Kleine Quellenkunde für Jüdische Geschichte in Tiergarten

von Prof. Dr. Paul Enck, (www.paul-enck.com)

… damit kann die Recherche jetzt erst richtig beginnen, hatten wir am Ende der ersten Folge von „Jüdisches Leben in Tiergarten-Süd“ (mitteNdran vom 8.5.2022) formuliert. Gemeint war: Hat man erst einmal ein Fadenende erwischt, ist es wesentlich leichter, einer Spur nachzugehen.

Nachdem das Altersheim gefunden worden war (mit Bild, das ist für „visuelle Menschen“ wie mich wichtig), fanden sich auch andere Spuren: Zwar hat das jüdische Altersheim Lützowstraße 48/49 im „Wegweiser durch das jüdische Berlin“ von 1987 (1) keinen eigenen Eintrag, aber ein Hinweis fand sich (auf Seite 267) beim großen jüdischen Altersheim in der Lietzmannstraße 19-21 (Berlin Mitte), das Anfang der 30er Jahre vom Verein Jüdische Altersheime e.V eingerichtet worden war; zusammen hatten beide Heime mehr als 300 Plätze.  Außerdem werden dort neben der Lützowstraße 48/49 weitere „Zweigheime“ in der Lützowstraße 77 und in der Derfflinger Straße 17 erwähnt. Kurzer Cross-check im Adressbuch: In der Lützowstraße 77 tauchte der Verein als einer von mehreren Mietern auf, nicht jedoch in der Derfflinger Straße.

Galliner (1) verweist noch auf ihre wichtigsten Quellen: Neben dem jüdischen Adressbuch von Berlin, das digital in zwei Jahrgängen (1929/30, 1931/2) vorliegt (2), gibt es die acht Ausgaben des „Jüdisches Jahrbuch für Groß-Berlin“ der Jahre 1926 bis 1933 (3), in denen alle aktiven jüdischen Einrichtungen dieser Zeit gelistet sind (ebenfalls digital zugänglich), die Monografie „Berliner Privatsynagogen und ihre Rabbiner 1671-1971“ (5), ebenfalls digital zugänglich, sowie die zweibändige Ausgabe von „Synagogen in Berlin“ 1983 (4), der Katalog einer entsprechenden Ausstellung von 1983.

Bild 1: Auszug aus dem Buch „Quellenkunde“ (6) mit dem Verweis auf die Akte B Rep. 202 Nr. 4352 im Landesarchiv Berlin, und daraus der Grundriss des Altersheims in der Lützowstraße 48/49 und ein Fassadenfoto.

Die wichtigste Quelle heute, die für solche Recherchen zur Verfügung steht, ist aber die sechsbändige Ausgabe „Quellen zur Geschichte der Juden in Deutschland“ (6), dabei insbesondere der Band 3 (1999) zu Quellen in den Archiven von Berlin (sowie Brandenburg und Sachsen-Anhalt). Es ist ein reines „Findbuch“ mit zehntausenden von Fundstellen (Akten-Nummern) in diversen Archiven der Stadt, mit kurzer, oftmals zu kurzer Beschreibung des Akteninhalts (Bild 1). Hier fanden sich die Hinweise auf die Bauakten des Altersheims in der Lützowstraße 48/49, die Bauakten der Synagoge in der Lützowstraße 16 (Bild 1), und die Akten zu Wiedergutmachungsverfahren nach dem 2. Weltkrieg, sowohl für jüdische Institutionen (Vereine etc.) wie für einzelne Antragsteller, deren Angehörige aus Berlin vertrieben oder ermordet worden waren. Alle diese Akten sind zugänglich im Berliner Landesarchiv in Berlin Reinickendorf (Eichborndamm). Das Landesarchiv hält ebenfalls ein kleines Konvolut Bilder der Ruinen der Synagoge nach dem Krieg, als diese durch Bomben weitgehend zerstört worden war – die Pogromnacht 8.11.1938, in der viele Synagogen in Flammen aufgingen, hatte sie weitgehend unbeschadet überstanden, wie auch einige andere Synagogen in Berlin, nicht zuletzt wegen der dichten Wohnbebauung um diese herum.

Was sich in den „Quellen“ (6) nicht fand, war ein Hinweis auf die Synagoge an der Potsdamer Straße, Ecke Schöneberger Ufer, die üblicherweise erwähnt wird, deren Geschichte aber auch bei Galliner (1) oder bei Nägele & Markert (7) eher kursorisch berichtet wird – dafür hatte das Landesarchiv ein Foto der Synagoge vom Berliner Fotografen F. Albert Schwartz, und das führte auf die richtige Spur: die Adresse der Synagoge war nicht Potsdamer Straße (Nr. 24), sondern Schöneberger Ufer 26 (im Adressbuch ist sie unter beiden Adressen gelistet) – und auch dazu gab es dann im Landesarchiv die entsprechende Bauakte (gelistet als Schöneberger Ufer 26, auf der Akte selbst wiederum steht Potsdamer Straße 24), die eingesehen werden konnte (am 30. Juni 2022) (Bild 2). Bleibt die kleine, jüdisch-sephardische Gemeinde, die von 1891 – 1933 ihren Betsaal in der Lützowstraße 111 hatte und über die die wenigsten Informationen vorliegen, auch in den bereits benannten Quellen. Als beste Quellen erwiesen sich hier die Geschichte der sephardischen (spanischen) Juden in Berlin in einem Beitrag von Groh 2001 (8) und bei Guttstadt 2008 (9).

Bild 2: Auszug aus der Akte A Rep. 010-02 Nr. 32170 im Landesarchiv Berlin, darin der Situationsplan zur Lage der Synagoge (Pfeil) im Jahr 1876, eine Fassadenzeichnung aus dem Jahr 1890 (Einbau von 2 Fenstern) und ein Foto der Fassade um 1900.

Eine Quelle ganz besonderer Art zur jüdischen Geschichte Berlins ist die Datenbank jüdischer Betriebe in Handel und Gewerbe von 1930 bis 1945 (10) (siehe mitteNdran vom 17. März 2022), die nach 1933 enteignet und „arisiert“ wurden und die ebenfalls digital zugänglich ist (11) und in Ergänzung zum Buch die Archivnummern listet, unter denen jüdische Firmen in den Handelsregistern von Berlin und Charlottenburg eingetragen waren – auch die sind wiederum im Landesarchiv Berlin einsehbar. Und es gibt z.B. die Listen jüdischer Anwälte in Berlin (12), die man nach Anwälten im Lützow-Viertel durchforsten kann, um dann gezielt nach einzelnen Namen zu suchen. Und dann gibt es immer wieder Zufallsfunde bei der Suche im Netz, mit wechselnden Stichwörtern und wechselnden Suchsystemen: So fand sich die Satzung des Vereins „Tiergarten-Synagoge e.V.“ von 1905 im Israelischen Staatsarchiv in Jerusalem als Digitalisat, welches man vom Schreibtisch aus bestellen konnte. Und die Namen einzelner Heimbewohner der Altersheime, wenn ihre Adressen in Deportationslisten oder Datenbanken ermordeter Juden in Konzentrationslagern (13) auftauchten – dieser schmerzliche Teil der Recherche wird sich noch verstärken, wenn ein Besuch im Archiv der jüdischen Gemeinde Berlins, im Centrum Judaicum, ansteht. Und schließlich: Im Landesarchiv Berlin findet sich unter der Registratur F Rep. 120 das Jüdische Personenstandsregister (unvollständig, nicht nur für Berlin) auf der Suche nach einzelnen Personen (14).

Diese und andere Quellen werden in nachfolgenden Beiträgen genutzt, um einen Einblick in die Geschichte jüdischen Lebens im Lützow-Viertel von den Anfängen vor 1875 bis 1945 zu vermitteln.

Literatur

  1. Nicola Galliner, Hrsg. Wegweiser durch das jüdische Berlin. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1987
  2. Jüdisches Adressbuch für Gross-Berlin, Jahrgänge 1929/1930 und 1931/1932, Goedega Verlag, Berlin (https://digital.zlb.de/viewer/metadata/34039536/0/)
  3. Jüdische Jahrbücher für Gross-Berlin. Jahrgänge 1 bis 8, 1926 bis 1933, Scherbel Verlag, Berlin. (https://archive.org/details/JdischesJahrbuchGrossBerlin/Jg.%201%20%281926%29/)
  4. Synagogen in Berlin, Zur Geschichte einer zerstörten Architektur, Teile 1 und 2. Verlag Wilhelm Arenhövel, Berlin 1983
  5. Max Sinasohn: Die Berliner Privatsynagogen und ihre Rabbiner, 1671-1971. Zur Erinnerung an das 300jährige Bestehen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Jerusalem 1971. (https://vdoc.pub/documents/die-berliner-privatsynagogen-und-ihre-rabbiner-1671-1971-1b6tshurmde0)
  6. Bernhard Braun, Manfred Jehle, Bearbeiter: Quellen zur Geschichte der Juden in den Archiven der neuen Bundesländer. 6 Bände. K.G.Saur, München 1996 bis 2001
  7. Sybille Nägele, Joy Markert. Die Potsdamer Straße. Geschichten, Mythen und Metamorphosen. Metropol Verlag, Berlin 2006
  8. Arnold Groh: Searching for Sephardic History in Berlin. In: M. Mitchell Serels. The Lectures. Studies on Sephardic History. New York 2001, S. 33-56 (https://s-a-c-s.net/wp-content/uploads/2012/03/SephBerl.pdf)
  9. Corinna Guttstadt. Sepharden an der Spree. Türkische Juden im Berlin der 20er- und 30er- Jahre und ihr Schicksal während der Schoah. In: Uwe Schaper, Hrg. Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2008. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2008, S. 215-233.
  10. Christoph Kreutzmüller. Ausverkauf. Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin 1930 bis 1945. Metropol Verlag, Berlin 2012
  11. Firmendatenbank: https://www2.hu-berlin.de/djgb/www/find?language=en_US
  12. Simone Ladwig-Winters. Anwalt ohne Recht. Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte in Berlin nach 1933. Be Bra Verlag, Berlin 1998
  13. z.B. www.holocaust.cz
  14. Landesarchiv Berlin, Register Nr. F Rep. 120: Jüdisches Personenstandsregister (Filme des Reichssippenamtes) (Findbuch unter http://www.content.landesarchiv-berlin.de/php-bestand/frep120-pdf/frep120.pdf)