusatzinformationen – nebst Adresse zum Zeitpunkt der Erhebung – haben als „Ergänzungskarten der Volkszählung vom 17. Mai 1939“ den Krieg überlebt und stehen heute in einer Datenbank zur Verfügung (4). Darüber konnten Ulvenlöv und Kollegen insgesamt 256 Individuen (184 Frauen, 72 Männer) identifizieren, die im Mai 1939 in der Lützowstraße 48/49 wohnten, und mit Hilfe dieser Namen und Geburtsangaben war es ihnen möglich, für 237 von ihnen in den diversen Quellen zum Holocaust (5) deren Verbleib zu rekonstruieren. Es ist hier nicht der Platz, das traurige Schicksal dieser 237 Personen nachzuzeichnen, selbst die Namensliste allein wäre hier zu lang, aber in der Summe ist die reine Statistik erschreckend genug: von 237 identifizierten Personen konnten nur acht noch rechtzeitig emigrieren, und nur drei hatten die Deportation überlebt – sie waren zum Zeitpunkt der Deportation jung. Vor der Deportation starben 57 in Berlin, in fünf Fällen ist ein Suizid gesichert. Insgesamt 166 wurden ermordet, die meisten in Theresienstadt; viele wurden von dort weiter transportiert nach Auschwitz und Treblinka, alle andere wurden in Riga, Minsk, Warschau, Litzmanstadt (Lodz) und anderen Ghettos und Konzentrationslagern ermordet.
Eine weitere deutsche Quelle (6) (Bild 3) haben die Autoren ausfindig gemacht, die Hinweise auf das Altersheim enthalten: Ester Golan (geborene Dobkowsky) wurde 1939 mit 16 Jahren mit einem Kindertransport nach England geschickt und korrespondierte bis 1942 mit ihren Eltern daheim. Ihre Mutter schrieb ihr, dass sie im August 1939 Anstellung im Altersheim in der Lützowstraße 48/49 gefunden hatte und in als Köchin arbeitete; sie bestätigte indirekt die große Belegung des Altersheims („wir verteilen knapp dreihundert Portionen„). In der Küche arbeitete sie zusammen mit Renate Golinski, eine Klassenkameradin von Ester. Renate Golinski wiederum, geboren 1924, ist eine der wenigen Überlebenden der Deportation: zuerst 1943 nach Theresienstadt, dann 1944 nach Auschwitz, wo ihre Eltern ermordet wurden, schließlich nach Flossenbürg und zuletzt nach Mauthausen. Auch Esters Eltern wurden ermordet, wie auch der Leiter des Altersheim, Dr. Martin Salomonski: er wurde 1941 nach Theresienstadt deportiert und starb 1942 in Auschwitz.
Was aber besonders bemerkenswert an dem Buch ist, ist nicht die sorgfältige, gut dokumentierte Recherche, sondern der meines Erachtens gelungene Versuch, die Geschichte eines Nazi-Täters, die ja immer in Gefahr steht, von den falschen Leuten mit Applaus bedacht zu werden, mit der Geschichte seiner Opfer zu verbinden. Und das nicht nur im Buch insgesamt, dass zwischen biografischen Informationen zu dem SS-Mannes Ekström und denen seiner Opfer kapitelweise wechselt, sondern auch innerhalb eines Kapitels bleiben Täter und Opfer aus das Engste miteinander verbunden, gelingt es Ekström nicht, seiner Vergangenheit zu entkommen – man wünscht sich fast, er hätte das Erscheinen dieses Buches noch erlebt.
Literatur
1. Johann Ulvenlöv, Matti Palm, Anders Larsson: No Remorse. Gustaf Ekströn, the SS volunteer who founded the Sweden Democrats. Faktel förlag, Eskilstuna, Schweden 2019.
2. Archiv des Centrum Judaicum Berlin, Akte: 1 E, Nr. 536, #14823.
3. Akte Bundesarchiv Berlin Lichterfelde: Akte NS 33/376, Blatt 12.
4. Bundesarchiv Berlin Lichterfelde, Akte: R 1509 bis R 1518. Die Film-Akten sind digital aufbereitet auf der Webseite „Mapping the Lives“ (https://tracingthepast.org/mapping-the-lives/).
5. Die Datenbank von Yad Vashem, das Gedenkbuch der Holocaust-Opfer im Bundesarchiv Berlin, das Erinnerungsbuch von Theresienstadt und viele andere Quellen.
6. Ester Golan: Auf Wiedersehn in unserem Land. ECON Verlag, Düsseldorf 1995.