Vorgeschichte:
Diese Geschichte ist entstanden, weil der Trägerverein des Hauses am Lützowplatz (HaL) (1) in diesem Jahr sein 60jähriges Bestehen feiert, und weil der künstlerische Leiter des HaL, Dr. Wellmann, bei dieser Gelegenheit die Geschichte des Vorbesitzers und des Hauses Lützowplatz 9 (früher: Lützowplatz 5) in Erinnerung rufen wollte.
Aber da war nicht so viel Geschichte zu erinnern: der Name des jüdischen Besitzers, Egon Sally Fürstenberg, der das Haus zwangsverkaufen musste, einige eindrucksvolle Fotos des Hauses vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, und die Geschichte des gemeinnützigen Vereins HaL, der das Haus nach dem Krieg im Zuge der Restitution übernommen hatte. Die heißt merkwürdigerweise im Deutschen immer noch Wiedergutmachung, als könne der Schaden, den die Nazis angerichtet hatten, wieder gutgemacht werden. Die „Zwischen-Besitzer“, der Verein Berliner Künstler (VBK), hatte von der „Arisierung“ jüdischen Immobilienbesitzes 1939 profitiert; dazu später mehr. Diese Geschichte rekonstruiert also – in vier bis fünf Teilen – vor allem das Leben von Egon Sally Fürstenberg (1861 – 1942) und seinen Vor- und Nachfahren.
Jüdische Genealogie und ihre Schwierigkeiten
Auf die speziellen Schwierigkeiten der Rekonstruktion jüdischer Familiengeschichten ist vielfach hingewiesen worden (2). Eine dieser Schwierigkeiten ist, dass es bis 1812, dem Jahr des sogenannten Judenediktes, das den Juden in Preußen die formelle Gleichberechtigung geben sollte, jüdische Familien keine Nachnamen (Familiennamen) kannten, sondern die familiäre Herkunft durch die spezielle Reihung von Vornamen der Vorväter dokumentierte: Abraham, Sohn des Jacob, Sohn des Isaak, Sohn des Samuel, etc., also: Abraham ben Jacob ben Isaak ben Samuel etc., oder kurz Abraham Jacob Isaak Samuel, meist gekürzt auf zwei Namen. Wenn also heute ein (amerikanischer) Jude seine genealogische Herkunft in Europa rekonstruieren will, muss er die Vornamen und Herkunftsorte seiner Großeltern, Urgroßeltern und Ururgroßeltern kennen, und tut er dies nicht, gerät er schnell auf Abwege.
So geschehen in der Familie der Fürstenbergs aus Berlin. Ein Bruder des Egon Sally Fürstenberg, Julius Fürstenberg, geboren in Berlin am 18. Dezember 1865 und verstorben in Houston, Texas am 17. Juni 1911, war 1883 mit 18 Jahren nach Amerika ausgewandert und hatte dort in eine christliche Familie eingeheiratet (eigentlich sogar zweimal, 1891 und 1905). Nachkommen in der zweiten Generation aus dieser Familie hatten vor einigen Jahren versucht, die Familiengeschichte zu rekonstruieren, und letztendlich eine Genealogie ins Internet gestellt, die Widersprüchlichkeiten enthielt, die zunächst aufgelöst werden mussten, bevor eine korrekte Rekonstruktion der Familiengeschichte versucht werden konnte. Eine dieser Widersprüchlichkeiten war eine angeblich frühe (in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert stattgefundene) Verbindung der jüdischen Familie Fürstenberg aus Lindow (Brandenburg) mit einer katholischen Familie Fürstenberg (oder Förstenberg) aus Kreuzebra, einer Klostersiedlung auf dem Eichsfeld in Thüringen, die auch nach Amerika ausgewandert war, allerdings einige Jahre früher (1854). Kreuzebra gehörte aber zum Erzbistum Mainz, und das war „sehr“ katholisch, eine solche Mischehe war zu diesem Zeitpunkt nicht nur kaum denkbar, sondern aus katholischer Sicht auch „verboten“. Die Mischehe war schlicht zeitlich und örtlich falsch eingeordnet worden.
Der Großvater Joseph David Fürstenberg
Da die Familie Fürstenberg vor 1812 keinen Familiennamen hatte (s. oben), kann der älteste Namensträger erst mit dem Judenedikt von 1812 den Nachnamen Fürstenberg erhalten oder sich zugelegt haben. In der Sterbeurkunde von Egon Sallys Vater, Philipp Fürstenberg (1823 – 27. Juni 1898) (Bild 1) findet sich der erste Hinweis auf diese Person, ein Joseph David Fürstenberg aus Lindow bei Neu-Ruppin, verstorben ebendort, und dessen Frau Fanni geborene Levin, zuletzt wohnhaft in Berlin.
Dieser Joseph David wiederum hatte nach Informationen aus dem preußischen Amtsblatt von 1814 (3) aufgrund des Judenediktes von 1812 den Namen Fürstenberg angenommen (Bild 2).
Sein Grabstein auf dem Friedhof von Lindow (Bild 3) nennt seine Lebensdaten (8. Mai 1779 – 2. Juli 1861) und seine jüdischen Namen, sowohl den in der traditionellen Form (Joseph ben David) wie den meist nur in der Synagoge gebräuchlichen Namen (Zwi).
Die hebräische Inschrift auf der Rückseite des Grabmals lautet „Hier ist geborgen / der teure und hochgeehrte Mann, / der gelehrten Herr Josef Zwi, / Sohn des geehrten Herrn David Ha-Levi. / Er starb im guten Greisenalter am Dienstag, 24. Tammus / im Jahr 621. / Seine Seele sei eingebunden im Bund des Lebens“ (4). Wie man sieht, wird hier zwar die nächste (vorherige) Generation benannt, aber die Information (Sohn des Herrn David Ha-Levi) lässt sich genealogisch kaum verwerten. Dazu schreibt auf Anfrage Frau Dr. Anke Geißler-Grünberg vom Historischen Institut an der Universität Potsdam, das die Aufnahmen der Gräber ins Netz gestellt hatte, in einer Mail am 6. Februar 2023: „Die Zeile ´der gelehrte Herr Joseph Zwi´ meint, dass Joseph David Fürstenberg religiös sehr gebildet, also im traditionellen Judentum verankert war. Sein Synagogenname lautete ´Zwi´, zu Deutsch ´Hirsch´; dies könnte aber auch der jüdische Name seines Vaters sein. Sein bürgerlicher Zweitname verweist eindeutig auf ihn. In der Folgezeile steht der Name seines Vaters David ha-Levi. Dies bezieht sich auf die levitische Herkunft der männlichen Linie, also auf die für die kultische Reinheit im Tempel Zuständigen„.
Die Herkunft des Namens Fürstenberg
Der Familienname Fürstenberg verweist vermutlich – wie in vielen solchen Fällen – auf die Herkunft aus Fürstenberg hin, was allerdings immer noch mindestens zwei Möglichkeiten übriglässt: Fürstenberg (Havel), das ehedem zu Mecklenburg (Mecklenburg-Strelitz) gehörte, und Fürstenberg (Oder) (heute Teil von Eisenhüttenstadt). Am Ende war es Fürstenberg (Havel), aber das wurde erst klar, als wir Sterbeort und -zeit seiner Ehefrau Fanni gefunden hatten. In der Judenliste von Lindow (5) jedenfalls fand sich kein weiterer Vorfahre des Joseph David (der dann ja David Sohn des NN heißen müsste), und die Judengemeinde war klein (6).
Zwischen 1800 und 1807 wohnte dort nur die Judenfamilie des „Gabriel Levin, 2ter Sohn des Levin Tobias“ (im Jahr 1807: 58 Jahr alt, geboren also um 1749, Konzession als „Schutzjude“ vom 8. November 1796) und die Witwe des Tobias Levin, 85 Jahre alt. Das Register von 1809 vermerkt „die Wittwe Levin Tobias ist verstorben, daher deren Kinder künftig nicht mehr aufgeführt werden“ (5). Im Jahr 1809 werden keine Juden mehr im Register für Lindow erwähnt. Gabriel Levin besaß ein käuflich erworbenes Haus in Lindow (Kaufkonzession vom 24. September 1794), das im Jahr 1809 verkauft worden war, nachdem der Levin Jacob (?, vermutlich Tobias) gestorben war (5).
Wenige Jahre später (1812) kam es durch Zuzug des Kaufmanns Naumann zu einer kurzen Blüte des Judentums in Lindow: 1824 Einrichtung des Friedhofs, 1825 Einrichtung einer Synagoge im Wohnhaus des Naumann, 1830 sind es drei Familien (13 Personen, davon 4 Kinder), 1847 vier Familien mit insgesamt 23 Personen, 1849 sind es neunundvierzig Personen (6) – eine dieser Familien ist die des Joseph David Fürstenberg. Ob jedoch der verstorbene Tobias Levin eine Tochter hatte, die die Ehefrau Fanni geborene Levin hätte sein können, blieb zunächst unklar.
Die Großmutter Fanni Fürstenberg, eine geborene Levin oder Michel?
Eine naheliegende Vermutung war, dass Fanni nach dem Tod ihres Mannes 1861 nicht allein in Lindow wohnen blieb, sondern zu einem ihrer Kinder gezogen war, die inzwischen in Berlin wohnte (s. unten). Wenn dem so wäre, wäre sie kaum im Adressbuch zu finden, solange sie keinen eigenen Hausstand begründet. Und die Suche nach ihrem Sterbedatum stand vor der Schwierigkeit, dass die Standesämter erst 1874 eingeführt wurden, mithin die Suche ab diesem Datum immerhin möglich wäre (Ancestry hat die Standesamtsunterlagen ab 1874 digital verfügbar), aber alles vor diesem Datum auf die für alle Juden verbindlichen Meldungen von Geburt, Heirat und Tod bei den zuständigen Gerichten erfolgen mussten, in Berlin also beim Stadtgericht – und die Unterlagen sind nicht alle digitalisiert, so dass man sich durch endlose Listen schwer lesbarer handschriftlicher Aufzeichnungen quälen muss. In diesem Fall war dies vergebens. Eine ebenfalls fruchtlose Suche ging der Frage nach, ob Fanni vielleicht in Spandau – eine eigenständige Stadt bis 1920 – bei ihrem Sohn David gelebt hat und dort bei einer seiner Töchter (s. unten) geblieben ist, als dieser nach Berlin zog.
Eine Anfrage bei der Verwaltung der jüdischen Friedhöfe in Berlin, die immerhin die erhaltenen Beerdigungsbücher der jüdischen Friedhöfe von Berlin und eine entsprechende Datenbank (mit mehr als 110.000 jüdischen Toten und ihrer Gräber in Weissensee) verwaltet, erbrachte ebenfalls kein Ergebnis, jedenfalls für Fanni Fürstenberg geborene Levin, wohl aber für deren Kinder.
Am Ende war es ein glücklicher Fund, den Freund Michael Schemann bei Ancestry machte: Am 12. Juli 1884 starb in Berlin eine Fanni Fürstenberg geborene Michel (!), und für sie gab es natürlich eine Sterbeurkunde des zuständigen Standesamtes (Bild 2 rechts). Sie wohnte danach zuletzt bei ihrem Sohn Philipp Fürstenberg in der Franz-Straße 5 (die es heute nicht mehr gibt, in Berlin-Kreuzberg nahe dem Engelbecken) und starb im Jüdischen Krankenhaus in der Auguststrasse. Und nachdem der „neue“ Geburtsname gefunden worden war, war auch klar, dass sie bei der Suche in den Namensregistern aller (mehr als 50) Berliner Standesämter, die das Landesarchiv digital bereitstellt (7), schlicht übersehen worden war. Nach der Sterbeurkunde stammte sie aus Fürstenberg (Havel) und war die Ehefrau des in Lindow verstorbenen Handelsmannes Joseph David Fürstenberg. Die Urkunde klärte aber nicht, wieso sie auf der Sterbeurkunde ihrer beiden Kinder eine geborene Levin und auf ihrer eigenen Sterbeurkunde eine geborene Michel war.
Hier kam eine ausgewiesene Expertin der Geschichte der jüdischen Gemeinde von Fürstenberg (Havel) ins Spiel, Felicitas Spring aus Berlin, die wir um Rat fragten. Sie hatte vor einigen Jahren eine grundlegende Arbeit über die historische Entwicklung der dortigen jüdischen Gemeinde und ihrer Bewohner im 18. und 19. Jahrhundert veröffentlicht und anhand einiger Familien die Möglichkeiten genealogischer Forschungen über jüdische Familien detailliert dargestellt (2). Sie analysierte die Daten der Sterbeurkunde von Fanni Levin oder Michel – unter Verweis auf eine Quelle (8) – wie folgt:
Die Aussage in der Sterbeurkunde 1884: Fanny Fürstenberg geb. Michel, Tochter des Jehuda Michel und der Vogel geb. Zwie, beide verstorben in Fürstenberg/Havel. Sie selbst ist geboren in Fürstenberg und 89 Jahre alt.
Fanny müßte also rund um 1794 geboren sein. Zunächst sei festgehalten, daß es in der Fürstenberger Gemeinde niemanden mit dem Vornamen Jehuda gab. In keiner der mir bekannten einschlägigen Quellen taucht dieser Vorname auf, auch nicht in einer möglichen Abwandlung. Es kann sein, daß es sich hierbei um den Vornamen handelt, der bei den Juden innerhalb der Gemeinde benutzt wurde, dieser unterschied sich oft von dem gegenüber der christlichen „Außenwelt“ (vor allem Verwaltung und Behörden oder auch bei Handelsgeschäften) benutzten „offiziellen“ Namen. Oder es handelt sich sogar um den Synagogen-Namen, mit dem ein Mann in der Synagoge aufgerufen wurde, um die Thora zu lesen. Diese Namen sind aber fast nie dokumentiert.
In Fürstenberg haben wir 1814 keine Familie mit dem Vatersnamen Levin, aber wir haben mehrere Männer mit dem Namen Levin als Vornamen, darunter einen Levin Michael, der mit dem Judenedikt von 1812 den Familiennamen Friedländer annahm. Dieser lebte laut den „Seelenlisten“ von Fürstenberg (ähnlich einem Kirchenbuch, nicht ganz so ausführlich) 1813 mit Ehefrau und drei Töchtern in Fürstenberg, starb aber bereits 1814 und nahm den gerade neu angenommenen Familiennamen Friedländer mit ins Grab, der Name setzte sich offensichtlich für seine hinterbliebene Familie nicht durch, denn seine Witwe taucht von nun an in den folgenden Jahren als „Wittwe Levin“ in den Seelenlisten auf. Zunächst werden auch ihre drei Töchter weiterhin erwähnt, doch diese verschwinden mit wachsendem Alter nach und nach aus den Registern, was in der Regel bedeutete, daß sie heirateten.
Es könnte also sehr wohl sein, daß Fanny Fürstenbergs wechselnde Geburtsnamen aus ihrer Familiengeschichte zu verstehen sind, wenn man einmal bedenkt, daß ihr Vater mit Vornamen Levin hieß, sie also „Levins Tochter“ war, daß aber sein Vatersname Michael oder Michel war und dieser Name sich später auch als Familienname für die Tochter überliefert haben könnte. Auf jeden Fall ist dieser Levin Michael der einzige Familienvater in Fürstenberg, der sich vom eigenen Alter, vom Alter seiner Töchter und von seiner „Namenskombination“ als Vater für Fanny anbietet.
Soweit wir heute wissen, hatten Joseph David (Fürstenberg), der Handelsmann aus Lindow und seine Frau Fanni, geborene Levin/Michel, zwei Söhne, David Fürstenberg, geboren 1820 in Lindow, und Philipp Fürstenberg, geboren 1824, ebenfalls in Lindow. Zu denen mehr im nächsten Teil.
Literatur
1. https://de.wikipedia.org/wiki/Haus_am_Lützowplatz
2. Zu den Schwierigkeiten jüdischer Genealogie siehe z.B. die Einleitung zu Felicitas Spring: Die jüdische Gemeinde Fürstenberg (Havel) vom 18. bis 20. Jahrhundert. In: Herold Jahrbuch, Neue Folge, Band 17, Seite 145-259.
3. Amtsblatt der Königlichen Churmärkischen Regierung zu Potsdam. Potsdam 1814 (Beilage: Verzeichnis der in den Städten und auf dem platten Lande des kurmärkischen Regierungsdepartements wohnenden Juden …).
4. Datenbank Jüdischer Friedhöfe in Brandenburg: https://www.uni-potsdam.de/de/juedische-friedhoefe/index
5. Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem: Akte I. HA Rep. IV C Nr. 107 – Liste von den Judenfamilien in den Städten der Kurmark.
6. Peter Böthig, Stephanie Oswalt: Juden in Rheinsberg. Eine Spurensuche. Edition Rieger, Karwe 2005, Seite 27
7. Landesarchiv Berlin: http://www.content.landesarchiv-berlin.de/labsa/show/index.php
8. Norbert Francke/Bärbel Krieger, Die Familiennamen der Juden in Mecklenburg, hrsg. Schriften des Vereins für jüdische Geschichte und Kultur in Mecklenburg und Vorpommern e.V., Schwerin 2001, Seite 36-37.