Das jüdische Purimfest wird in diesem Jahr am 25. und 26. Februar gefeiert. Aus der Thorarolle wird dazu in der Synagoge stets die Buchrolle „Esther“ mit seinen 10 Kapiteln rezitiert. In dieser äußerst dramatischen Schilderung eines knapp verhinderten Genozids vor unserer Zeitrechnung erscheint zum ersten Mal das Wort „Yehudi“ (Jude). Gott kommt nicht vor. Es ist der Zufall, der im Buch Esther das Schlimmste verhindert.
Der deutsch-britische Rabbiner, Historiker und Kabarettist Dr. von Rothschild stellte am 18. Februar 2021 einem Kreis von 25 Teilnehmer*innen in einer Live-Onlinekonferenz „Das Buch Esther – auf meine Art und Weise“ vor. Veranstalter war die Initiative „Jüdisches Leben und Widerstand in Tiergarten Süd“. Gabriele Hulitschke moderierte die Veranstaltung. Dem Vortrag schloss sich eine einstündige lebhafte Diskussion an. Zum Ende bot ein YouTube Video eine sarkastische Persiflage auf Louis Armstrongs „Wonderful World“: Rabbi Rothschild mit den Minyan Boys und dem „Purim Song“.
Innerhalb einer Stunde ging es im Galopp durch den Text, der schon G.F. Händel Anfang des 18. Jahrhunderts zu seinem Oratorium und den amerikanischen Komponisten Hugo Weisgall 1993 zu einer Oper inspirierte.
Rabbi Rothschild erwies sich als spitzfindiger Textanalytiker, der auch zwischen den Zeilen zu lesen vermag, hie und da ein Wörtchen dazu fügt oder weglässt – und damit dem Zuhörenden den Sinn des Textes erschließt. So ergründet er, warum Königin Waschti nicht vor dem alkoholisierten König Ahasveros und seiner grölenden Fürstenschar mit der Krone („Setzen Sie das Wort ´nur´ ein!“) erscheinen wollte. Rothschild vertieft sich in das Schicksal des jüdischen Mädchens Esther, das von der Straße weg gekidnappt wird, um in die Schar der neuen „Topmodels“ als Ersatz für die verstoßene Königin und in eine einjährige (!) Schönheitskur hineingezwungen zu werden. Doch auf Rat ihres Onkels Mordechai erfährt niemals jemand, dass sie Jüdin ist – und das verschafft ihr die Möglichkeit ihr Volk zu retten.
Großwesir Haman entwickelt plötzlich einen völlig unbegründeten Hass auf „die Juden“, errichtet einen Galgen für Mordechai, plant einen Genozid im ganzen Riesenreich von Ahasveros. Dem ist es egal, er gibt das nötige Silber dazu.
Am Ende hängt Haman selbst an seinem Galgen und auch seine zehn Söhne werden hingerichtet. Die rettende Wende trat ein durch die Klugheit und den Mut Esthers – mit dem Zufall (und nicht ausdrücklich Gott) als Hilfe.
Aber was sollte nun die Beschäftigung mit dem Buch Esther?
Das erschreckend Faszinierende waren die Parallelen dieser uralten Geschichte zu den Ereignissen Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland und Europa: Esther schien sich zu wiederholen: der unergründliche Judenhass, der innerhalb kürzester Zeit erfolgreich um sich greift und alle Institutionen erfasst. Die eiskalten Schreibtischtäter, die gedankenlos jeden Befehl festhalten und verbreiten. Schon das Buch Esther schildert die Hofintrigen und Ränkespiele, das sich Aufspielen der Herrenmenschen, die mit Terror ihren unheilvollen Willen durchsetzen – und die Gleichgültigkeit der anderen. Nur bei der glücklichen Wende, der Verhinderung des Genozids durch das Aufdecken der dunklen Pläne Hamans hören die Parallelen zu Deutschland 1933 bis 1934 leider auf…
Rabbi Rothschild erinnerte an die oft vergessene Konferenz von Evian im Jahr 1938, in der sich quasi alle bedeutsamen Staaten der Welt darauf einigten, sich nicht um das Schicksal der jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland zu kümmern. Für Juden gab es keine Alternative zu ihren jeweiligen Wohnorten, es gab keinen sicheren Ort für sie. Das änderte sich erst 1948 mit der Gründung des Staates Israels.
An Purim wird nach dem Synagogenbesuch fröhlich gefeiert („Dass wir noch da sind, dass wir leben!“) und gebechert. Daher leerte Rabbi Rothschild in Vorfreude auf Purim schon mal ein kleines Gläschen Wodka „L´ Chaim!“